0 Rechtsentwicklung

 

Rz. 1

Die Vorschrift trat mit Art. 1 des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch v. 27.12.2003 (BGBl. I S. 3022) zum 1.1.2005 (Art. 70 Abs. 1 des genannten Gesetzes) in Kraft.

1 Allgemeines

 

Rz. 2

Die Vorschrift übertrug den inhaltsgleichen § 27 Abs. 2 BSHG. Die Norm beinhaltet sowohl auf der Tatbestands- wie auf der Rechtsfolgenseite eine Generalklausel. Die Offenheit der verwandten Begriffe ("sonstige Lebenslagen", "Leistungen") umfasst auf der Tatbestandsseite die Möglichkeit, neu auftretenden generellen Notlagen sozialhilferechtlich zu begegnen. Auf der Rechtsfolgenseite ermöglicht sie die Entwicklung neuartiger Hilfsinstrumente des Sozialhilferechts. Die eigentliche rechtliche Funktion des § 73 besteht damit darin, für unbenannte Leistungen und Leistungsempfänger eine Rechtsgrundlage zu schaffen, so dass sich auch hier die Frage des Gesetzesvorbehalts für Sozialleistungen bzw. eines etwaigen Verstoßes gegen § 31 SGB I nicht entscheidungserheblich stellen kann (vgl. hierzu Mrozynski, SGB I, 3. Aufl. 2003, § 31 Rz. 1 ff.; zu einem Beispiel unzulässiger Leistungsgewährung ohne Rechtsgrundlage s. BSGE 76 S. 109).

Faktisch hat die Norm aber auch eine rechtliche Ventilfunktion und ermöglicht so der Rechtsprechung, die starren Leistungskataloge des SGB XII und SGB II aufrechtzuhalten, indem eine Leistungsgewährung für Fälle atypischer, aber verfassungsrechtlich unabweisbarer Bedarfslagen durch verfassungskonforme Auslegung möglich gemacht wird (so am Beispiel des elterlichen Umgangsrechts, dessen Kosten im Regelsatz des SGB II nicht berücksichtigt sind: BSG Urteil v. 7.11.2006, B 7b AS 14/06 R).

2 Rechtspraxis

2.1 Verhältnis zu speziellen Hilfearten

 

Rz. 3

Die Vorschrift ist nicht anzuwenden, wenn zuvor eine der in §§ 30 ff. vorgesehenen Hilfen nur deshalb nicht zur Anwendung kommt, weil eine der in den §§ 30 ff. aufgestellten Voraussetzungen nicht erfüllt ist (OVG Lüneburg, FEVS 45 S. 293). Wird die Bedarfslage von einer dieser Vorschriften erfasst, schließt der Grundsatz der Spezialität einen Rückgriff auf § 73 auch (und gerade) dann aus, wenn diese Vorschrift die Hilfe in diesem konkreten Fall persönlich, sachlich oder räumlich einschränkt oder ausschließt (BVerwG, FEVS 15 S. 321). Das gilt auch dann, wenn der Hilfebedarf wegen Einkommensüberschreitungen nicht gedeckt werden kann (Fichtner, in: Fichtner, BSHG, 2. Aufl. 2003, § 27 Rz. 3; Bramann, in: Mergler/Zink, BSHG, Stand März 2004, § 27 Rz. 19; Schellhorn/Schellhorn, BSHG, 16. Aufl., § 27 Rz. 12). Soweit es um die Beurteilung eines besonderen Bedarfs geht, der unter die Regelungen über die Hilfe in besonderen Lebenslagen fällt, gehen die dafür maßgeblichen Bestimmungen als Sonderregelungen den Vorschriften über die Hilfe zum Lebensunterhalt allerdings vor mit der Folge, dass der Leistungen Nachsuchende sich nicht wahlweise an den einen oder den anderen Träger halten kann (BVerwG, Beschluss v. 15.8.1996, 5 B 70/96, Buchholz 436.0, § 27 BSHG Nr. 6).

2.2 Voraussetzungen

 

Rz. 4

Voraussetzung für die Anwendung des § 73 ist, dass der Einsatz öffentlicher Mittel "gerechtfertigt" ist. Nach Auffassung des OVG Berlin (FEVS 19 S. 210) handelt es sich dabei um eine gerichtlich voll nachprüfbare Tatfrage im Sinne eines unbestimmten Rechtsbegriffs. Bei dem dann eröffneten Ermessen soll es sich nur noch um ein Auswahl-, nicht um ein Entschließungsermessen handeln. Es soll auf die Überlegung abzustellen sein, ob die jeweilige unbenannte Notlage die Gleichbehandlung mit einer im Gesetz genannten Notlage gebiete. Die Literatur ist der Entscheidung teilweise gefolgt (Armborst, in: LPK-BSHG, 6. Aufl. 2003, § 27 Rz. 12; Fichtner, a. a.O., § 27 Rz. 3; Kunz, in: Oestreicher/Schelter/Kunz, BSHG, Stand Juni 2003, § 27 Rz. 7).

 

Rz. 5

Dem ist entgegenzuhalten, dass die Frage, wann der Einsatz öffentlicher Mittel gerechtfertigt ist, eine klassische Entscheidung des parlamentarischen Verfahrens ist, weil die dazu erforderliche Priorisierung bzw. Posteriorisierung öffentlicher Belange von individuellen bzw. von politischen (Vor-)Wertungen abhängt und ein tragfähiger Konsens nur durch transparent gemachten demokratisch legitimierten Mehrheitsbeschluss herstellbar ist. Dies gilt für den Träger der Sozialhilfe entsprechend, da dieser mit den gemäß Art. 28 GG durch demokratische Wahl gebildeten Entscheidungsgremien über solcherart legitimierte Organe verfügt. Diesen ist daher die Ausfüllung des durch § 73 eröffneten Ermessens vorbehalten. Die Figur des unbestimmten Rechtsbegriffs, die im Ergebnis die Wertung eines gerichtlichen Spruchkörpers an diese Stelle setzt, ist mithin für § 73 abzulehnen. Es handelt sich vielmehr um die Zuweisung pflichtgemäßen Ermessens, das nach den Grundsätzen des § 17 Abs. 2 auszuüben ist (so auch Linhart/Adolph/Gröschel-Gundermann, a. a.O., § 27 Rz. 11).

 

Rz. 6

Dies enthebt die Träger der Sozialhilfe nicht der Kontrolle, denn die Gerichte haben auch nach der hier vertretenen Auffassung zu überprüfen, ob bei der Ausfüllung des eingeräumten Ermessens von zutreffenden Tatsachen ausgegangen wurde und ob die Grenzen des Ermessens ...

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