Rz. 11

Ein Verstoß gegen § 123 ist nach der Rechtsprechung des BSG – auch wenn er das Verböserungsverbot betrifft – ein Verfahrensmangel i. S. d. § 160 Abs. 2 Nr. 3 (vgl. mit ausführlicher Begründung BSG, Beschluss v. 29.3.2001, B 7 AL 214/01; BSG, Beschluss v. 30.9.2002, B 11 AL 33/02 B; Beschluss v. 13.6.2013, B 7 AL 214/00 B; vgl. auch Bley, in: GK, § 123 Anm. 2b; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, § 123 Rz. 6). Die Gegenmeinung steht dagegen auf dem Standpunkt, eine Verletzung des Grundsatzes des Verbots der reformatio in peius bedeute keinen Verstoß gegen die das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozesshandlung betreffenden Vorschriften, sondern gegen das – das Verfahren selbst nicht berührende – materielle Prozessrecht (vgl. Rohwer-Kahlmann, SGG, § 123 Rz. 15). Im Revisionsverfahren ist dieser Verstoß von Amts wegen zu beachten (vgl. BSG, Urteil v. 27.5.2014, B 5 RE 6/14 R; Urteil v. 23.4.2015, B 5 RE 21/14 R; vgl. auch BVerwG, Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 3, 9, 14). Ein Verstoß gegen § 123 (ne ultra petita) wird nach der Rechtsprechung des BSG nicht dadurch geheilt, dass der Kläger im Berufungsverfahren sich den (antragsüberschreitenden) Urteilsausspruch zu eigen macht und sein Klagebegehren erweitert (vgl. BSG, Urteil v. 23.04.2015, B 5 RE 23/14 R unter Hinweis auf die abweichende Auffassung des BGH, BGHZ 111 S. 158 und BGHZ 124 S. 351; anders BVerwG, NVwZ 2017 S. 1142 im Falle einer erstinstanzlichen Verurteilung zur nicht beantragten Zinszahlung).

 

Rz. 12

Entscheidet das Gericht versehentlich nicht über einen erhobenen Anspruch, kommt die Urteilsergänzung (vgl. dazu ausführlich die Komm. zu § 140) in Betracht.

Klammert das Gericht einen Anspruch bewusst aus, etwa weil es ihn irrtümlich nur als Erläuterung und Teil der Begründung eines anderen Anspruchs, nicht aber als eigenständigen prozessualen Anspruch bewertet, und entscheidet es deshalb nicht materiell über ihn, handelt es verfahrensfehlerhaft (vgl. BSG, Beschluss v. 5.8.2000, B 14 KG 3/99 B). Der Verfahrensfehler kann unter Umständen die Revisionszulassung nach sich ziehen (vgl. BSG, Beschluss v. 2.4.2014, B 3 KR 3/14 B). Die Urteilsergänzung (§ 140) ist dagegen nach h. M. in diesen Fällen des bewussten, wenn auch rechtsirrtümlichen Übergehens eines Anspruchs nicht gegeben (vgl. BSGE 15 S. 232; BSG, Beschluss v. 2.4.2014, B 3 KR 3/14 B; Wolff-Dellen, SGb 2015 S. 352; BVerwG, Buchholz 310 § 120 VwGO Nr. 7; a. A. Zeihe, § 123 Rz. 5h: § 140 lex specialis). Wenn das Gericht z. B. die von ihm angeregte, dem erkennbaren Klageziel aber nicht voll entsprechende Fassung des protokollierten Berufungsantrags als maßgeblich zugrunde gelegt und über das in dieser Weise eingeschränkte Begehren des (im entschiedenen Fall anwaltlich nicht vertretenen Klägers) in vollem Umfang entschieden hat, so liegt darin kein Übergehen eines gestellten Antrags (vgl. BVerwG, Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 25). Das Gericht hat vielmehr ein Vollurteil erlassen, das an einer Verletzung des § 123 leidet.

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