2.3.4.1.1 Hinweispflicht

 

Rz. 80

Die grundrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) umfasst das Recht auf ein unparteiisches Gericht. Die EMRK sichert diesen Anspruch in deren Art. 6 Abs. 1 Satz 1 menschenrechtlich ab (hierzu ausführlich Frehse, Kompensation-ÜGG, S. 219 ff.). Dessen Unparteilichkeit wird u. a. durch das Recht eines Beteiligten gesichert, Gerichtspersonen wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Damit ein Beteiligter von diesem prozessualen Recht Gebrauch machen kann, muss das Gericht ihn auf einen ihm als Außenstehenden ersichtlich verborgenen Sachverhalt hinweisen, der aus der Sicht einer objektiv und vernünftig urteilenden Partei Anlass für einen Befangenheitsantrag sein kann (vgl. BGH, Urteil v. 15.12.1994, I ZR 121/92). Exemplarisch hierfür ist die Selbstablehnung nach § 48 ZPO. Auch ist das Gutachten eines Sachverständigen als Beweismittel ungeeignet, wenn in seiner Person ein Ablehnungsgrund vorliegt, den ein Beteiligter bei Kenntnis mit Sicherheit geltend gemacht hätte. Der gesetzliche Rahmen freier Beweiswürdigung ist überschritten, wenn das Gericht in Kenntnis des Ablehnungsgrundes das Gutachten als Urteilsgrundlage verwendet (BSG, Urteil v. 11.12.1992, 9a RV 6/92). Der insoweit zu rügende Verfahrensfehler (§ 160 Abs. 2 Nr. 3) kann dazu führen, dass das BSG das angefochtene Urteil auf eine Nichtzulassungsbeschwerde aufhebt und die Sache nach § 160a Abs. 5 zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweist (BSG, Beschluss v. 24.11.2005, B 9a VG 6/05 B).

2.3.4.1.2 Vorbefassung

 

Rz. 81

Das geltende Verfahrensrecht ist von dem Gedanken geprägt, dass ein Richter grundsätzlich selbst dann unvoreingenommen an die Beurteilung einer Sache herantritt, wenn er bereits früher mit der Sache befasst war (BSG, Beschluss v. 10.1.2018, B 5 R 301/17 B). Ausnahmen hiervon sind in § 60 SGG i. V. m. § 41 Nr. 6 ZPO abschließend normiert. In den nicht erfassten Fällen setzt der Gesetzgeber voraus, dass der Prozessbeteiligte grundsätzlich annehmen wird und muss, der Richter genüge seiner Pflicht zur unbefangenen Entscheidung. Um in diesen Fällen die Besorgnis der Befangenheit zu rechtfertigen, müssen daher besondere Umstände hinzutreten, da andernfalls ein gesetzlich nicht vorgesehener Ausschließungsgrund geschaffen würde (vgl. BSG, Beschluss v. 19.1.2010, B 11 AL 13/09 C; BGH, Beschluss v. 10.12.2007, AnwZ [B] 64/06; BVerwG, Urteil v. 2.7.1976, VI C 109.75; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 22.11.2007, OVG 3 N 131.07). Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn Äußerungen in früheren Entscheidungen unnötige und sachlich unbegründete Werturteile über den Antragsteller enthalten oder wenn ein Richter sich bei einer Vorentscheidung in sonst unsachlicher Weise zum Nachteil des Antragstellers geäußert hat (BGH, Urteil v. 29.6.2006, 5 StR 485/05; vgl. auch Zöller/Vollkommer, ZPO, § 42 Rn. 15, 17).

 

Rz. 82

Eine Vorbefassung vermag für sich genommen daher die Besorgnis der Befangenheit nicht zu begründen (BSG, Beschluss v. 10.1.2018, B 5 R 301/17 B; BGH, Beschluss v. 10.12.2007, AnwZ [B] 64/06; OLG Oldenburg, Beschluss v. 26.1.2015, 10 W 21/14; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 30.3.2011, L 11 SF 66/11 AB). Die Mitwirkung eines abgelehnten Richters an einem früheren Verfahren, auch über den gleichen Sachverhalt, das zu einer der Partei ungünstigen Entscheidung geführt hat, genügt daher grundsätzlich nicht als Ablehnungsgrund (FG Hamburg, Beschluss v. 28.11.2016, 3 K 24/16; OLG Köln, Beschluss v. 1.7.2009, 4 W 3/09; vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 23.3.2011, L 11 SF 14/11 AB: Vorbefassung durch Eilverfahren). Die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit kann im Rahmen einer Anhörungsrüge, die gerade der Selbstkorrektur des Gerichts dienen soll, nicht allein darauf gestützt werden, dass der Richter mit der Sache vorbefasst war (BVerwG, Beschluss v. 28.5.2009, 5 PKH 6/09, 5 PKH 1/09).

 

Rz. 83

Auch eine atypische Vorbefassung begründet als solches nicht die Besorgnis der Befangenheit. Diese wird angenommen, wenn der Richter in einer anderen Rolle wiederholt mit dem Streitstoff beschäftigt war (vgl. OLG München, Beschluss v. 6.4.2009, 1 W 1068/09; Zöller/Vollkommer, ZPO, § 42 Rn. 17). Abgesehen von den gesetzlich unter anderem in § 41 Nr. 6 ZPO anders geregelten Fällen unterstellt das Gesetz auch bei einer atypischen Vorbefassung, dass ein Richter zu einer unvoreingenommenen Prüfung in der Lage ist, wenn er mit einer Rechtssache erneut befasst wird (vgl. BGH, Beschluss v. 24.7.2012, II ZR 280/11; OLG Hamm, Beschluss v. 21.8.2013, I 32 W 11/13). Es müssen vielmehr objektive Umstände hinzutreten, die nach der Meinung einer ruhig und vernünftig denkenden Partei Anlass geben, die Unparteilichkeit in Zweifel zu ziehen (vgl. OLG München, Beschluss v. 6.4.2009, 1 W 1068/09). Rein subjektive Gründe und Überlegungen der Partei scheiden bei dieser Betrachtung aus (OLG Oldenburg, Beschluss v. 26.1.2015, 10 W 21/14). Demzufolge rechtfertigt die Tatsache, dass ein Richter an Entscheidungen in ein...

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