Rz. 16

Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 stellt klar, dass ausländische Kinder und Jugendliche, die unbegleitet nach Deutschland einreisen und deren Personensorgeberechtigte und Erziehungsberechtigte sich nicht im Inland aufhalten, in Obhut zu nehmen sind. Dies entspricht der bisherigen Praxis und beruht auf der zutreffenden Annahme, dass für diesen Personenkreis eine latente kindeswohlgefährdende Situation besteht, die ohne weitere Abschätzung eines Gefährdungsrisikos eine Inobhutnahme erforderlich macht. Ein Minderjähriger ist als unbegleitet zu betrachten, wenn die Einreise nicht in Begleitung eines Personensorge- oder Erziehungsberechtigten erfolgt. Personensorgeberechtigte sind gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 5 diejenigen Personen, denen allein oder gemeinsam mit einer anderen Person nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs (§ 1626 BGB) die Personensorge für den Minderjährigen zusteht. Erziehungsberechtigte sind nach § 7 Abs. 1 Nr. 6 nicht nur Personensorgeberechtigte, sondern auch jede sonstige Person über 18 Jahre, soweit sie aufgrund einer Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrnimmt. Dabei kann der Personensorgeberechtigte selbst sich im Ausland aufhalten. Allerdings muss eine Vollmachterteilung erweislich sein (Whiley, JAmt 2022 S. 474). Zwingend erforderlich ist in jedem Fall eine Ermächtigung durch den Personensorgeberechtigten, erlaubterweise Funktionen des Sorgerechts auszuüben (Erziehungsauftrag).

 

Rz. 17

Vor diesem Hintergrund ist ein Rückschluss auf eine Erziehungsberechtigung allein aus der gemeinsamen Einreise einer/s minderjährigen Ausländers/in mit einem Verwandten oder einer anderen Person keinesfalls zulässig (VGH München, Urteil v. 21.10.2022, 12 BV 20.2079). Ebenso wenig reicht ein bloßes Verwandtschaftsverhältnis aus, um den Tatbestand einer Erziehungsberechtigung zu begründen. Die Frage, ob eine (wirksame) Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten getroffen wurde, ist vielmehr in jedem Einzelfall durch das Jugendamt zu prüfen und festzustellen (Bendfer, in: Johlen/Oerder, Münchner Anwaltshandbuch Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2017, Rz. 30). Als Erziehungsberechtigter kommt allerdings ein volljähriger Bruder oder ein anderer volljähriger naher Verwandter in Betracht, wenn sich aus den Gegebenheiten im Einzelfall ergibt, dass dieser auf der Fluchtroute und bei der Einreise ins Bundesgebiet die tatsächliche Verantwortung für den Minderjährigen übernommen hat. In einem solchen Fall kann von der konkludenten Übertragung der Erziehungsberechtigung durch die im Ausland verbleibenden Eltern ausgegangen werden (Bay. VGH, Urteil v. 14.10.2022, 12 BV 20.2077).

Die Pflicht zur Inobhutnahme tritt auch dann ein, wenn der ursprünglich mit einem Personensorgeberechtigten oder Erziehungsberechtigten ins Bundesgebiet eingereiste minderjährige Ausländer nach der Einreise allein im Bundesgebiet zurückgelassen wird (Bay. VGH, Urteil v. 14.10.2022, 12 BV 20.2077).

 

Rz. 18

Die Inobhutnahme ist vorrangig vor der asylverfahrensrechtlichen Zuweisung nach § 50 AsylVfG i. V. m. Art. 1, 6 AufnG und §§ 1, 7 Abs. 1 und 5 DVAsyl (VG München, Beschluss v. 9.9.2015, M 24 S 15.3187 mit Hinweis auf Bay. VGH, Beschluss v. 23.9.2014, 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865). Die Pflicht zur Inobhutnahme besteht auch dann, wenn der Minderjährige noch keinen Asylantrag gestellt hat und sich infolge dessen nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält (Bay. VGH, Beschluss v. 23.9.2014, 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865). Die mit Wirkung zum 1.11.2015 eingeführten §§ 42a bis 42f treffen nunmehr spezielle Regelungen zum Verfahren bei der Verteilung auf die Bundesländer und zur Altersfeststellung (vgl. die dortigen Kommentierungen). Diese sind gegenüber den weiteren Regelungen in § 42 leges speciales. Die vorläufige Inobhutnahme ist also bei unbegleiteten Kindern und Jugendlichen nach den Reglungen des § 42a Abs. 1 vorzunehmen. Die Voraussetzungen nach § 42 Abs. 1 Satz 1 müssen nicht vorliegen. Es wird lediglich § 42 Abs. 1 Satz 2 in Bezug genommen.

 

Rz. 19

Das zuständige Jugendamt ist auch dann zur Inobhutnahme verpflichtet, wenn die Minderjährigkeit zwar zweifelhaft ist, aber nicht ausgeschlossen werden kann. Da eine Inobhutnahme Volljähriger rechtswidrig ist, hat das Jugendamt das Alter des Betroffenen festzustellen, ohne insoweit an die Feststellungen anderer Behörden gebunden zu sein (Bay. VGH, Beschluss v. 23.9.2014, 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 m. w. N.). Eine Altersschätzung allein aufgrund bestimmter äußerlicher körperlicher Merkmale stellt für sich genommen keine ausreichende Grundlage dar. Dies gilt auch dann, wenn sie durch Personal erfolgt, das in diesem Bereich erfahren ist. Eine zuverlässige Altersdiagnostik setzt vielmehr voraus, dass im Wege einer zusammenfassenden Begutachtung die Ergebnisse einer körperlichen Untersuchung, ggf. auch einer Röntgenuntersuchung der Hand und der Schlüsselbeine, sowie einer zahnärztlichen Untersuchung zu einer abschlie...

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