Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Verpflichtung zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen. Aufforderung zur Beantragung einer Altersrente für langjährig Versicherte. Ermessensausübung. Verhältnismäßigkeit. Möglichkeit zur Beantragung einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen mit geringeren Abschlägen. Vermeidung von Hilfebedürftigkeit. Ermessen

 

Leitsatz (amtlich)

Die Verpflichtung der Klägerin nach § 12a SGB II zur Inanspruchnahme einer Altersrente für langjährig Versicherte, obgleich diese zum selben Zeitpunkt eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen mit geringeren Abschlägen in Anspruch hätte nehmen können, ist nicht erforderlich und damit rechtswidrig.

 

Normenkette

SGB II §§ 12a, 5 Abs. 3 S. 1; SGB VI § 34 Abs. 4 Nr. 3, §§ 36-37, 115; SGB I § 39 Abs. 1 S. 1

 

Tenor

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 7. Januar 2016 und der Bescheid vom 31. August 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. September 2015 werden aufgehoben.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.

 

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Aufforderung des Beklagten, einen Antrag auf vorzeitige Inanspruchnahme einer Rente wegen Alters zu stellen.

Die am 31.10.1952 geborene Klägerin bezog seit längerem Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) seitens des Beklagten. Mit Bescheid des Landratsamts A., Versorgungsamt, vom 06.03.2013 (dem Beklagten am 07.03.2013 zugegangen) wurde bei der Klägerin ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 seit 07.09.2012 festgestellt.

Gestützt auf eine Rentenauskunft der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Bund vom 11.01.2013 - danach kann die Klägerin Altersrente für schwerbehinderte Menschen ohne Rentenabschlag ab 01.05.2016 und mit Rentenabschlag frühestens ab 01.05.2013 sowie Altersrente für langjährig Versicherte ohne Rentenabschlag ab 01.05.2018 und mit Rentenabschlag frühestens ab 01.11.2015 in Anspruch nehmen - forderte der Beklagte die Klägerin mit Bescheid vom 20.04.2014 auf, eine “geminderte Altersrente„ zu beantragen, hob diesen Bescheid indes auf den Widerspruch der Klägerin hin mit Bescheid vom 06.06.2014 auf und bewilligte mit weiterem Bescheid vom 06.06.2014 und mit Bescheid vom 17.11.2014 Arbeitslosengeld II (Alg II) für die Zeit von Juli 2014 bis einschließlich Juni 2015. Zuletzt wurde der Klägerin mit Bescheid vom 08.06.2015 Alg II für den Zeitraum Juli 2015 bis einschließlich April 2016 bewilligt; darüber hinaus, so der Beklagte in diesem Bescheid, könne man kein Alg II bewilligen, da die Klägerin ab 01.05.2016 Anspruch auf Altersrente habe, um deren rechtzeitige Antragstellung man sie hiermit ersuche.

Mit Bescheid vom 31.08.2015 forderte der Beklagte die Klägerin auf, bis spätestens 17.09.2015 bei der DRV Bund eine “geminderte Altersrente„ zu beantragen. Im Rahmen des eingeräumten Ermessens habe man auch die Voraussetzungen der Unbilligkeitsverordnung (UnbilligkeitsV) geprüft und festgestellt, dass keine der dortigen Ausnahmen greifen würden. Die Klägerin sei daher verpflichtet, ab Vollendung des 63. Lebensjahres eine “geminderte Altersrente„ in Anspruch zu nehmen. Die Klägerin hat hiergegen Widerspruch eingelegt und diesen damit begründet, sie könne als schwerbehinderter Mensch eine abschlagsfreie Altersrente wegen Schwerbehinderung mit 63 Jahren und 6 Monaten in Anspruch nehmen. Es liege daher eine unbillige Härte nach der UnbilligkeitsV vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 29.09.2015 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Die Klägerin sei mit dem angefochtenen Bescheid aufgefordert worden, einen Antrag auf eine Altersrente für langjährig Versicherte mit Abschlag zu stellen. Die Klägerin vollende am 31.10.2015 das 63. Lebensjahr und habe daher ab dem 01.11.2015 Anspruch auf Altersrente für langjährig Versicherte. Es würden keine Anhaltspunkte für eine Unbilligkeit der vorzeitigen Inanspruchnahme einer solchen Rente vorliegen.

Hiergegen hat die Klägerin am 05.10.2015 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben und zur Begründung ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und vertieft. Mit Schreiben vom 08.10.2015 hat der Beklagte anstelle der Klägerin Antrag auf Altersrente für langjährig Versicherte bei der DRV Bund gestellt, nachdem die Klägerin trotz Aufforderung keinen Antrag gestellt habe, und hat zugleich seinen Erstattungsanspruch angemeldet. Mit Bescheid vom 19.11.2015 lehnte die DRV Bund die Rentengewährung wegen mangelnder Mitwirkung ab, da die erforderlichen Antragsformulare seitens der Klägerin nicht übersandt worden seien. Hiergegen legte der Beklagte am 18.12.2015 Widerspruch ein.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 07.01.2016 die Klage abgewiesen. Es hat dabei zur Begründung die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19.08.2015 (B 14 AS 1/15 R, juris) zitiert und sich dieser angeschlossen. Die Klägerin sei verpflichtet, eine vorzeitige Altersrente zu beantragen und in Anspruch zu nehmen. Ausnahmetatbestä...

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