Rz. 4

Gemäß § 39 Abs. 2 kann das Bundessozialgericht auch als erstinstanzliches (und gleichzeitig letztinstanzliches) Gericht zuständig sein. Diese Regelung hat Ausnahmecharakter und ist deshalb eng auszulegen (BVerwG, Urteil v. 30.7.1976, IV A 1.75). Oberste Gerichtshöfe müssen zwar im Wesentlichen Rechtsmittelgerichte sein, jedoch ist eine (auch) erstinstanzliche Zuständigkeit verfassungsrechtlich unbedenklich (BVerfG, Urteil v. 10.6.1958, 2 BvG 1/56). Danach ist das Bundessozialgericht erstinstanzlich zuständig für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art zwischen dem Bund und den Ländern (nicht bei einem Streit zwischen Kommunen und Bund: BSG, Urteil v. 2.7.2013, B 4 AS 72/12 R) sowie verschiedenen Ländern, für die der Weg zu den Sozialgerichten eröffnet ist (Streitigkeiten anderer Körperschaften sind nicht betroffen). Jedoch nur soweit es sich um sog. Parteistreitigkeiten handelt, in denen sich die Beteiligten als gleichberechtigte Partner und nicht in einem Über-/Unterordnungsverhältnis gegenüberstehen (vgl. für die Situation einer Anfechtungsklage: BVerwG, Urteil v. 30.7.1976, IV A 1.75, und auch BSG, Urteil v. 15.12.2009, B 1 AS 1/08 KL; BSG, Urteil v. 31.5.2016, B 1 AS 1/16). Das Bundessozialgericht muss dem BVerfG die Sache vorlegen, wenn es zu der Überzeugung gelangt, dass es sich um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit handelt. Das BVerfG entscheidet dann verbindlich entweder in der Sache oder durch Zurückverweisung an das BSG, wenn es die Annahme einer verfassungsrechtlichen Streitigkeit seitens des Bundessozialgerichts nicht teilt.

 

Rz. 5

Die Regelung in § 39 Abs. 2 ist jedoch nicht abschließend, denn weitere Zuständigkeiten als erstinstanzliches Gericht ergeben sich für das Bundessozialgericht aus Bestimmungen in anderen Gesetzen. So ordnet § 88 Abs. 6 Satz 2 SVG die erstinstanzliche Zuständigkeit für Klagen von Personen (und deren Hinterbliebenen) an, die als Soldaten dem Bundesnachrichtendienst angehört haben; § 240 Abs. 1 Nr. 5 SGB IX (früher § 71 Nr. 5 SchwbG) enthält eine entsprechende Regelung für Streitigkeiten nach dem SGB IX aus dem Geschäftsbereich des Bundesnachrichtendienstes; nach § 160 Abs. 6 S. 4 (früher § 146 Abs. 6 Satz 4 SGB III bzw. § 116 Abs. 6 Satz 4 AFG) entscheidet das Bundessozialgericht über Klagen der am Arbeitskampf beteiligten Tarifvertragsparteien gegen den Neutralitätsausschuss. Gemäß § 160 Abs. 6 Satz 5 SGB III hat das BSG das Verfahren vorrangig zu erledigen, wodurch eine der Zielsetzungen der spezialgesetzlich angeordneten erstinstanzlichen Zuständigkeit des BSG deutlich wird. Es kann gemäß § 160 Abs. 6 Satz 2 SGB III auch eine einstweilige Anordnung erlassen. Gemäß § 202 Satz 2 i. V. m. § 201 Abs. 1 Satz 2 GVG ist das Bundessozialgericht auch zuständig für Klagen gegen den Bund auf Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens.

 

Rz. 6

Soweit das BSG erstinstanzlich zuständig ist, gelten §§ 87 ff., d. h., das Bundessozialgericht hat den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären und dazu ggf. auch Beweis zu erheben. Weiter gelten die das Landessozialgericht als Kollegialgericht betreffenden Vorschriften des § 155 Abs. 2 bis 4 entsprechend (a. A. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, § 39 Rz. 4 m. w. N.). Umstritten ist, ob in diesen Verfahren Vertretungszwang (§ 73 Abs. 4) besteht (bejahend Leitherer, a. a. O., § 73 Rz. 39 und 41; Lüdke, in: HK-SGG, § 39 Rz. 5; verneinend Zeihe, SGG, § 39 Rz. 3c). Da § 73 Abs. 4 hinsichtlich der verschiedenen Verfahren (Revisionen, Beschwerden, erstinstanzliche Zuständigkeit) nicht differenziert und lediglich Prozesskostenhilfeverfahren ausnimmt, sondern allgemein einen Vertretungszwang anordnet, ist dies auch bei einer erstinstanzlichen Zuständigkeit anzunehmen. Dies widerspricht auch nicht dem Sinn und Zweck des Vertretungszwangs. Gerade in den Fällen, in denen den Beteiligten nur eine Instanz zur Verfügung steht, ist eine Vertretung durch Rechtskundige geboten. §§ 170a und 171 Abs. 1 sind ebenfalls anwendbar.

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