Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Ersatzanspruch bei sozialwidrigem Verhalten. Arbeitsaufgabe wegen Pflege eines Familienangehörigen

 

Leitsatz (amtlich)

Bei der Prüfung der Sozialwidrigkeit einer Arbeitsaufgabe im Rahmen des § 34 SGB II sind die in § 10 Abs 1 Nr 4 SGB II niedergelegten Zumutbarkeitskriterien zu berücksichtigen.

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 23. Februar 2017 sowie der Bescheid des Beklagten vom 3. Dezember 2015 in der Fassung des Teilabhilfebescheids vom 8. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. März 2016 aufgehoben.

Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Verpflichtung der Klägerin zum Ersatz erbrachter Geldleistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Die 1980 geborene, ledige Klägerin ist libanesische Staatsbürgerin und lebt seit 1989 in Deutschland. Sie bezog seit dem 1. Januar 2005 Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Sie war zunächst Inhaberin einer Aufenthaltsgenehmigung nach § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) und erhielt zum 1. Oktober 2013 eine unbefristete Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG. Sie bewohnte seit dem 1. Juli 2007 gemeinsam mit ihrer 1952 geborenen schwerbehinderten (Grad der Behinderung 70, Merkzeichen G) und pflegebedürftigen Mutter, Frau K., eine 80 qm große Wohnung in L.. Die Bruttokaltmiete betrug 420 € monatlich, die Nebenkostenvorauszahlung 90 € monatlich und der Heizkostenabschlag bis einschließlich Januar 2014 140 € monatlich, ab Februar 2014 142 € monatlich, ab August 2014 145 € monatlich und ab Juli 2015 123 € monatlich.

Am 20. August 2013 nahm die Klägerin eine bis zum 19. August 2014 befristete Vollzeitbeschäftigung als Hallenaufsicht bei der M. in N. mit einer Höchstarbeitszeit von 169 Stunden monatlich auf. Laut Arbeitsvertrag vom 19. August 2013 verteilte sich die variable Arbeitszeit auf Abruf auf die ganze Woche (einschließlich Samstag und Sonntag), betrug mindestens vier Stunden pro Tag und fand im Schichtsystem (einschließlich Nachtschicht) statt. Der Arbeitgeber verpflichtete sich, die Lage der Arbeitszeit mindestens vier Tage im Voraus durch Aushang eines Dienstplans mitzuteilen. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund eines am 13. November 2013 geschlossenen Aufhebungsvertrags vorzeitig zum 30. November 2013. Die Mutter der Klägerin bezog im streitgegenständlichen Zeitraum Leistungen nach dem Vierten Kapitel SGB XII und erhielt Pflegegeld i. H. v. 400 € monatlich. Sie leidet an einer ausgeprägten Osteopenie und an einer Osteoporose. Nach einem Gutachten des Gesundheitsamts des Beklagten vom 13. Mai 2013 besteht bei ihr ein Grundpflegebedarf von 120 Minuten täglich, die Pflegestufe II ist anerkannt.

Die für den Beklagten handelnde Gemeinde L. (folgend Beklagter) bewilligte der Klägerin auf ihren Antrag vom 9. Dezember 2013 mit Bescheid vom 14. Januar 2013 Leistungen nach dem SGB II i. H. v. 715,79 € für Dezember 2013, i. H. v. 724,99 € für Januar 2014, i. H. v. 537,69 € monatlich für Februar bis April 2014 und i. H. v. 654,99 € für Mai 2014. Mit dem Bescheid vom 14. Januar 2013 minderte der Beklagte darüber hinaus das Arbeitslosengeld II der Klägerin für die Monate Februar bis April 2014 i. H. v. 30 % des nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs. Zur Begründung führte er aus, dass die Klägerin per Aufhebungsvertrag vom 30. November 2013 auf eigenen Wunsch das Arbeitsverhältnis bei der M. aufgelöst habe und somit die Voraussetzungen für eine Sperrzeit nach dem SGB III erfüllt seien, weshalb das Arbeitslosengeld nach § 31 Abs. 2 Nr. 4 SGB II i. V. m. § 31a Abs. 1 SGB II abzusenken sei. Nach Vorlage der aktuellen Jahresrechnung des Energieversorgers gewährte der Beklagte der Klägerin mit Änderungsbescheid vom 27. Januar 2014 Leistungen nach dem SGB II i. H. v. 608,69 € monatlich für Februar bis April 2014 und i. H. v. 725,99 € für Mai 2014.

Im Januar 2014 und März 2014 sprach die Klägerin bei der O. (Beschäftigungsförderung des Beklagten) vor und äußerte jeweils den Wunsch, eine Ausbildung zur Flugbegleiterin zu absolvieren. Dabei wurde ihr aufgegeben, zunächst zu prüfen, ob sich die Ausbildung mit der Pflege ihrer Mutter verbinden lasse. In diesem Zusammenhang erklärte die Klägerin, dass sie sich für die Pflege der Mutter allein verantwortlich fühle, was auch kulturelle Gründe habe, und sie sich vorstellen könne, die Verantwortung an eine arabischsprachige außenstehende Person abzugeben. Dazu müsse sie allerdings genug Geld verdienen, denn das Pflegegeld reiche dafür nicht aus. Im März 2014 bot die O. der Klägerin die Teilnahme an einer Informationsveranstaltung “Betriebliche Ausbildung in Teilzeit„ an, die sich u. a. an Menschen richtete, die Angehörige pflegen.

Mit Schreiben vom 3. April 2014 hörte der Beklagte die Klägerin zu einem möglichen Ersatzanspruc...

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