Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Sozialhilfe. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Regelsatz nach der Regelbedarfsstufe 1. Geltendmachung eines höheren Betrages als für 2022 vorgesehen. verfassungskonforme Auslegung. abweichende Regelsatzfestsetzung. Bindung an Recht und Gesetz. Vorlage ans BVerfG. Evidenzkontrolle. Entlastungsmaßnahmen der Bundesregierung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das Gericht kann wegen der Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz (Art 20 Abs 3 GG) im Rahmen der Grundsicherungsleistungen einen über den normierten Betrag hinausgehenden Regelsatz (vgl Anlage zu § 28 SGB XII) zum Ausgleich des seit Anfang des Jahres 2022 inflationsbedingt eingetretenen Kaufkraftverlustes weder im Wege einer verfassungskonformen Auslegung noch durch eine abweichende Festsetzung des Regelsatzes (§ 27a Abs 4 S 1 Nr 2 SGB XII analog) zusprechen.

2. Eine Aussetzung und Vorlage des Verfahrens gemäß Art 100 Abs 1 GG kommt im vorläufigen Rechtschutzverfahren grundsätzlich nicht in Betracht. Die gegenwärtige Regelsatzhöhe ist aber in Anbetracht der erfolgten und angekündigten ("Drittes Entlastungspaket") Entlastungsmaßnahmen des Gesetzgebers auch nicht evident unzureichend, ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern.

 

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim vom 25. Mai 2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt zum Ausgleich seines inflationsbedingten Kaufkraftverlustes im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur vorläufigen Gewährung höher Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII.

Die Antragsgegnerin bewilligte dem allein in seiner Wohnung lebenden Antragsteller mit Bescheid vom 4.3.2022 für den Zeitraum vom 1.5.2022 bis zum 30.4.2023 seine Altersrente ergänzende Grundsicherungsleistungen in Höhe von 631,39 €, wobei sie neben den Unterkunfts- und Heizkosten einen Regelbedarf von 449,00 € berücksichtigte. Dagegen erhob der Antragsteller am 23.3.2022 im Wesentlichen mit der Begründung Widerspruch, wegen der exorbitanten Preissteigerungen im Jahr 2022 sei ein Regelbedarf in Höhe von 620,00 € der Leistungsberechnung zu Grunde zu legen. Am 4.5.2022 hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht (SG) Hildesheim einen entsprechenden Eilantrag gestellt. Die begehrte höhere Regelleistung begründe sich insbesondere aus der seit Juli 2021 exorbitant gestiegenen Inflationsrate; eine Situation, die sich durch den Krieg in der Ukraine weiter verschärft habe. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe schon in seinem Beschluss vom 23.7.2014 (1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/12) ausgeführt, dass der Gesetzgeber bei einer offensichtlichen und erheblichen Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter zeitnah darauf reagieren müsse. Die ohnehin strukturell defizitäre Regelleistung sei aufgrund der extremen Preissteigerungen evident unzureichend. Der zur gleichen Problematik ergangene ablehnende Eilbeschluss des SG Oldenburg vom 17.1.2022 - S 43 AS 1/22 ER -, auf den sich die Antragsgegnerin berufe, überzeuge nicht. Der Gesetzgeber dürfe nicht mehr abwarten, sondern müsse zur Sicherung des Existenzminimums unverzüglich handeln. Die Einmalzahlung von 200,00 € für Juli 2022 sowie das 9,00 €-Ticket für den ÖPNV seien nicht ausreichend. Das strukturelle Defizit könne nur durch eine Anhebung der Regelleistung ausgeglichen werden. Wegen der Einzelheiten des Antragsvorbringens wird auf die ausführlichen Schriftsätze des Antragstellers vom 2. und 13.5.2022 verwiesen. Die Antragsgegnerin hat ihren angegriffenen Bescheid verteidigt und auf den vorgenannten Beschluss des SG Oldenburg vom 17.1.2022 verwiesen. Den Widerspruch des Antragstellers hat sie mit Widerspruchsbescheid vom 23.5.2022 zurückgewiesen. Daraufhin hat der Antragsteller am 30.5.2022 bei dem SG Hildesheim Klage erhoben. Mit Bescheid vom 1.6.2022 hat die Antragsgegnerin ihren Bescheid vom 4.3.2022 für den Zeitraum vom 1.7.2022 bis zum 30.4.2023 (wegen Berücksichtigung eines Betriebskostenguthabens im Juli 2022 und neuer Vorauszahlungen ab August 2022) bei unveränderter Berücksichtigung eines Regelbedarfs von 449,00 € geändert.

Das SG hat den Eilantrag mit Beschluss vom 25.5.2022 abgelehnt. Der Antragsteller habe den erforderlichen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Die Antragsgegnerin habe den Regelbedarf in der gesetzlich bestimmten Höhe von 449,00 € der Leistungsberechnung zu Grunde gelegt. Eine Abweichung von der durch den Gesetzeswortlaut eindeutig bestimmten Höhe der Regelbedarfe im Wege einer verfassungskonformen Auslegung sei wegen der Bindung der Antragsgegnerin und auch der Gerichte an die Gesetze (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht möglich. Allein das BVerfG sei ermächtig...

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