Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufhebung der Vollziehung; Erstattung entrichteter Einkommensteuer-Vorauszahlungsbeträge

 

Leitsatz (NV)

1. Die Vollziehung eines Einkommensteuerbescheides darf auch insoweit aufgehoben werden, als sie zu einer -- vorläufigen -- Erstattung entrichteter Einkommensteuer- Vorauszahlungsbeträge führt.

2. Eine Zurückverweisung an das FG im Aussetzungsverfahren kommt in Betracht bei Fehlen hinreichender Entscheidungsgrundlagen für die Beurteilung, ob ein öffentliches Interesse an einer Aussetzung der Vollziehung (nur) gegen Sicherheitsleistung besteht.

 

Normenkette

FGO § 69 Abs. 3 S. 4; FGOÄndG vom 21. Dezember 1992 Art. 1 § 69 Abs. 3 S. 3

 

Verfahrensgang

FG Rheinland-Pfalz

 

Tatbestand

Die Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) sind Gesellschafter der X- GmbH & Co. KG (KG). Diese hat gegen den Gewinnfeststellungsbescheid 1988 Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Mit Bescheid vom 6. Februar 1991 hat der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt -- FA --) die Vollziehung des angefochtenen Gewinnfeststellungsbescheides in Höhe von ... DM ausgesetzt. Von diesem Betrag entfallen auf den Antragsteller zu 1. ... DM und auf den Antragsteller zu 2. ... DM.

Jeweils mit Schreiben vom 18. Februar 1991 lehnte das FA unter Hinweis auf den Beschluß des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 15. Juni 1982 VIII B 138/81 (BFHE 136, 186, BStBl II 1982, 657) und auf das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 12. Dezember 1988 IV A 6-S 0623-18-88 (BStBl I 1989, 2) gegenüber den Antragstellern die Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1988 mit der Begründung ab, sie hätten wegen der geleisteten Vorauszahlungen zu keiner Abschlußzahlung, sondern zu einer Erstattung geführt.

Die Antragsteller begehrten daraufhin die Aufhebung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1988 nach § 69 Abs. 3 Satz 4 der Finanzgerichtsordnung (-- FGO -- a. F., entspricht § 69 Abs. 3 Satz 3 FGO i. d. F. des Art. 1 des FGO-Änderungsgesetzes vom 21. Dezember 1992, BGBl I 1992, 2109).

Weiter beantragten sie vor dem FG, das FA zu verpflichten, "bisher festgesetzte Säumniszuschläge auf Einkommensteuer-Vorauszahlungen 1989 und 1990 in Verbindung mit beantragten Stundungen fälliggestellter Einkommensteuer-Vorauszahlungen 1989 und 1990 zu erlassen" und dem FA "durch einstweilige Anordnung zu untersagen, Vollstreckungsmaßnahmen wegen der zum 10. Juni bzw. 10. September 1990 fälliggestellten Einkommensteuer-Vorauszahlungen 1989 und 1990 einzuleiten", hilfsweise, das "FA zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zur Stundung der Einkommensteuer-Vorauszahlungen 1989 und 1990 zu verpflichten".

Das FG wies die Anträge ab (Entscheidungen der Finanzgerichte -- EFG -- 1992, 151).

