Rz. 11

Abs. 1 Satz 1 und 2 legt die Verfahrensweise von dem Zeitpunkt an fest, in dem gewichtige Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohls bekannt werden. Damit wird klargestellt, dass dem Jugendamt nicht auferlegt werden soll, ohne jegliche Anhaltspunkte quasi flächendeckend Eltern und Personensorgeberechtigte zu kontrollieren. "Gewichtige Anhaltspunkte" müssen dem Jugendamt bekannt werden. Das bedeutet, dass es sich um hinreichend konkrete und ernst zu nehmende Hinweise handelt. Das Jugendamt muss prüfen, ob die Anhaltspunkte diese Anforderungen erfüllen, bevor das Verfahren zur Abschätzung der Gefährdung eingeleitet wird. Erst wenn dies geschehen ist und die Anhaltspunkte hinreichendes Gewicht haben, wird das Jugendamt "im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte" die eigentliche Risikoabschätzung vornehmen. Das Jugendamt hat das Recht und zugleich die Pflicht, die zur Abschätzung des Gefährdungsrisikos erforderlichen Informationen zu beschaffen. Ein Ermessensspielraum besteht dabei nicht. Vielmehr hat das Jugendamt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, d. h. die Maßnahme zur Informationsgewinnung muss ebenso wie eventuell darauf folgende Eingriffe in die Grundrechte des Kindes oder Jugendlichen und in die Grundrechte der Eltern und Personensorgeberechtigten geeignet, erforderlich und angemessen sein. Im Rahmen der Erforderlichkeit ist zu prüfen, ob auch ein milderes, aber gleichermaßen geeignetes Mittel in Betracht kommt. Im Rahmen der Angemessenheit sind die grundrechtlich geschützten Belange des von einem Eingriff Betroffenen auf der einen und die bedrohten grundrechtlich geschützten Belange des Kindes oder des Jugendlichen auf der anderen Seite zu gewichten.

 

Rz. 12

Die in Betracht kommenden Maßnahmen zur Informationsbeschaffung sind vielfältig. Dazu zählt neben der Einsichtnahme in Akten und Urkunden die Befragung von Eltern, Personensorge- und Erziehungsberechtigten, Verwandten und Bekannten, Freunden, Lehrern und sonstigen Kontaktpersonen des Kindes oder Jugendlichen. Ferner kommt die Augenscheinseinnahme in Betracht. Die häusliche Situation, aber auch Verhaltensauffälligkeiten, Erziehungs- und Entwicklungsbedingungen können insbesondere durch Hausbesuche aufgeklärt werden. Je nach den Gegebenheiten des Falles sollte der Hausbesuch auch unangemeldet erfolgen. Es sollten nach Möglichkeit eine weibliche und eine männliche Fachkraft den Hausbesuch zu zweit durchführen. Bei Gefahr im Verzug, oder falls aufgrund bestimmter Gegebenheiten im Einzelfall Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass die Anwendung unmittelbaren Zwangs erforderlich wird, sollte die Polizei hinzugezogen werden. Falls die Eltern, die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten die Inaugenscheinnahme des Kindes oder das Betreten der Wohnung verweigern, sollte das Familiengericht angerufen werden.

 

Rz. 12a

Gemäß Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 muss das Jugendamt insbesondere das Kind oder den Jugendlichen in die Gefährdungseinschätzung einbeziehen, soweit deren wirksamer Schutz nicht infrage gestellt wird. Letzteres kommt z. B. bei der Einbeziehung von Erziehungsberechtigten bei Verdacht auf Kindesmissbrauch in Betracht (BT-Drs. 15/3676 S. 38 zu § 62 Abs. 3 Nr. 3 und 4). Hausbesuche können ein geeignetes Mittel sein, um sich einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind und seiner Umgebung zu verschaffen. Das Betreten des Hauses oder der Wohnung gegen den Willen der Eltern oder gar eine Hausdurchsuchung sind unzulässig.

 

Rz. 12b

Mit dem durch das KJSG eingeführten Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 wurde die Möglichkeit geschaffen, Berufsgeheimnisträgerinnen und Berufsgeheimnisträger, die auf der Grundlage der in § 4 KKG geregelten Befugnis das Jugendamt wegen des Verdachts einer Kindeswohlgefährdung informiert haben, in das Verfahren zur Gefährdungseinschätzung nach einer Meldung an das Jugendamt einzubeziehen. Dabei handelt es sich um Ärztinnen oder Ärzte, Zahnärztinnen oder Zahnärzte, Hebammen oder Entbindungspfleger oder Angehörige eines anderen Heilberufes, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert, Berufspsychologinnen oder Psychologen mit staatlich anerkannter wissenschaftlicher Abschlussprüfung, Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugendberaterinnen oder Berater sowie Beraterinnen oder Berater für Suchtfragen in einer Beratungsstelle, die von einer Behörde oder Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannt ist, Mitglieder oder Beauftragte einer anerkannten Beratungsstelle nach den §§ 3 und 8 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes, staatlich anerkannte Sozialarbeiterinnen oder Sozialarbeiter oder staatlich anerkannte Sozialpädagoginnen oder Sozialpädagogen oder Lehrerinnen oder Lehrer an öffentlichen und an staatlich anerkannten privaten Schulen, denen in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt werden.

 

Rz. 13

Zur Vorgehensweise bei Vorliegen erster Anhaltspunkte für ein...

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