4.4.1 Vorbemerkung

 

Rz. 18

Durch das Gesetz v. 30.7.1974 (BGBl. I S. 1625) hat der Gesetzgeber das Revisionsrecht nachhaltig mit Wirkung vom 1.1.1975 geändert. Das zuvor geltende Recht sah die Grundsatz- und Divergenzrevision vor, sofern vom LSG zugelassen, sowie die Verfahrensrevision ohne Zulassung. Das Institut der Nichtzulassungsbeschwerde existierte insoweit noch nicht. Durch die Gesetzesänderung ist die Verfahrensrevision eingeschränkt worden, um der beträchtlichen Belastung des BSG mit Verfahrensrevisionen zu begegnen und dadurch eine verstärkte und schnellere Rechtsprechung des Revisionsgerichts im materiell-rechtlichen Bereich zu ermöglichen. Es sollte der vorrangigen Aufgabe des BSG, Fragen des Sozialrechts von grundsätzlicher Bedeutung zu klären und die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung zu sichern, mehr Raum als bisher gegeben werden (vgl. BT-Drs. 7/2024 S. 3). Unter diesem Blickwinkel durfte der Gesetzgeber das BSG als Revisionsgericht durch entsprechende Regelungen entlasten (vgl. BVerfG, Beschluss v. 19.2.1992, 1 BvR 1935/91; vgl. BVerfG, Urteil v. 8.12.1965, 1 BvR 662/65).

Sinn und Zweck der Verfahrensrevision ist es, dem BSG die Möglichkeit einzuräumen, auf eine rechtmäßige Anwendung des Verfahrensrechts hinzuwirken und damit im Ergebnis sicherzustellen, dass den Gesichtspunkten der Gerechtigkeit, der sachlichen Richtigkeit und der Rechtssicherheit im Einzelfall hinreichend Rechnung getragen wird (vgl. BSG, Beschluss v. 21.8.2007, B 3 P 18/07 B).

4.4.2 Verfahrensmangel

4.4.2.1 Allgemeines

 

Rz. 19

Die Verfahrensrevision setzt einen Verfahrensmangel, demnach einen Verstoß des LSG gegen das gerichtliche Verfahren regelnde bundesrechtliche Vorschriften, voraus. Die Verfahrensrevision betrifft das Vorgehen des Gerichts auf dem Weg zum Urteil, nicht hingegen dessen inhaltliche Richtigkeit. Dabei kommen nur Mängel in Betracht, die das gerichtliche Verfahren betreffen. Mängel des Verwaltungsverfahrens sind insoweit unerheblich, sofern sich der Mangel nicht auf das gerichtliche Verfahren unmittelbar auswirkt. Auch soweit Mängel des Verfahrens vor dem SG geltend gemacht werden, müssen diese sich auf das Verfahren vor dem LSG ausgewirkt haben.

Beispiele:

  • Verfahrensmangel "fehlende Urteilsgründe": § 551 Nr. 7 ZPO (i. V. m. § 202 S. 1 SGG) ist nicht erst dann verletzt, wenn überhaupt keine Gründe vorliegen, sondern auch dann, wenn einzelne geltend gemachte Ansprüche oder Angriffs- oder Verteidigungsmittel nicht behandelt worden sind (vgl. BGH, Urteil v. 21.12.1962, I ZB 27/62; BSG, NJW 1966 S. 566), sofern diese Mittel geeignet waren, den mit der Revision erstrebten Erfolg herbeizuführen (vgl. BSG, SozR 3-1200 § 14 SGB I Nr. 19).
  • Verwertet das Berufungsgericht ein Sachverständigengutachten, ohne über die substantiiert begründete Ablehnung des Sachverständigen zu entscheiden, so liegt darin ein Verfahrensmangel, der bei Entscheidungserheblichkeit der betroffenen Tatsachenfeststellung zur Zurückverweisung führt (vgl. BSG, Urteil v. 15.3.1995, 5 RJ 54/94; BSG, Beschluss v. 2.5.2001, B 2 U 29/00 R).
  • Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten Gelegenheit gegeben werden, sich zur Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung zu äußern. Ein erheblicher Grund für die Terminsverlegung eröffnet nicht nur die Möglichkeit, sondern begründet die Pflicht des Gerichts zur Terminsverlegung (vgl. BSG, Urteil v. 10.8.1995, 11 RAr 51/95; BSG, NJW 1992 S. 1190; BVerwG, NJW 1995 S. 1441).
  • Unterlässt das Gericht jegliche Ermittlungen über das anzuwendende ausländische Recht, liegt ein Verfahrensfehler vor, der zur Aufhebung der Entscheidung und Zurückverweisung an das Ausgangsgericht berechtigt (vgl. BGH, NJW 1995 S. 1032; vgl. auch OLG Saarbrücken, NJW 2002 S. 1209).
  • Sachurteil anstelle eines Prozessurteils (vgl. BSG, Beschluss v. 30.11.2006, B 9a VJ 7/05 B).
  • Die Entscheidung beruht auf einem Sachverständigengutachten, das nicht von dem bestellten Sachverständigen erstattet worden ist (vgl. BSG, Beschluss v. 18.9.2003, B 9 VU 2/03 B).
  • Nach ständiger Rechtsprechung des BSG kann ein anwaltlich vertretener Beteiligter nur dann mit der Rüge des Übergehens eines Beweisantrags nach § 160 Abs. 2 Nr. 3 HS 2 gehört werden, wenn er diesen bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung durch entsprechenden Hinweis zu Protokoll aufrechterhalten hat oder das Gericht den Beweisantrag in seinem Urteil wiedergibt (vgl. BSG, Beschluss v. 29.3.2007, B 9a VJ 5/06 B).
  • Wird ein Beweisantrag in einem vorbereitenden Schriftsatz gestellt, so ist er dann nicht i. S. v. § 160 Abs. 2 Nr. 3 HS 2 übergangen worden, wenn den näheren Umständen zu entnehmen ist, dass er bis zur Entscheidung des LSG nicht weiterverfolgt wurde. Dies ist bei rechtskundig vertretenen Beteiligten regelmäßig anzunehmen, wenn diese nach Erhalt einer Anhörungsmitteilung i. S. v. § 153 Abs. 4 Satz 2 einen zuvor gestellten Beweisantrag nicht mehr wiederholt haben. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist in einem solchen Fall grundsätzlich davon auszugehen, dass sich der Beweisantrag erledigt hat (vgl. BSG, Beschluss v. 18...

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