Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Anordnungsanspruch. Asylbewerberleistung. Grundleistung. niedrigerer Bedarfssatz bei Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft. Darlegung und Nachweis gemeinschaftlicher Haushaltsführung. verfassungskonforme Auslegung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Es bestehen erhebliche Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der in § 3a Abs 1 Nr 2 Buchst b und § 3a Abs 2 Nr 2 Buchst b Asylbewerberleistungsgesetz (juris: AsylbLG) geregelten Bedarfsstufen für erwachsene Leistungsberechtigte ohne Partner, die in Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftseinkünften oder vergleichbaren Unterkünften untergebracht sind.

2. Eine verfassungskonforme Auslegung der Norm gebietet, dass als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die tatsächliche und nachweisbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen in der Sammelunterkunft Untergebrachten vorausgesetzt wird, wofür die objektive Beweislast (und im Eilverfahren die Darlegungslast) beim Leistungsträger liegt.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Stralsund vom 5. Dezember 2019 aufgehoben. Der Antragsgegner wird vorläufig im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit ab dem 3. Dezember 2019 Leistungen nach den §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) nach der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren.

Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für beide Rechtszüge.

 

Gründe

I.

Der 1992 geborene Antragsteller ist ägyptischer Staatsangehöriger. Nach rechtskräftiger Ablehnung seines Asylantrages ist er vollziehbar ausreisepflichtig und im Besitz einer Duldung. Er lebt in einer Gemeinschaftsunterkunft in A-Stadt. Zuletzt bezog der Antragsteller ungekürzte Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG a.F.), die ihm nach erfolgreichen einstweiligen Rechtsschutzverfahren teilweise in Höhe von 827,23 € (für Februar bis Mai 2019) und 196,33 € (für den 12. bis 30. November 2019) am 3. Dezember 2019 nachgezahlt wurden.

Bei persönlicher Vorsprache des Antragstellers am 3. Dezember 2019 erhielt der Antragsteller vom Antragsgegner für Dezember 2019 Leistungen in Höhe von 310,00 € im Hinblick auf die durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetz (bereits) zum 1. September 2019 in Kraft getretene Neufestsetzung der Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, das heißt hier konkret wegen der neu geschaffenen Bedarfsstufe nach § 3 a Abs. 1 Nr. 2 b AsylbLG für erwachsene Leistungsberechtigte, die in einer Aufnahmeeinrichtung oder Gemeinschaftsunterkunft leben.

Mit Bescheid vom 6. Dezember 2019 wurden dem Antragsteller Leistungen unter Berücksichtigung der neuen Bedarfssätze nach den §§ 3, 3a Asylbewerberleistungsgesetz iHv 310,- € monatlich für die Zeit ab 01. Dezember 2019 bis auf weiteres bewilligt. Auf den Widerspruch des Antragstellers vom 12. Dezember 2009 wurde dem Antragsteller mit Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 2020 für Dezember 2019 Leistungen nach § 3 AsylbLG alte Fassung bewilligt, der darüber hinausgehende Widerspruch für die Zeit ab 1. Januar 2020 zurückgewiesen. Zur Begründung verwies der Antragsgegner auf die geänderte Rechtslage, wonach für den Antragsteller als alleinstehenden Erwachsenen, der in einer Gemeinschaftsunterkunft lebe, nunmehr eine neue Bedarfsstufe vorgesehen sei, weswegen lediglich Anspruch auf 90 % der Bedarfsstufe 1 bestehe. Hinsichtlich des Dezembers sei dem Widerspruch stattzugeben, da mit dem Bescheid vom 6. Dezember 2019 insoweit zu Unrecht eine Aufhebung für die Vergangenheit erfolgt sei.

Am 3. Dezember 2019 hat der Antragsteller einen Eilantrag beim Sozialgericht (SG) Stralsund gestellt. Er hat die Leistungsgewährung nach der Bedarfsstufe 1 mit der Begründung begehrt, die neu geregelte Bedarfsstufe sei verfassungswidrig. Sie verletze das durch Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz garantierte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, Art. 3 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber habe den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts nicht Rechnung getragen. Er habe bereits keinerlei Ermittlungen zum spezifischen Bedarf der betroffenen Leistungsberechtigten angestellt. Er gehe einfach davon aus, dass bei einer Gemeinschaftsunterbringung sich für die Bewohner solcher Unterkünfte Einspareffekte ergeben, die denjenigen von Paarhaushalten im Ergebnis vergleichbar seien. Davon könne nicht ausgegangen werden. Die Anforderungen an ein gemeinsames Wirtschaften gingen weit über die gemeinsame Nutzung von Bad, Küche und gegebenenfalls Gemeinschaftsräumen hinaus. Es könne nicht schlicht vermutet werden, dass Fremde in der Anonymität von Gemeinschaftsunterkünften irgendwie gemeinsam wirtschaften. Der Schaffung der neuen Regelbedarfsstufe dürften wohl...

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