Rz. 1

Das Berufskrankheitenrecht ist deutlich jünger als die gesetzliche Unfallversicherung, die ursprünglich nur für Arbeitsunfälle in Industriebetrieben konzipiert war (Unfallversicherungsgesetz v. 6.7.1884, RGBl. 1884 S. 69, in Kraft getreten am 1.10.1885). Von einem Unfall konnte und kann begrifflich aber nur die Rede sein, wenn die schädigenden Einwirkungen auf eine Arbeitsschicht begrenzt sind (vgl. dazu heute: § 8 Abs. 1 Satz 1). Beruflich bedingte Erkrankungen, die auf länger dauernden oder wiederholten Einwirkungen beruhten, gingen deshalb zulasten der gesetzlichen Kranken- und Invalidenversicherung, was schon bald als Ungleichbehandlung empfunden wurde. Es erschien jedoch schwierig, die sog. Gewerbekrankheiten sachgerecht zu umschreiben sowie den Ursachenzusammenhang zwischen der Erkrankung und der versicherten Tätigkeit nachzuweisen. Deswegen normierte die Reichsversicherungsordnung (RVO) v. 19.7.1911 (RGBl. I S. 509), die im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung am 1.1.1913 in Kraft trat, das Recht der Berufskrankheiten nicht allgemein, sondern ermächtigte in § 547 RVO stattdessen den Verordnungsgeber, die Unfallversicherung auf bestimmte gewerbliche Berufskrankheiten zu erweitern. Damit führte der Gesetzgeber das sog. Listensystem bzw. Enumerationsprinzip ein, wonach nur die Leiden entschädigungspflichtig sind, die eine Verordnung als Berufskrankheiten bezeichnet.

Die Erste Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf gewerbliche Berufskrankheiten (1. BKVO) v. 12.5.1925 (RGBl. I S. 69) trat am 1.7.1925 in Kraft und enthielt in ihrer Anlage 1 (Liste) einen Katalog von 11 Krankheiten. Die ersten 7 Berufskrankheiten, zu denen unter anderem Erkrankungen durch Blei und Quecksilber gehörten, bezogen sich auf sämtliche Betriebe, in denen Versicherte regelmäßig mit gefährdenden Stoffen umgingen. Dagegen erfassten die Nr. 8 bis 11 nur Erkrankungen in bestimmten Betrieben (z. B. Glashütten, Bergbau etc.). Die 1. BKVO stellte die Berufskrankheiten den Arbeitsunfällen im Wesentlichen gleich (§ 2 der 1. BKVO) und setzte damit das internationale Übereinkommen über die Entschädigung bei Berufskrankheiten faktisch um, wonach die Entschädigungssätze für Berufskrankheiten nicht geringer sein dürfen als diejenigen, welche die innerstaatliche Gesetzgebung für die aus Betriebsunfällen herrührenden Schäden vorsieht (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 des Übereinkommens). Dieses sog. Übereinkommen 18, das die Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) in Genf am 10.6.1925 angenommen hatte, trat am 1.4.1927 in Kraft. Die 1. BKVO behandelte die Versicherten bei Berufskrankheiten sogar besser als bei Arbeitsunfällen, indem sie die sog. Übergangsrente – als Vorläufer der heutigen Übergangsleistung – einführte (§ 6 der 1. BKVO) und dem Versicherungsträger ein entsprechendes Ermessen einräumte (Kann-Vorschrift).

 

Rz. 2

Kurz nach dem Inkrafttreten der 1. BKVO tilgte der Gesetzgeber mit dem Zweiten Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung v. 14.7.1925 (RGBl. I S. 97) in § 547 RVO das Wort "gewerbliche" und ermöglichte damit, Berufskrankheiten auch in der landwirtschaftlichen und der Seeunfallversicherung zu entschädigen. Das Dritte Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung v. 20.12.1928 (RGBl. I S. 405) ermächtigte in § 547 RVO die Reichsregierung, bestimmte Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen und erklärte die Vorschriften der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten für uneingeschränkt anwendbar. Die 2. BKVO v. 11.2.1929 (RGBl. I S. 27), die am 1.1.1929 in Kraft trat, verdoppelte die Anzahl der Berufskrankheiten auf 22 (Anlage 1 der 2. BKVO) und dehnte den zeitlichen Versicherungsschutz rückwirkend bis zum 1.1.1920 (§ 12 der 2. BKVO) aus. Obgleich das Übereinkommen 18 die "Ansteckung durch Milzbrand" als Berufskrankheit benannt hatte, nahm der Verordnungsgeber dieses Leiden nicht in die nationale Liste der Berufskrankheiten auf.

Mit dem Übereinkommen 42 über die Entschädigung bei Berufskrankheiten änderte die Allgemeine Konferenz der IAO in Genf am 21.6.1934 das Übereinkommen 18 und erweiterte das Berufskrankheitenverzeichnis. Es trat am 17.6.1936 in Kraft. Für den deutschen Verordnungsgeber ergab sich hieraus – bis auf den Milzbrand (Anthrax) – kein Handlungsbedarf.

 

Rz. 3

Ab dem 1.4.1937 erweiterte die 3. BKVO v. 16.12.1936 (RGBl. I S. 1117) die Liste auf 27 Berufskrankheiten, ohne die Umsetzungslücke im Hinblick auf die Ansteckung durch Milzbrand zu beseitigen. Die 3. BKVO baute die Übergangsleistungen aus (Soll-Vorschrift, § 5 Abs. 1 der 3. BKVO) und verpflichtete die staatlichen Gewerbeärzte, den Erkrankten unverzüglich zu untersuchen oder auf Kosten des Versicherungsträgers durch einen beauftragten Arzt untersuchen zu lassen (§ 6 Abs. 3 der 3. BKVO). Das Sechste Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung v. 9.3.1942 (RGBl. I S. 107) wandelte das bisherige System der Betriebs- in eine Personenunfallversicherung um und übernahm den bisherigen § 547 RVO – ohne inhaltl...

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