1 Allgemeines

1.1 Historie, Sinn und Zweck

 

Rz. 1

§ 102 ist durch das SGGArbGÄndG v. 26.3.2008 (BGBl. I S. 444) mit Wirkung zum 1.4.2008 neu gefasst worden. Die vorherigen Sätze 1 und 2 sind in Abs. 1 übernommen worden; der vorherige Satz 3 ist in Abs. 3 Satz 1 aufgenommen worden. In Abs. 2 wurde eine Fiktion der Klagerücknahme in bestimmten Fällen eingeführt, was eine Entlastung der Sozialgerichtsbarkeit durch Straffung des Verfahrens herbeiführen sollte. Die Regelung lehnt an § 92 Abs. 2 VwGO an, ist aber wegen der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens mit einer 3-Monats-Frist versehen worden, um der besonderen Situation der Mehrzahl der Kläger Rechnung zu tragen (vgl. BT-Drs. 16/7716 Begründung Teil B Art. 1 zu Nr. 17). Es sollte berücksichtigt werden, dass vorwiegend bedürftige oder kranke Menschen als Kläger auftreten und unter Umständen eine längere Zeit zur Entscheidungsfindung benötigen. § 92 Abs. 2 VwGO sieht eine 2-Monats-Frist vor. Damit konnte zugleich der erstrebten weitestmöglichen Angleichung der Prozessordnungen Rechnung getragen werden; es finden sich aber immer noch nicht unwesentliche Abweichungen (vgl. auch Rn. 2). Absatz 2 Satz 1 unterstellt bei Vorliegen gewisser Anhaltspunkte einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers. Als Ausnahmevorschrift ist die Regelung eng auszulegen. Nach der bereits umfangreich vorhandenen verwaltungs- und verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu den vergleichbaren Regelungen der § 92 Abs. 2 VwGO und § 81 AsylVfG ist die Regelung verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. nur BVerfG, Beschluss v. 19.5.1993, 2 BvR 1972/92, NVwZ 1994 S. 62; BVerwG, Beschluss v. 12.4.2001, 8 B 2/01, NVwZ 2001 S. 918), aber eng auszulegen und anzuwenden (siehe Rn. 13).

Auf Empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales v. 20.2.2008 ist § 102 auch hinsichtlich des Rechtsfolgenhinweises in Abs. 2 an § 92 Abs. 2 VwGO angepasst worden (BT-Drs. 16/8217 S. 4). Dies ist wichtig für die sog. nicht-privilegierten, d. h. kostenpflichtigen Verfahren nach § 197a, in denen seit Inkrafttreten des 6. SGGÄndG dem Kläger im Falle einer Rücknahme nach § 197a Abs. 1 SGG i. V. m. § 155 Abs. 2 VwGO die Kosten aufzuerlegen sind. Die vorherigen Gesetzesentwürfe sahen einen Hinweis auf diese Kostenfolge noch nicht vor (vgl. BT-Drs. 16/7716 v. 11.1.2008).

Die Regelung des § 102 Abs. 2 gilt für alle Klage- und selbständigen Antragsverfahren, insbesondere auch für einstweilige Verfahren (vgl. hierzu LSG Thüringen, Beschluss v. 19.9.2016, L 6 KR 896/16 B). Für die Berufungsinstanz besteht eine eigene Regelung in § 156 Abs. 2, die über § 165 auch für das Revisionsverfahren gilt.

 

Rz. 2

Der bisherige § 102 Satz 1, jetzt Abs. 1 Satz 1, war bereits durch das 6. SGGÄndG v.17.8.2001 (BGBl. I S. 2144, 2149) mit Wirkung zum 2.1.2002 geändert worden. Nach dem seitdem ausdrücklichen Wortlaut der Regelung kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurückgenommen werden und damit auch noch in den höheren Instanzen (vgl. hierzu auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 18.11.2014, L 1 KR 552/14).

§ 102 weicht weiterhin von den entsprechenden Regelungen der anderen Verfahrensordnungen ab. Insbesondere fehlt weiterhin (bewusst) als Wirksamkeitsvoraussetzung eine Einwilligungspflicht des Beklagten (vgl. die Stellungnahme der Bundesregierung in Anl. 4 zur BT-Drs. 16/7716).

1.2 Abgrenzung zu anderen Erklärungen

 

Rz. 3

Die Einräumung der Möglichkeit zur Rücknahme der Klage hängt mit der im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Dispositionsmaxime zusammen. Es steht den Beteiligten frei, ob sie gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen möchten. Die Gerichte werden nicht von Amts wegen tätig. Der ebenfalls durch das 6. SGGÄndG aufgehobene § 53 sah ausdrücklich vor, dass Rechtsschutz auf Klage gewährt wird. Dementsprechend steht es den Beteiligten auch frei, das Verfahren vor Urteilsverkündung anderweitig zu beenden. Das SGG sieht verschiedene Möglichkeiten zur Beendigung des Verfahrens ohne Urteil vor (§ 101 Abs. 1 und 2, § 102). Darüber hinaus kommt noch eine beidseitige Erledigungserklärung in Betracht (§ 202 SGG i. V. m. § 91a ZPO). Für gerichtskostenpflichtige Verfahren nach § 197a ergibt sich das Institut der übereinstimmenden Erledigungserklärung jedenfalls über die Regelungen des § 197a Abs. 1 Satz 1 HS 3 SGG i. V. m. § 161 Abs. 2 VwGO (LSG Berlin, Beschluss v. 28.4.2004, L 6 B 44/03 AL ER, SGb 2005 S. 55). Eine Abgrenzung zwischen der einseitigen Erledigungserklärung und der Rücknahmeerklärung ist im Gegensatz zum Zivilprozess in den kostenprivilegierten Verfahren nach § 183 rechtlich unerheblich. Die Erledigterklärung kann daher zumindest in diesen Verfahren regelmäßig als Rücknahmeerklärung i. S. d. § 102 ausgelegt werden. Das gilt nach dem Beschluss des 7. Senats des BSG v. 29.12.2005, B 7a AL 102/05 B, ausdrücklich auch noch nach Inkrafttreten des 6. SGGÄndG am 2.1.2002. Anders sehe es dagegen bei kostenpflichtigen Verfahren nach § 197a aus, weil sich eine einseitige Erledigungserklärung in diesen Verfahren gemäß § 197a Abs. 1 Satz 1 HS 3 SGG i. V. m. § 155 Abs. 2 VwGO anders...

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