Leitsatz (amtlich)

1. Die Grundsätze zur Haftung der Unfallversicherungsträger gem. Art. 34 GG, § 839 BGB für Diagnosefehler, die dem Durchgangsarzt in der Ausübung eines öffentlichen Amtes bei der Entscheidung, ob der Verletzte in die besondere Heilbehandlung übernommen wird oder die allgemeine Heilbehandlung ausreichend ist, sind auf den H-Arzt (Heilbehandlungsarzt) gem. § 30 des Vertrags Ärzte/Unfallversicherungsträger (i.V.m. § 34 Abs. 3 SGB VII) nicht übertragbar.

2. Auch im Arzthaftungsprozess können Tatsachen, die Anlass für die Annahme eines Behandlungsfehlers geben, mit der den Wirkungen des § 288 ZPO zugestanden werden, obwohl besondere Anforderungen an die Aufklärungspflicht des Gerichts gestellt werden und die Darlegungslast der Parteien geringer ist.

 

Normenkette

pVV; BGB §§ 823, 839; GG Art. 34; SGB VII § 26 Abs. 1, § 34 Abs. 3; ZPO § 288

 

Verfahrensgang

LG Karlsruhe (Urteil vom 03.02.2006; Aktenzeichen 4 O 587/05)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 09.12.2008; Aktenzeichen VI ZR 277/07)

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des LG Karlsruhe vom 3.2.2006 - 4 O 587/05 - im Kostenpunkt aufgehoben und im Übrigen wie folgt abgeändert:

a) Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 13.786,07 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit 18.8.2005 zu zahlen.

b) Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche weiteren immateriellen und materiellen Schäden zu ersetzen, welche durch die Behandlung des Klägers durch den Beklagten vom 16.7.2001 bis 19.7.2001 verursacht worden sind oder werden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

II. Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Zwangsvollstreckung kann durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abgewendet werden, sofern nicht die Gegenseite vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

IV. Die Revision wird zugelassen.

 

Gründe

I. Der Kläger begehrt vom Beklagten - teilweise im Wege der Feststellung - Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen einer fehlerhaften ärztlichen Behandlung. Er wandte sich nach einem Arbeitsunfall am 12.7.2001 wegen einer Handverletzung an den Beklagten, der Facharzt für Chirurgie und als Heilbehandlungsarzt (sog. H-Arzt) der Berufsgenossenschaften zugelassen ist. Dieser fertigte Röntgenaufnahmen an, schloss eine Fraktur aus, diagnostizierte eine Zerrung des Handgelenks und legte einen Zink-Leim-Verband an. Das Röntgenbild zeigt eine perilunäre Luxation. Der Kläger kann seinen Beruf als Getränkefahrer nicht mehr ausüben, ist um 30 % in der Erwerbstätigkeit gemindert und zwischenzeitlich verrentet.

Der Kläger behauptet, seine Hand sei bereits am 16.7.2001 stark geschwollen gewesen und er habe bei der Wiedervorstellung am 19.7.2001 weiterhin über Beschwerden geklagt, weshalb der Beklagte spätestens zu diesem Zeitpunkt seine zuvor grob falsch gestellte Diagnose hätte überprüfen und ihn in eine Klinik einweisen müssen. Durch die falsche Diagnose sei die sofort notwendige Reposition des Handgelenks unterblieben, was zu den Schäden geführt habe. Das LG hat mit dem angefochtenen Urteil, auf das wegen des Sach- und Streitstands im ersten Rechtszug sowie der getroffenen Feststellungen Bezug genommen wird, die Klage abgewiesen, da der Beklagte als H-Arzt entsprechend der Rechtsprechung zum Durchgangsarzt nicht selbst für eine falsche Diagnose hafte, sondern die zuständige Berufsgenossenschaft, für die er in öffentlich-rechtlicher Funktion tätig geworden sei.

Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung, mit der er sein Klagbegehren in vollem Umfange weiter verfolgt. Er vertritt weiterhin die Auffassung, der H-Arzt werde im Gegensatz zum Durchgangsarzt nicht öffentlich-rechtlich für die Berufsgenossenschaft tätig und hafte daher selbst für Behandlungsfehler. Im Übrigen seien zumindest die Fehler bei der Weiterbehandlung und damit die fehlende Überprüfung der Diagnose beim Wiedervorstellungstermin allein privatrechtlich zu beurteilen. Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Er verteidigt das landgerichtliche Urteil und behauptet erstmals im zweiten Rechtszug, die auf dem Röntgenbild zu erkennende schwere Handgelenkszerrung und -verrenkung mit Bänderrissen und einer deutlichen Fehlstellung des Os lunatum und des Os capitalum sei nicht bei dem Arbeitsunfall am 12.7.2001, sondern bereits früher eingetreten, so dass schon deshalb eine Reposition nicht mehr möglich gewesen wäre.

Wegen des Weiteren Sach- und Streitstands im zweiten Rechtszug wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen, wegen der Antragstellung auf die Sitzungsniederschrift vom 29.8.2007 (II 243). Der Senat hat über die Verletzung und das Vorliegen eines Behandlungsfehlers Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin N. S. und die Einholung eines unfallchirurgischen Sa...

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