Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Verfassungsmäßigkeit von Grundfreibetrag und Kinderfreibetrag im Veranlagungszeitraum 1987

 

Leitsatz (NV)

1. Die Frage, ob der Grundfreibetrag im Jahre 1987 verfassungsrechtlich unzureichend war, ist nicht ernstlich zweifelhaft (Anschluß an BFH-Urteil vom 8. Juni 1990 III R 14-16/90, BFHE 161, 109).

2. Es kann dahinstehen, ob der für das Jahr 1987 gewährte Kinderfreibetrag von 2 484 DM gemäß § 32 Abs. 6 EStG 1986 unzureichend und aus diesem Grunde verfassungswidrig ist. Die Aussetzung der Vollziehung eines darauf beruhenden Einkommensteuerbescheides ist abzulehnen, weil in diesem Fall das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung ausnahmsweise höher zu bewerten ist, als das Interesse des Steuerpflichtigen an der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes (ständige Rechtsprechung: zuletzt Beschluß des BFH vom 2. August 1988 III B 12/88, BFHE 154, 123; vgl. auch Beschluß des BVerfG vom 6. April 1988 1 BvR 146/88, StRK FGO § 69 R. 283).

 

Normenkette

GG Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1; EStG § 32 Abs. 6, § 32a Abs. 1; FGO § 69

 

Verfahrensgang

FG Nürnberg (Entscheidung vom 28.09.1989; Aktenzeichen VI 202/89)

 

Nachgehend

BVerfG (Beschluss vom 19.11.1990; Aktenzeichen 2 BvR 1302/90)

 

Tatbestand

Die Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller), zusammenveranlagte Ehegatten, haben einen im Jahre 1971 geborenen Sohn, für den sie im Streitjahr 1987 Kindergeld bezogen. Mit Einkommensteuerbescheid 1987 vom 26. Juni 1989 berechnete der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) für die Antragsteller unter Abzug eines Kinderfreibetrages von 2 484 DM ein zu versteuerndes Einkommen in Höhe von X DM und setzte die Einkommensteuer nach der Splittingtabelle auf Y DM fest.

Dagegen erhoben die Antragsteller Sprungklage mit dem Begehren, das zu versteuernde Einkommen um einen Betrag von 12 321 DM zu vermindern, weil die gewährten Grundfreibeträge und der Kinderfreibetrag unzureichend seien. Zugleich beantragten sie beim FA die Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheides in Höhe eines Teilbetrages von 6 894 DM. Diesen Antrag lehnte das FA ab.

Daraufhin beantragten die Antragsteller gemäß § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) beim Finanzgericht (FG), die Vollziehung des Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr auszusetzen. Zur Begründung ihres Antrags verwiesen sie auf ihre Anfechtungsklage.

Das FG lehnte den Antrag als unbegründet ab und führte im wesentlichen aus, der Grundfreibetrag liege wohl unter dem Existenzminimum, durch den Aufbau des Einkommensteuertarifs sei jedoch sichergestellt, daß das Existenzminimum nicht besteuert werde. Der Grundfreibetrag könne nicht isoliert gesehen werden, denn er sei nur eine Berechnungsstufe zur Ermittlung der tariflichen Einkommensteuer. Ebensowenig könne das Einkommen der Antragstellerin einer gesonderten verfassungsrechtlichen Beurteilung unterzogen werden. Auch der Kinderfreibetrag sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe die Ersetzung der Kinderfreibeträge durch das Kindergeld mit dem Einkommensteuerreformgesetz (EStRG) 1974 für verfassungsgemäß erachtet (vgl. Beschluß des BVerfG vom 23. November 1976 1 BvR 150/75, BVerfGE 43, 108, BStBl II 1977, 135); in der zusätzlichen Gewährung von Kinderfreibeträgen im Streitjahr könne daher kein Verfassungsverstoß gesehen werden. Obgleich sozialpolitisch wünschenswert, sei der Gesetzgeber nicht dazu verpflichtet, die durch Unterhaltspflichten gegenüber Kindern eingetretene Minderung der Leistungsfähigkeit in vollem Umfang auszugleichen.

Mit der vom FG zugelassenen Beschwerde machen die Antragsteller geltend, das FG habe mit der getrennten Beurteilung von Grundfreibetrag und Kinderentlastung das wesentliche Problem der Besteuerung des Existenzminimums und das damit zusammenhängende Prinzip der steuerlichen Leistungsfähigkeit verkannt, denn das notwendige Existenzminimum werde zu einem erheblichen Teil durch den Mindestbedarf des Kindes beeinflußt.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde, der das FG nicht abgeholfen hat, ist nicht begründet.

1. Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 FGO soll das FG die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts u. a. dann ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel sind zu bejahen, wenn bei überschlägiger Prüfung des angefochtenen Verwaltungsakts im Aussetzungsverfahren neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Umstände zu Tage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen bewirken (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 6. November 1987 III B 101/86, BFHE 151, 428, BStBl II 1988, 134, und vom 2. August 1988 III B 12/88, BFHE 154, 123, jeweils m. w. N.). Diese Grundsätze sind auch dann anzuwenden, wenn die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts mit Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Bescheid zugrunde liegenden Norm begründet werden (Urteil des BVerfG vom 21. Februar 1961 1 BvR 314/60, BVerfGE 12, 180, 186, BStBl I 1961, 63).