Mit ihrer vom FG zugelassenen Beschwerde begehren die Antragsteller nur noch die Aufhebung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1988 und den Erlaß bisher festgesetzter Säumniszuschläge auf Einkommensteuer-Vorauszahlungen 1989 und 1990. Zur Begründung tragen sie vor: Die Auffassung, Einkommensteuerbescheide hätten einen vollziehbaren Inhalt nur, soweit sie zu einer Abschlußzahlung führten, könne -- wie der Streitfall zeige --, zur völligen Versagung vorläufigen Rechtsschutzes führen. § 69 Abs. 2 Satz 4 i. V. m. § 69 Abs. 3 Satz 4 FGO a. F. sehe ausdrücklich die Aufhebung der Vollziehung des Folgebescheides vor, wenn die Vollziehung des Grundlagenbescheides ausgesetzt werde. Das FG hätte weiter berücksichtigen müssen, daß erst nach Ablauf des Veranlagungszeitraumes 1988 die Vorauszahlungen für 1988 mit der Begründung voraussichtlich höherer Gewinne der KG dreimal erhöht worden seien. Die Entscheidung des BFH zur ertragsteuerlichen Behandlung von Pensionszusagen an ehemalige Gesellschafter-Geschäftsführer (Urteil vom 14. Dezember 1988 I R 44/83, BFHE 155, 368, BStBl II 1989, 323) sei erst danach veröffentlicht worden; für die Antragsteller hätte vorher kein Anlaß bestanden, die Vorauszahlungsbescheide anzufechten. Wenn der Antrag auf Aufhebung der Vollziehung Erfolg habe, dürften Säumniszuschläge auf Einkommensteuer-Vorauszahlungen 1989 und 1990 -- deren Stundung im Hinblick auf die Aufhebung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheides 1988 begehrt worden sei -- nicht erhoben werden. Bis zur Einlegung der vorliegenden Beschwerde festgesetzte Säumniszuschläge müßten deshalb aus sachlichen Billigkeitsgründen erlassen werden.

Das FA beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.

Der Antrag auf Aufhebung der Vollziehung der Folgebescheide unter Berufung auf Gründe, die die Rechtmäßigkeit des Grundlagenbescheides beträfen, sei unzulässig. Als Maßnahme vorläufigen Rechtsschutzes sei der Verpflichtungsantrag zum Erlaß der Säumniszuschläge unzulässig, weil er die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehme. Das FA habe über den Antrag der Antragsteller auf Erlaß der Säumniszuschläge noch nicht entschieden. Bis zur Entscheidung über den Erlaßantrag werde wegen der Säumniszuschläge nicht vollstreckt.

Das BMF ist dem Verfahren gemäß § 122 Abs. 2 FGO beigetreten.

Der erkennende Senat hat durch Beschluß vom 23. Juni 1993 X B 134/91 (BFHE 172, 9, BStBl II 1994, 38) dem Großen Senat des BFH die Rechtsfrage vorgelegt, ob die Vollziehung eines Einkommensteuerbescheides auch insoweit aufgehoben werden darf, als sie zu einer -- vorläufigen -- Erstattung entrichteter Einkommensteuer-Vorauszahlungsbeträge führt. Der Große Senat hat die vorgelegte Rechtsfrage mit Beschluß vom 3. Juli 1995 GrS 3/93, BFHE 178, 11 beantwortet. Auf diese Entscheidung nimmt der erkennende Senat Bezug.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist zulässig (§ 128 FGO i. V. m. Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs -- BFHEntlG --).

Die Beschwerde ist zum Teil begründet.

1. Nach Weigerung des FA, die Vollziehung der gegenüber den Antragstellern erlassenen Einkommensteuerbescheide aufzuheben, sind die Zugangsvoraussetzungen für einen Antrag auf Aufhebung der Vollziehung bei dem FG erfüllt (§ 69 Abs. 3 FGO i. V. m. Art. 3 § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit -- VGFGEntlG --).

2. Zutreffend hat das FG die Zulässigkeit des Antrages auf Aufhebung der Vollziehung nicht deshalb verneint, weil der Antrag auf Aufhebung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1988 (Folgebescheide) mit Einwendungen begründet wurde, die den Grundlagenbescheid betreffen.

a) Lehnt das FA die Aussetzung/Aufhebung der Vollziehung eines Folgebescheides ab, obwohl die Vollziehung des Grundlagenbescheides ausgesetzt war, so kann die Aussetzung/Aufhebung der Vollziehung vom FG gewährt werden. § 361 Abs. 3 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) und § 69 Abs. 2 Satz 4 FGO gehen zwar davon aus, daß die Vollziehung des Folgebescheides von Amts wegen ausgesetzt wird. Kommt das FA dem nicht nach, so wird vorläufiger Rechtsschutz durch das FG gewährt (BFH- Beschluß vom 8. Juli 1982 IV B 6/82, BFHE 136, 190, BStBl II 1982, 660; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 69 Rdnr. 57).

