Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung. Übernahme der Kosten eines Gebärdensprachdolmetschers für die Teilnahme eines gehörlosen Kindes am Nachmittagsangebot einer Grundschule mit Ganztagsangebot. Abgrenzung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft

 

Orientierungssatz

1. Wird ein behindertes Kind in eine Grundschule mit Ganztagsangebot aufgenommen, hat es im Grundsatz bis zur Grenze des ihm tatsächlich Möglichen das Recht, wie jeder andere Schüler mitzumachen, insbesondere an den Nachmittagsveranstaltungen teilzunehmen. Es unter Begrenzung der Förderung von einzelnen Veranstaltungen auszuschließen, stellt eine unter Teilhabe- und Inklusionsgesichtspunkten nicht zu rechtfertigende Diskriminierung dar.

2. Die Zuordnung der Hilfen bei den offenen Ganztagsschulen (Schulen mit Ganztagsangebot) zu den Hilfen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft kommt in der faktischen Auswirkung einem Verbot der Teilnahme an diesen freiwilligen Angeboten für einen behinderten Schüler, der aus durchschnittlichen finanziellen Verhältnissen stammt, sehr nahe. Diese Benachteiligung entspricht nicht dem Eingliederungsgedanken.

 

Tenor

Der Bescheid vom 2.9.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2016 wird abgeändert und die Beklagte wird verurteilt, für alle vom Kläger im Schuljahr 2016/2017 und 2017/2018 nachmittags unter Einsatz einer Assistenzkraft (Gebärdendolmetscher) besuchten schulischen Veranstaltungen (einschließlich Mittagessen und Hausaufgabenbetreuung) die Kostenzuschussweise und ohne Kostenbeitrag zu tragen.

Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.

 

Tatbestand

Streitig ist die einkommens- und vermögensabhängige Kostenübernahme für schulische Assistenzleistungen (Gebärdendolmetscher) am Nachmittag für den nahezu gehörlosen Kläger.

Der 2009 geborene Kläger leidet unter einer hochgradigen Schwerhörigkeit. Auch beide Eltern sind gehörslos. Der Vater ist im März 2017 verstorben. Der Kläger und seine Mutter leben von Hinterbliebenen Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und Aufstockungsleistungen des Jobcenters Stadt A-Stadt. Nach Angaben der Mutter des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 26.7.2018 beträgt der Aufstockungsbetrag nach dem SGB II aktuell ca. 350 € monatlich. Der Kläger hat das Erbe nach seinem Vater ausgeschlagen.

Seit dem Schuljahr 2015/2016 besucht der Kläger die D-schule (Grundschule mit Ganztagsangebot) in A-Stadt. Nach den diesjährigen Sommerferien besucht er ab 6.8.2018 dort die vierte Klasse. Der Kläger nimmt mithilfe einer Gebärdendolmetscherassistenz am Unterricht teil.

Die Kosten der Assistenz für den verbindlichen Pflichtunterricht am Vormittag hat die Beklagte von Anfang an getragen und die Kostenübernahme in der Zeit bis 22.6.2018 (Schulferienbeginn nach Abschluss des dritten Schuljahres des Klägers) bewilligt. Streit zwischen den Beteiligten besteht hinsichtlich der Nachmittagsangebote. Das amtsärztliche Gutachten vom 8.8.2016 bestätigt das Erfordernis eines Einsatzes eines Gebärdendolmetschers auch für die freiwilligen nachmittäglichen Angebote (Arbeitsgemeinschaften). Hierauf hat die Beklagte zwar eine grundsätzliche Leistungsberechtigung des Klägers auch für den Nachmittagsunterricht/Nachmittagsveranstaltungen (insbesondere Kreativ-und Sport AG) gesehen, verlangte hierfür aber zunächst einen monatlichen Kostenbeitrag der Eltern i.H.v. 150 € (aus Mieteinnahmen).

Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 02.09.2016 in Form des Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheides vom 10.11.2016 bewilligte die Beklagte Assistenzleistungen für wöchentlich zwei Freizeitangebote, zwei Mittagessen und drei Hausaufgabenbetreuungen, jedoch nur darlehensweise unter Berücksichtigung von (nicht sofort verwertbarem) Immobilieneigentum/Mietshaus.

Gegen den Bescheid vom 02.09.2016 in der Fassung des Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheides vom 10.11.2016 erhebt der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 08.12.2016 beim Sozialgericht Kassel Klage.

Im Eilverfahren S 11 SO 12/17 ER erkannte die Beklagte die Kostentragungspflicht für alle Nachmittagsangebote (soweit vom Kläger wahrgenommen) vorläufig bis zur Entscheidung der Hauptsache an, jedoch auch weiterhin nur darlehensweise im Hinblick auf die ungeklärte Vermögenssituation. Die Leistungen wurden ausweislich der Angaben des Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 26.07.2018 bis zum Schuljahresende des Schuljahres 2017/2018 am 22.06.2018 erbracht.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers ist der Ansicht, die Beklagte habe für sämtliche schulische Nachmittagsangebote die Assistenzkosten einkommens- und vor allem vermögensunabhängig zu tragen. Es handele sich bei den vom Kläger bis zum Schuljahresende 2017/2018 wahrgenommenen Schulangeboten um solche, für die gemäß § 92 Abs. 2 Nr. 2 SGB XII i.V.m. § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII (Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht) keine Einkommens- bzw. Vermögensanrechnung in Betracht komme. D...

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