Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Zugunstenverfahren. Beseitigung einer offensichtlichen Gerechtigkeitslücke: Instrumentarium des § 46 Abs 1 SGB 10. Ermessensreduzierung auf Null. gesetzliche Unfallversicherung. Erhöhung der Verletztenrente wegen nachträglicher Erblindung: Erhöhung der MdE von 20 vH auf 25 vH. Ausschluss wegen § 73 Abs SGB 7. Gleichheitsgrundsatz gem Art 3 Abs 1 GG

 

Leitsatz (amtlich)

Ist nach einem Arbeitsunfall die MdE wegen einer Augenverletzung zunächst auf 20 vH festgesetzt und tritt nachträglich Erblindung als Unfallfolge ein (MdE 25 vH), ist der UV-Träger entgegen dem Wortlaut von § 73 Abs 3 SGB 7 verpflichtet, eine Verletztenrente nach einer MdE von 25 vH zu gewähren. Diese Verpflichtung ergibt sich aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz (Art 3 GG).

Das verwaltungsverfahrensrechtliche Instrumentarium steht dem UV-Träger mit der Norm des § 46 Abs 1 SGB 10 zur Verfügung. Insoweit liegt eine Ermessensreduzierung auf Null vor.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 19.12.2013; Aktenzeichen B 2 U 17/12 R)

 

Tenor

Der Bescheid der Beklagten vom 11.01.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.02.2008 wird aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 01.01.2003 eine Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von 25 vH zu gewähren.

Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE).

Der 1965 geborene Kläger erlitt am 08.09.1993 einen Arbeitsunfall, bei dem er sich eine Verletzung am rechten Auge zuzog. In einem augenärztlichen Gutachten vom 21.06.1996 schätzte Herr Dr. KE. die MdE auf 20 vH und wies gleichzeitig darauf hin, dass bei dem Kläger eine Erblindung in Zukunft drohe. Die Beklagte gewährte ab 01.01.1996 eine Rente nach einer MdE von 20 vH (Bescheid vom 13.11.1996, gerichtlicher Vergleich vom 09.09.1999 - Az. des Sozialgerichts Kassel: S 3/U-498/98 - ). Die Unfallfolgen wurden im Bescheid vom 13.11.1996 wie folgt festgestellt: “Abgelaufene Prellungsverletzung des rechten Auges mit nachfolgender Implantation einer Hinterkammerlinse und Sehnervenschwund, dadurch bedingter Beeinträchtigung der Sehschärfe (Visus 0,1), zeitweiligen Doppelbildwahrnehmungen, Auswärtschielen, Gesichtsfeldeinschränkungen sowie subjektiven Restbeschwerden.„

In Juni 2002 machte der Kläger eine Verschlechterung der Unfallfolgen geltend. Eine augenärztliche Begutachtung bei Herrn Dr. BN. vom 22.08.2002 ergab, dass das rechte Auge wegen seiner geringen Funktion jetzt einem erblindeten Auge gleichzusetzen sei, die MdE betrage 25 vH Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 12.09.2002 die Gewährung einer höheren Verletztenrente nach einer MdE von 25 vH ab, da eine wesentliche Änderung nicht vorliege. Der Bescheid wurde bindend.

Im Dezember 2007 bat der Kläger um Überprüfung dieser Entscheidung. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 11.01.2008 ab. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheides vom 12.9.2002 lägen nicht vor. Eine wesentliche Änderung liege nur dann vor, wenn sich die festgestellte MdE um mehr als 5 vH erhöhe.

Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 29.02.2008) hat der Kläger am 05.03.2008 zum Sozialgericht Kassel Klage erhoben. Wenn die Unfallfolgen bereits anfänglich vorhanden gewesen wären, hätten sie keine MdE-Toleranz erlaubt. Zudem könne sich das Auge nicht weiter verschlechtern, da es bereits einem erblindeten Auge gleichzusetzen sei mit der Folge, dass er zu keinem Zeitpunkt die vorgesehene MdE erhalten könne. Er vertrete daher die Auffassung, dass § 73 Abs. 3 SGB VII keine Anwendung finden dürfe, da er hierdurch dauerhaft seiner Rechte verlustig ginge. Darüber hinaus sei anerkannt, dass der Unfallversicherungsträger zugunsten des Versicherten bei geringgradiger Verschlimmerung ausnahmsweise eine Erhöhung vornehmen könne, wenn die Verschlimmerung zu Befunden führe, die, wären sie bereits anfänglich vorhanden gewesen, keine MdE-Toleranz erlaubt hätten, so z.B. bei der Verschlimmerung einer Sehschwäche von 20 vH auf Sehverlust auf 25 vH Ausdrücklich werde bestritten, dass die Beklagte in diesem Zusammenhang ihr Ermessen ausgeübt habe.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 11.01.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.02.2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 01.01.2003 eine Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von 25 vH zu gewähren,

hilfsweise,

die Beklagte zu verurteilen, ihn unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist auf den eindeutigen Wortlaut des § 73 Abs. 3 SGB VII.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten, wird verwiesen auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung der Kammer gewesen ist.

 

Entscheidungsgründe

Die Klage is...

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