b) Aus dem BFH-Urteil vom 29. Oktober 1987 VIII R 413/83 (BFHE 151, 319, BStBl II 1988, 240) ergibt sich entgegen der Auffassung des FG nichts anderes. Danach besteht allerdings für einen Antrag auf Aussetzung/Aufhebung der Vollziehung des Folgebescheides, der mit Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung im Gewinnfeststellungsbescheid begründet wird, regelmäßig kein schutzwürdiges Interesse. Ein entsprechender Antrag ist unzulässig. Diese Entscheidung beruht auf der Überlegung, daß Feststellungsbescheide, auch wenn sie noch nicht unanfechtbar sind, für Steuerbescheide bindend sind (§ 182 Abs. 1 AO 1977) und vorläufiger Rechtsschutz durch Aussetzung der Vollziehung des Feststellungsbescheides gewährt wird, und daß nach § 361 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 bei Aussetzung der Vollziehung des Grundlagenbescheides das Wohnsitz-FA verpflichtet ist, die Vollziehung des Folgebescheides auszusetzen (vgl. bereits BFH-Beschluß vom 25. April 1977 IV S 3/77, BFHE 122, 18, BStBl II 1977, 612). Kommt das FA der Verpflichtung auf Aussetzung der Vollziehung des Folgebescheides nicht nach und begehrt der Steuerpflichtige nunmehr die Aussetzung/Aufhebung der Vollziehung dieses Steuerverwaltungsakts vom FG, betreffen seine Einwendungen -- anders als in dem in BFHE 151, 319, BStBl II 1988, 240 entschiedenen Sachverhalt -- nicht die Rechtmäßigkeit des Grundlagenbescheides, sondern des Folgebescheides.

3. Das FG hat zu Unrecht die Möglichkeit der Aufhebung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 Satz 4 FGO a. F. der Einkommensteuerbescheide mit der Begründung verneint, die Aufhebung der Vollziehung eines Einkommensteuerbescheides dürfe hinsichtlich angerechneter Einkommensteuer- Vorauszahlungen nicht angeordnet werden.

Nach § 69 Abs. 3 Sätze 1 und 4 FGO a. F. kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes aussetzen bzw. die Aufhebung der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes anordnen. Soweit, wie im Streitfall, die Vollziehung des Grundlagenbescheides ausgesetzt worden ist, ist auch die Vollziehung eines Folgebescheides auszusetzen bzw. aufzuheben (§ 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 4 FGO).

a) Vollziehung ist jegliches Gebrauch machen eines Verwaltungsaktes, d. h. jede Verwirklichung seines materiellen Regelungsinhaltes zur Herbeiführung der in ihm ausgesprochenen Rechtsfolge (vgl. bereits BFH-Beschlüsse vom 22. Juli 1977 III B 34/74, BFHE 123, 112, BStBl II 1977, 838, und vom 29. November 1977 VII B 6/77, BFHE 124, 13, 15, BStBl II 1978, 156). Regelungsinhalt des Einkommensteuerbescheides ist die in seinem "Tenor" konkretisierte Steuerfestsetzung (vgl. § 118 Satz 1, § 155 Abs. 1 Satz 1 und § 157 Abs. 1 Satz 2 AO 1977). Die Steuerfestsetzung, deren Rechtmäßigkeit durch die Anfechtung in Frage gestellt wird, ist maßgeblicher Ausgangspunkt für die Aussetzung/Aufhebung der Vollziehung. Soweit die Voraussetzungen für eine Aussetzung/Aufhebung der Vollziehung vorliegen, darf im Umfang der Vollziehungsaussetzung/-aufhebung von der Steuerfestsetzung vorläufig kein Gebrauch gemacht werden, d. h. insoweit darf kein Zahlungsanspruch geltend gemacht werden (z. B. in BFHE 136, 186, 188, BStBl II 1982, 657).

b) Liegen, wie im Streitfall, die Voraussetzungen für die Aussetzung der Vollziehung vor, kann die Steuerfestsetzung -- vorläufig -- auch nicht mehr Rechtsgrund dafür sein, daß das FA entrichtete Zahlungen behalten darf, die auf die im angefochtenen Bescheid festgesetzte Steuerschuld geleistet worden sind. Die Begleichung der Steuerschuld steht deshalb der Aussetzung der Vollziehung nicht entgegen, sondern hat nur zur Folge, daß vorläufiger Rechtsschutz in Form der Aufhebung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 Satz 4 FGO a. F. gewährleistet wird.

