Entscheidungsstichwort (Thema)

Eingliederungshilfe von Menschen mit Behinderungen. Gebärdensprachkurs für ein Kleinkind in einer Kindertagesstätte. Inklusion. Förderung der sozialen Teilhabe über den Familienkreis hinaus. sozialgerichtliches Verfahren. einstweilige Anordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Frage der Geeignetheit und Erforderlichkeit eines (Haus)Gebärdensprachkurses für ein 4-jähriges Kind.

 

Orientierungssatz

1. Eingliederungshilfe bedeutet die Ermöglichung oder Erleichterung der Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft, eine Förderung von Kontakten auch und gerade zu nicht behinderten Menschen und zwar nicht nur zu nahestehenden Personen wie Familienangehörigen, sondern darüber hinaus zu allen Personen, die auf Grund gemeinsamer Interessen und Bedürfnisse dem behinderten Menschen helfen können, das Gefühl menschlicher Isolierung zu überwinden (vgl LSG Erfurt vom 23.5.2012 - L 8 SO 640/09).

2. Zum Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund für eine einstweilige Anordnung.

 

Normenkette

SGB IX §§ 76, 82 Abs. 1, § 99 Abs. 1, § 104 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Sätze 1, 2 Nrn. 1-2, Abs. 3 Sätze 1-2, 5, § 113 Abs. 1, 2 Nrn. 2, 6, § 123 Abs. 6; SGB XII § 53 Abs. 1; EinglHV § 1 Nr. 6; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2 Sätze 2, 4; ZPO § 920 Abs. 2

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 15. Oktober 2021 aufgehoben.

Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch für 6 Monate einen (Haus)Gebärdensprachkurs bei einem Dozenten für Deutsche Gebärdensprache im Umfang von 4 Förderstunden pro Woche zu gewähren.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antrags- und Beschwerdeverfahren zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten um die Übernahme der Kosten für einen (Haus)Gebärdensprachkurs.

Die 2017 geborene Antragstellerin leidet unter einer Sprachentwicklungsstörung i.S. einer verbalen Entwicklungsdyspraxie (Entwicklungsstörung des kindlichen Sprechens - mangelhafte Aussprache -), die nicht mit einer sprachrelevanten Hörstörung verbunden ist und verfügt seit Februar 2021 über den Pflegegrad 3 (Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung - MDK - vom 16. März 2021). Die Antragstellerin besucht seit dem 1. August 2020 die Kindertagesstätte E-Stadt. Mit Bescheid vom 5. Mai 2021 bewilligte die Antragsgegnerin der Antragstellerin für die Zeit vom 1. Juni 2021 bis 31. Juli 2022 einen Zuschuss für die Integration in der Kindertagesstätte - Integrationskraft - (pro Kindergartenjahr maximal 15 Stunden/Woche).

Die Antragstellerin beantragte, vertreten durch ihre Eltern, bei der Antragsgegnerin am 26. Februar 2021 die Gewährung eines (Haus)Gebärdensprachkurses im Umfang von 6 Stunden pro Woche. Zur Begründung führten die Eltern der Antragstellerin aus, dass diese krankheitsbedingt ihre Zunge nicht intuitiv nach links, rechts oder nach oben bewegen könne. Da diese Bewegungen für die Lautsprache elementar seien, könne die Antragstellerin mit ihren knapp 4 Jahren nur wenige Wörter verständlich aussprechen. Es sei nicht davon auszugehen, dass die Antragstellerin trotz Ergotherapie und Logopädie demnächst oder in absehbarer Zeit in der Lage sein werde, die Lautsprache zu sprechen. Daher sei insbesondere vom Sozialpädiatrischen Zentrum des Klinikums Kassel zum Erlernen der Gebärdensprache geraten worden, um mit der Antragstellerin kommunizieren zu können. Zur Bestätigung ihres Vorbringens legten die Eltern der Antragstellerin Arztbriefe aus der Universitätsmedizin Göttingen, Prof. Dr. F. und Dr. G., vom 4. Februar 2021, aus der Neuropädiatrie mit Sozialpädiatrischem Zentrum des Klinikums Kassel, Prof. Dr. H. und Dr. N., vom 15. Januar 2021, von Dr. N., Hals-Nasen-Ohrenarzt, Facharzt für Phoniatrie und Pädaudiologie, vom 17. Dezember 2020 und Unterlagen aus der Praxis für Ergotherapie, Frau J., vom 5. Februar 2021 nebst logopädischen Berichten über die Antragstellerin aus der Logopädischen Praxis/Stimmzentrum K-Stadt vom 5. Februar 2021 und vom 22. Dezember 2020 und ärztliche Atteste von Dr. L., Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Pädiatrische Pneumologie, Allergologie, vom 22. März 2021 und von Prof. Dr. H. vom 15. März 2021 vor. Ergänzend zog die Antragsgegnerin Unterlagen vom Jugendamt Kassel (Vorlage zur kollegialen Entscheidung über den Antrag auf Einleitung eines Hausgebärdensprachkurses für die Eltern mit 6 Stunden pro Woche, vorbehaltlich des Gebärdensprachkurses für die Antragstellerin über das Sozialamt) vom 18. März 2021 bei. Sodann veranlasste die Antragsgegnerin ein amtsärztliches Gutachten bei der Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Frau M. Diese kam nach einer Untersuchung der Antragstellerin am 22. April 2021 im Rahmen ihres Gutachtens vom 29. April 2021 zu dem Ergebnis, dass aus amtsärztlicher Sicht die b...

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