Bei der gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung des angefochtenen Einkommensteuerbescheides bejaht der Senat die Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrags nach § 32 a Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG); aber auch soweit Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Kinderfreibetrages nach § 32 Abs. 6 EStG 1986 bestehen, sieht sich der Senat nicht in der Lage, im Verfahren zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes die Vollziehung des angefochtenen Einkommensteuerbescheides 1987 auszusetzen.

2. a) Entgegen der Rechtsauffassung der Antragsteller genügt der nach § 32 a Abs. 1 Nr. 1 EStG 1986 bei der Veranlagung des Jahres 1987 den Antragstellern in doppelter Höhe gewährte Grundfreibetrag den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Wegen der Einzelheiten der Begründung verweist der Senat auf den Inhalt seines Urteils vom 8. Juni 1990 III R 14-16/90, BFHE 161, 109.

b) Hinsichtlch der Steuerermäßigung für ihr Kind haben die Antragsteller zutreffend darauf hingewiesen, daß das Existenzminimum zu einem erheblichen Teil durch den Mindestbedarf eines Kindes beeinflußt wird. Das BVerfG hat insoweit ausgeführt, aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsgrundsatz des Art. 20 Abs. 1 GG und aus Art. 6 Abs. 1 GG folge, daß bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder unabhängig davon steuerfrei bleiben muß, wie die Besteuerung im einzelnen ausgestaltet ist und welche Familienmitglieder dabei als Steuerpflichtige herangezogen werden (Beschluß des BVerfG vom 29. Mai 1990 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BStBl II 1990, 653). Mit Beschluß vom 12. Juni 1990 1 BvL 72/86, BStBl II 1990, 664 hat das BVerfG deshalb § 32 Abs. 8 EStG i. d. F. des Art. 1 Nr. 7 b des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 vom 20. Dezember 1982 (BGBl I, 1857) mit Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 GG für unvereinbar erklärt.

aa) Der Senat braucht im Streitfall nicht zu entscheiden, ob die Gründe der ausdrücklich nur zur Rechtslage in den Veranlagungszeiträumen 1983 bis 1985 ergangenen Entscheidungen des BVerfG vom 29. Mai und vom 12. Juni 1990 auch zu der Feststellung berechtigen, daß der ab 1986 und damit auch im Streitjahr 1987 geltende Kinderfreibetrag verfassungswidrig war; denn selbst wenn der Senat die danach bestehenden Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 32 Abs. 6 EStG 1986 für die Jahre 1986 und 1987 teilte, käme er nicht zu einer Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Einkommensteuerbescheides. Im Streitfall fehlt es an dem erforderlichen berechtigten Interesse der Antragsteller an der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes, das nach ständiger Rechtsprechung des BFH dann gefordert wird, wenn sich die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes aus der behaupteten Verfassungswidrigkeit einer Norm ergeben (zuletzt Beschlüsse in BFHE 151, 428, BStBl II 1988, 134, m. w. N., und in BFHE 154, 123, 128). Im Ausnahmefall können überwiegende öffentliche Belange es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Bürgers einstweilen zurückzustellen. Eine solche Interessenabwägung verstößt auch nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht grundsätzlich gegen den aus Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Anspruch auf einen umfassenden und effektiven gerichtlichen Schutz, solange die Aussetzung - bei Vorliegen ernstlicher Zweifel - die Regel, der sofortige Vollzug des Verwaltungsaktes hingegen die Ausnahme bleibt (Beschluß des BVerfG vom 6. April 1988 1 BvR 146 /88, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Finanzgerichtsordnung, § 69, Rechtsspruch 283, m. w. N.).

bb) Im Streitfall bejaht der Senat, ebenso wie in BFHE 151, 428, BStBl II 1988, 134, m. w. N. und in BFHE 154, 123, 128 eine solche Ausnahme. Das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung ist auch im Streitfall höher zu bewerten als das Interesse der Antragsteller, im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes allein aufgrund von Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines formell verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzes eine teilweise Aussetzung der Vollziehung ihres Einkommensteuerbescheides zu erlangen. Dabei ist auch die Erwägung von Bedeutung, daß das BVerfG, soweit es bisher die Verfassungswidrigkeit von Regelungen zum Kinderlastenausgleich feststellen mußte, aus Gründen der Rechtssicherheit eine Nichtigkeitserklärung vermieden und es statt dessen dem Gesetzgeber überlassen hat, im Rahmen seines Gestaltungsspielraums eine Rechtsänderung herbeizuführen. Dies gilt insbesondere auch für die beiden jüngsten Entscheidungen des BVerfG vom 29. Mai und vom 12. Juni 1990 zum Kinderlastenausgleich in den Jahren 1983 bis 1985.

 

Fundstellen

Haufe-Index 422781

BFH/NV 1990, 774

BFH/NV 1991, 25

BFHE 1991, 542

BB 1991, 391

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