Die Vollziehung eines Einkommensteuerbescheides darf auch insoweit aufgehoben werden, als sie zu einer -- vorläufigen -- Erstattung entrichteter Einkommensteuer- Vorauszahlungsbeträge führt (Beschluß des Großen Senats des BFH vom 3. Juli 1995 GrS 3/93, BFHE 178, 11 ).

4. Die Beschwerde kann keinen Erfolg haben, soweit die Antragsteller als Maßnahme vorläufigen Rechtsschutzes den Erlaß von Säumniszuschlägen auf Einkommensteuer- Vorauszahlungen für 1989 und 1990 begehren.

Vorläufiger Rechtsschutz gegen Vorauszahlungsbescheide kommt nur in Form der Aussetzung/Aufhebung der Vollziehung nach § 69 FGO in Betracht. Soweit die Vollziehung ausgesetzt/aufgehoben wird, gelten Säumniszuschläge als nicht entstanden (vgl. BFH-Beschluß vom 23. Juni 1977 V B 41/73, BFHE 122, 258, BStBl II 1977, 645). Die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Vollziehung der Vorauszahlungsbescheide für 1989 und 1990 liegen jedoch nicht vor, weil die Antragsteller diese Bescheide nicht angefochten haben.

Soweit die Antragsteller vorläufigen Rechtsschutz für einen in der Hauptsache begehrten Billigkeitserlaß erstreben, könnte dieser nicht nach § 69 FGO, sondern nur nach § 114 FGO gewährt werden (z. B. Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 114 FGO Tz. 9 m. w. N.).

Eine die Hauptsacheentscheidung vorwegnehmende Regelung ist allenfalls dann möglich, wenn auf andere Weise effektiver Rechtsschutz nicht erreichbar wäre und dies für den Antragsteller zu irreparablen, unzumutbaren Folgen führen würde (z. B. BFH- Beschluß vom 21. Februar 1984 VII B 78/83, BFHE 140, 163, 166, BStBl II 1984, 449 m. w. N.). Daran fehlt es jedoch im Streitfall.

5. Der angefochtene Beschluß des FG ist, da er auf einer abweichenden Rechtsauffassung beruht, aufzuheben. Die Sache wird an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Das FG hat bisher nicht geprüft, ob die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Vollziehung ohne Sicherheitsleistung vorliegen. Zwar ist der erkennende Senat im vorliegenden Verfahren Tatsacheninstanz. Eine Zurückverweisung an das FG ist gleichwohl zulässig (z. B. BFH-Beschluß vom 28. Oktober 1981 I B 69/80, BFHE 134, 239, BStBl II 1982, 135). Sie erscheint dem Senat zweckmäßig, weil sich weder aus den Feststellungen des FG noch aus den vorliegenden Akten ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der Frage ergeben, ob ein öffentliches Interesse an einer Sicherheitsleistung zu verneinen wäre: es fehlen hinreichende Entscheidungsgrundlagen für die -- summarische -- Beurteilung des Prozeßausgangs im Verfahren gegen den Grundlagenbescheid (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 13. Oktober 1988 IV R 220/85, BFHE 154, 532, BStBl II 1989, 39) und weiter für die Beurteilung der Frage, ob ein öffentliches Interesse an einer Aussetzung der Vollziehung nur gegen Sicherheitsleistung besteht, weil andernfalls die Verwirklichung des Steueranspruchs gefährdet wäre.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420976

BFH/NV 1996, 232

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