Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. gewöhnlicher Aufenthalt und Erwerbsfähigkeit rumänischer Unionsbürger. kein Leistungsausschluss wegen Aufenthalts zur Arbeitsuche bei Nichtvorliegen eines materiellen Aufenthaltsrechts im Inland. verfassungskonforme Auslegung. Freizügigkeitsrecht. Prüfung aufenthaltsbeendender Maßnahmen bei Bezug von Sozialhilfeleistungen durch die Ausländerbehörde

 

Orientierungssatz

1. Rumänische Staatsangehörige, sich seit längerer Zeit im Inland aufhalten, sind unabhängig von der Erteilung einer Arbeitsgenehmigung (§ 284 SGB 3) erwerbsfähig iS des § 8 SGB 2 (vgl BSG vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 34). Bei diesen Unionsbürgern ist - trotz der noch bis 31.12.2013 geltenden Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit - bis zu einer Entscheidung der Ausländerbehörde über einen Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt ein zukunftsoffener Aufenthalt iS des § 30 Abs 3 SGB 1 unabhängig vom Vorliegen eines Aufenthaltsgrundes bzw -rechts gegeben, sodass auch ein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland iS des § 7 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB 2 vorliegt.

2. Auf Unionsbürger ohne jegliches materielles Aufenthaltsrecht findet der Leistungsausschluss gem § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 keine Anwendung.

3. Die Vorschrift des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2, die sich nur auf das Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche bezieht, kann unter Berücksichtigung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht erweiternd ausgelegt werden.

4. Ob der Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB 2 Anlass zu aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gibt, obliegt allein der Prüfung durch die Ausländerbehörde.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 03.12.2015; Aktenzeichen B 4 AS 44/15 R)

 

Tenor

Auf die Berufung der Kläger wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 20.11.2012 geändert. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 19.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.12.2010 verurteilt, den Klägern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften für den Zeitraum vom 11.10.2010 bis 07.11.2011 zu bewilligen. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Kläger in beiden Rechtszügen. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um einen Anspruch der Kläger auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 11.10.2010 bis zum 07.11.2011.

Der 1969 geborene Kläger zu 1) und die 1975 geborene Klägerin zu 2) sind seit 2002 miteinander verheiratet. Der 1995 geborene Kläger zu 3) ist ihr gemeinsamer Sohn. Die Kläger sind rumänische Staatsangehörige.

Der Kläger zu 1) besuchte in Rumänien 1988/1989 eine Fachschule und absolvierte dabei eine Ausbildung als Schlosser. Er arbeitete ca. zwei Monate in diesem Beruf, danach wurde er bis 1991 zur Armee eingezogen. Anschließend hielt er sich für ca. ein Jahr als Asylbewerber in Deutschland auf. Nach Ablehnung des Asylantrags kehrte er nach Rumänien zurück und arbeitete dort von 1993 bis 1995 als Taxifahrer und anschließend bis zur Übersiedlung nach Deutschland als Tagelöhner in der Landwirtschaft (Stallarbeiter). Nach einem kurzen Aufenthalt in Deutschland 2005 hält sich der Kläger zu 1) seit dem 30.09.2008 in Deutschland mit Wohnsitz in H auf. Am 11.11.2008 wurde ihm erstmals eine Freizügigkeitsbescheinigung gem. § 5 FreizügG/EU erteilt. Vom 13.10.2008 bis zur Abmeldung am 29.10.2009 hatte der Kläger zu 1) das Gewerbe "Abbruch - und Entkernungsarbeiten, Hilfsarbeiten auf Baustellen" zunächst in H und anschließend in N angemeldet. Der Kläger zu 1) übte dieses Gewerbe nicht aus und erzielte keine Einnahmen hieraus.

Die Klägerin zu 2) verließ mit 13 Jahren die Schule und heiratete den Kläger zu 1) mit 14 Jahren nach Roma-Art. Sie war in Rumänien Hausfrau und übte keine Erwerbstätigkeit aus. Sie hielt sich gemeinsam mit dem Kläger zu 1) als Asylbewerberin und erneut 2005 kurz in Deutschland auf. Im März 2009 reiste sie zusammen mit dem Kläger zu 3) und einem weiteren Sohn nach Deutschland ein. Von November 2011 bis Januar 2012 nahm die Klägerin zu 2) an einem Integrationskurs mit Sprachförderung teil. Seit dem 08.11.2012 übt sie ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis als Reinigungskraft mit einem Entgelt i.H.v. 200 EUR monatlich aus.

Der Kläger zu 3) besuchte im streitigen Zeitraum eine Schule.

Die Kläger bewohnten ab dem 01.09.2010 bis zur Kündigung und Zwangsräumung der Wohnung am 14.06.2011 (mit vier Personen) zunächst eine zu einer Bruttokaltmiete von 310 EUR zzgl. eines Nebenkostenabschlages von 95 EUR und eines Heizkostenabschlages (unter Einschluss der Kosten für die Warmwasserbereitung) von 85 EUR monatlich angemietete Wohnung. Ab dem 14.06.2011 waren die Kläger bis zur Anmietung einer neuen Wohnung (Februar 2012) in einer städtischen Unterkunft zu monatlichen Aufwendungen von rd. 200 EUR untergebracht.

Der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) bezogen 2010 u...

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