Rz. 32

Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 steht die Entscheidung, ob die Sache bei wesentlichen Mängeln des sozialgerichtlichen Verfahrens an das SG zurückverwiesen wird, im Ermessen des LSG. Ausweislich der gesetzgeberischen Konzeption soll die Zurückverweisung die Ausnahme sein. Bei der Ausübung des Ermessens kommt prozessökonomischen Gesichtspunkten eine erhebliche Bedeutung zu. Im Zweifel ist die Entscheidung, den Rechtsstreit selbst zu entscheiden, im Interesse einer zügigen Erledigung des Verfahrens vorzugswürdig. Da das Berufungsverfahren in vollem Umfang als zweite Tatsacheninstanz ausgestaltet ist, konnte es schon nach alter Rechtslage allenfalls in Ausnahmefällen sachgerecht sein, den Rechtsstreit wegen einer Verletzung des rechtlichen Gehörs im ersten Rechtszug an das SG zurückzuverweisen (vgl. BSG, Urteil v. 11.12.2002, B 6 KA 1/02 R, SozR 3-2500 § 106 Nr. 57; BGH, Urteil v. 16.12.2004, VII ZR 270/03, MDR 2005 S. 645; Urteil v. 10.3.2005, VII ZR 220/03, NJW-RR 2005 S. 928).

 

Rz. 33

Das Berufungsgericht muss abwägen, ob es zurückverweist oder trotz Vorliegens der Voraussetzungen des § 159 hiervon absieht. Die Interessenlage bei den Beteiligten ist zu berücksichtigen (LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 6.9.1993, L 11 V 828/93, Breithaupt, 1994 S. 254). Bei der Abwägung ist in Erwägung zu ziehen, dass eine Zurückverweisung der Sache zu einer erheblichen Verteuerung und Verzögerung des Rechtsstreits führt und dies in der Regel den schützenswerten Interessen der Parteien entgegensteht (vgl. BGH, Urteil v. 8.7.2004, VII ZR 231/03, NJW-RR 2004 S. 1537, 1538). Die Aufhebung und Zurückverweisung wegen einer noch durchzuführenden Beweisaufnahme ist deshalb auf Ausnahmefälle zu beschränken, in denen die Durchführung des Verfahrens in der Berufungsinstanz voraussichtlich zu größeren Nachteilen führt als die Zurückverweisung der Sache an das erstinstanzliche Gericht (BGH, Urteil v. 16.12. 2004, VII ZR 270/03, MDR 2005 S. 645).

 

Rz. 34

Je näher die Entscheidungsreife des Prozesses liegt, umso eher bietet sich eine eigene Sachentscheidung des Berufungsgerichts an (BGH, Urteil v. 15.3.2000, VIII ZR 31/99, NJW 2000 S. 2024). Hat das Berufungsgericht die Beweisaufnahme abgeschlossen, dürfte eine Zurückverweisung grundsätzlich ermessensfehlerhaft sein. Hat das LSG die Beweisaufnahme begonnen, steht dies einer Zurückverweisung grundsätzlich nicht entgegen. Zwar scheint eine Zurückverweisung dann nicht folgerichtig zu sein (Zeihe, SGG, § 159 Rn. 2b). Abzustellen ist aber weniger auf diesen Gesichtspunkt als auf den Zeitfaktor und die Intensität der Beweisaufnahme. Befindet sich die Beweisaufnahme im Stadium der Einholung von Befundberichten und ist die Berufung erst seit relativ kurzer Zeit anhängig, schließt dies eine Zurückverweisung nicht aus. Anders dürfte wieder zu entscheiden sein, wenn bereits Sachverständigengutachten eingeholt worden sind. Im Übrigen wird eine Zurückverweisung i. d. R. nicht in Betracht kommen, wenn das Verfahren bereits geraume Zeit in der Berufungsinstanz anhängig ist (LSG NRW, Urteil v. 30.7.2007, L 20 SO 15/06, FamRZ 2007 S. 2015).

 

Rz. 35

Ein übereinstimmender Zurückverweisungsantrag beider Parteien legt eine dementsprechende Ermessensausübung nahe (Zöller/Heßler, ZPO, § 538 Rn 7). Dabei kann ein entsprechendes Interesse bereits durch einen vorrangig gestellten Sachantrag sowie einen hilfsweise gestellten Zurückverweisungsantrag belegt sein (LSG NRW, Urteil v. 28.11.2007, L 10 VG 13/06). Soweit dem entgegengehalten wird, durch die gewählte Hierarchie werde umgekehrt gerade das Interesse an einer Sachentscheidung zum Ausdruck gebracht (Meßling, in: Hennig, SGG, § 159 Rn. 37), greift dies zu kurz. Dieser Ansatz verkennt, dass jeder der Verfahrensbeteiligten zuvörderst und immer im Umfang des Sachantrags obsiegen will. Hat mithin das SG eine aufwändige Beweiserhebung unterlassen und gleichwohl dem Kläger antragsgemäß zugesprochen, wird der Kläger im Berufungsverfahren (immer) das vorrangige Interesse haben, dass das LSG die Berufung des Beklagten in der Sache zurückweist. Dies schließt allerdings keineswegs aus, dass er die Fehler des erstinstanzlichen Verfahrens erkennt und eine Zurückverweisung akzeptiert.

 

Rz. 36

Ermessensgesichtspunkte sind u. a.:

  • Interessen der Beteiligten an einer Sachentscheidung,
  • der Grundsatz der Prozessökonomie,
  • der Verlust einer Instanz,
  • der Zeitfaktor,
  • die rechtliche Wertigkeit des Verfahrensfehlers (OVG Niedersachsen, Urteil v. 1.4.2008, 4 LB 69/08),
  • Entscheidungsreife (vgl. BVerwG, Beschluss v. 22.11.2007, 9 B 52/07, Buchholz 310 § 138 Ziff. 6 VwGO Nr. 42; vgl. auch OVG NRW, Beschluss v. 15.8.2007, 7 B 554/07),
  • durchgeführte Beweisaufnahme im Berufungsverfahren,
  • nicht abgeschlossene Beweiserhebung in erster Instanz in Parallelverfahren (vgl. LSG Saarland, Beschluss v. 10.1.2008, 3 B 488/07.NC, 3 B 488/0),
  • spezial- oder generalpräventive Aspekte (Kopp/Schenke, VwGO, § 132 Rn. 1 zur Revision: Erziehung der Gerichte),
  • willkürliche Verletzung der Sachaufklärungspflicht,
  • Kostengesichtspu...

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