Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. Versorgung mit intravenös applizierbaren Immunglobulinen bei CIDP. Kostenerstattungsanspruch. objektiv rechtswidrige Leistungsablehnung durch die Krankenkasse. keine Berufung auf ärztlichen Diagnosefehler

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zum Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 SGB V bei objektiv rechtswidriger Leistungsablehnung durch die Krankenkasse.

2. Eine Krankenkasse kann sich im System der gesetzlichen Krankenversicherung, in welchem den Versicherten Sachleistungen durch ein von den Krankenkassen verantwortetes System zugelassener Vertragsärzte und Krankenhäuser zur Verfügung gestellt werden, nicht auf Diagnosefehler der in diesem System agierenden Ärzte und Krankenhäuser berufen, um den Anspruch des Versicherten auf Erbringung der ihm objektiv zustehenden Sachleistungen bzw bei deren unrechtmäßiger Ablehnung von daraus folgenden Sekundäransprüchen auf Kostenerstattung abzulehnen.

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 16. August 2018 sowie der Bescheid vom 22. Oktober 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. März 2015 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Kosten für die selbstbeschafften intravenös applizierten Immunglobuline in Höhe von 34.773,35 € zu erstatten.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Kosten für selbstbeschaffte intravenös applizierte Immunglobuline.

Der 1964 geborene Kläger war im streitgegenständlichen Zeitraum bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Seit 2009 machten sich bei dem Kläger zunehmende multimodale Sensibilitätsstörungen der unteren Extremitäten bemerkbar. Zur Abklärung unterzog sich der Kläger ab März 2014 einer Behandlung im Universitätsklinikum Würzburg - Neurologische Klinik und Poliklinik. In einem Arztbrief vom 29. September 2014 stellte das Universitätsklinikum die Diagnose „seit 2010 progrediente multimodale Sensibilitätsstörung der unteren Extremitäten rechts ≫ links unklarer Genese, DD Ganglionitis“. Aufgrund des Krankheits- und Behandlungsverlaufs sah das Klinikum Würzburg die Behandlung mittels Immunglobulinen im Rahmen eines „Off-label-use“ (Einsatz von Medikamenten außerhalb des arzneimittelrechtlich zugelassenen Anwendungsbereichs) als indiziert an.

Unter Bezugnahme u.a. auf diesen Bericht beantragte der Kläger am 29. September 2014 bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für diese Therapie. Die Beklagte veranlasste hierzu eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Hessen. Über die Einschaltung des MDK unterrichtete die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 2. Oktober 2014. In seiner Stellungnahme vom 9. Oktober 2014 teilte der MDK mit, dass intravenös applizierbare Immunglobuline (IVIG)-Präparate zur Behandlung bei Verdacht auf Ganglionitis nicht zugelassen seien. Es läge weder eine regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung noch eine wertungsmäßig gleichgestellte Krankheit vor. Die Voraussetzungen für einen Off-label-use seien nicht erfüllt.

Am 14. Oktober 2014 informierte die Beklagte den Kläger zunächst fernmündlich über das Ergebnis der MDK-Beurteilung und erklärte, dass eine Kostenübernahmeerklärung nicht abgegeben werden könne. Nach einer weiteren negativen Bewertung des MDK vom 20. Oktober 2014 lehnte die Beklagte sodann mit Bescheid vom 22. Oktober 2014 den Antrag des Klägers unter Bezugnahme auf die Bewertungen des MDK ab. Der Kläger erhob am 25. Oktober 2014 Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 2. März 2015 zurückwies.

Der Kläger hat am 9. März 2015 Klage beim Sozialgericht Fulda erhoben. Im Zeitraum Mai 2015 bis einschließlich März 2016 sind dem Kläger seitens des Universitätsklinikums Würzburg insgesamt sechs Behandlungszyklen IVIG (Gamunex®) verabreicht worden; fünf der Zyklen beschaffte sich der Kläger ab Juli 2015 auf eigene Kosten selbst.

Das Sozialgericht hat ärztliche Unterlagen angefordert und ein neurologisches Sachverständigengutachten nach körperlicher Untersuchung des Klägers bei dem Sachverständigen Prof. Dr. D. eingeholt. Im Gutachten vom Dezember 2015 kommt der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass der Kläger mit höchster Wahrscheinlichkeit an einer Autoimmun-Ganglionitis leide. Ein Einsatz von IVIG im Rahmen eines Off-label-use sei angesichts des schweren Krankheitsbildes des Klägers und fehlenden Behandlungsalternativen zu befürworten.

Nachdem sich der Gesundheitszustand infolge der verabreichten Zyklen von IVIG zunächst stabilisiert und erheblich verbessert hatte, kam es bei dem Kläger im Herbst 2016 nach einer Therapiepause zu einer Verschlechterung der Gehfähigkeit. Ab Oktober 2016 erfolgten deshalb stationäre Behandlungen des Klägers im Universitätsklinikum Würzburg, aufgrund derer das Universitätsklinikum (u.a. mit Berichten vom 6. Dezember 2016 und 8. Juni 2016) über eine erneute Besserung des...

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