Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz beim Weg von einem dritten Ort

 

Leitsatz (amtlich)

Bei der Rückkehr von einer privaten Zwecken dienenden Fahrt, welche zum Ort der Tätigkeit führt, beginnt der Versicherungsschutz jedenfalls mit dem Erreichen der vor Beginn der Tätigkeit üblicherweise benutzten Wegstrecke.

 

Leitsatz (redaktionell)

Zum unfallversicherungsrechtlich geschützten Arbeitsweg gehört bei einem sonst nicht üblichen Umweg jedenfalls der Streckenabschnitt des Arbeitsweges, der auch durchfahren werden müßte, wenn der Versicherte am Unfalltage seine Arbeitsstätte von seiner Wohnung aus aufgesucht hätte.

 

Orientierungssatz

Soweit die Entscheidung vom 1968-08-28 2 RU 118/66 = BG 1969, 195 den Unfallversicherungsschutz für den Fall betrifft, daß der Verletzte bei seinem Weg vom dritten Ort seinen üblichen Arbeitsweg am Unfallort schon erreicht hatte, hält der Senat an ihr nicht fest.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 23.06.1982; Aktenzeichen L 3 U 174/81)

SG Speyer (Entscheidung vom 23.06.1981; Aktenzeichen S 2 U 184/80)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob bei dem Unfall des Klägers am 5. März 1980 Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung gegeben war. Sozialgericht -SG- (Urteil vom 23. Juni 1981) und Landessozialgericht -LSG- (Urteil vom 23. Juni 1982) haben dies angenommen.

Der Kläger bewohnte 13 km von seiner Arbeitsstätte entfernt ein möbliertes Zimmer. In diesem Ortsteil hatte er Freunde und Bekannte. Rund 40 km vom Arbeitsplatz entfernt wohnte seine damalige Freundin. Etwa drei- bis viermal wöchentlich besuchte er sie und fuhr von deren Wohnung aus entweder direkt zur Arbeit oder des Nachts nach seinem eigenen Zimmer. Ansonsten hatte er keine Bindungen zu dem Wohnort seiner Freundin.

Am Unfalltag fuhr der Kläger direkt von der Wohnung der Freundin zum Schichtbeginn um 14.00 Uhr. Der Unfall ereignete sich, nachdem der Kläger seine übliche Fahrstrecke von seinem Zimmer zur Arbeitsstätte bereits erreicht hatte.

Die Beklagte lehnte durch ihren Bescheid vom 26. Juni 1980 die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung ab, der Kläger habe keinen Wegeunfall iS des § 550 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) erlitten, weil er die Fahrt zur Arbeit von einem wesentlich weiter als von seiner Wohnung entfernten Ort aus privatem Anlaß angetreten habe. Der Versicherungsschutz für diesen Weg könne nur einheitlich bejaht oder verneint werden. Daher sei es unerheblich, auf welchem Teilstück sich der Unfall ereignet habe.

Das SG hat diesen Bescheid aufgehoben und die Beklagte zur Gewährung von Entschädigung für die Folgen des Unfalles verurteilt. Der Kläger habe seinen Lebensmittelpunkt bei seiner Freundin gehabt; sein eigenes Zimmer sei für ihn nur eine Unterkunft gewesen. Daher habe Versicherungsschutz nach § 550 Abs 3 RVO bestanden. Der Kläger sei aber auch gem § 550 Abs 1 RVO geschützt gewesen, weil er auf dem Teilstück, das er auch von seinem Zimmer aus hätte benutzen müssen, verunglückt sei.

Das LSG hat angenommen, daß der Kläger seinen Lebensmittelpunkt zwar nicht am Wohnort seiner Freundin gehabt, jedoch deshalb einen versicherungsrechtlich geschützten Unfall erlitten habe, weil er sich bereits auf demselben Weg befunden habe, den er etwa zur selben Zeit auch von seinem Zimmer aus benutzt hätte. Auf diesem Teilstück sei das Unfallrisiko nicht aus eigenwirtschaftlichen Gründen erhöht gewesen. Es gehe nicht an, den Kläger hier schlechter zu stellen als im Falle eines nur kurzen Zwischenaufenthalts in seinem Zimmer. Das LSG hat die Revision zugelassen, weil es von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) abgewichen sei.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Nach ihrer Überzeugung widerspricht das Urteil des LSG der Rechtsprechung des BSG (insbesondere Urteil vom 28. August 1968 - 2 RU 118/66 -, BG 1969, 195). Der Weg von der Freundin zur Arbeitsstätte sei einheitlich zu bewerten. Da er sich von dem gewöhnlichen Weg bezüglich seiner Länge und der Fahrtdauer erheblich unterschieden habe und dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen gewesen sei, habe im Unfallzeitpunkt kein Versicherungsschutz bestanden. Das LSG habe die notwendigen Feststellungen bezüglich der beiden Wegstrecken unter Verletzung der ihm obliegenden Sachaufklärungspflicht (§ 103 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) unterlassen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 23. Juni 1981 und das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 23. Juni 1982 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Nach seiner Überzeugung hat er den Weg von der Wohnung seiner Freundin, also einem dritten Ort aus, angetreten, ohne daß dieser erheblich länger als der Weg von seinem eigenen Zimmer aus gewesen ist. Der Aufenthalt habe seiner Erholung, und damit auch seiner Arbeitgeberin, gedient.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Der erkennende Senat ist mit dem LSG der Auffassung, daß der Kläger am 5.’März 1980 einen Arbeitsunfall erlitten hat, weil er sich bei Eintritt des Unfalls bereits auf seinem üblichen Weg zur Arbeitsstätte befand.

Nach § 550 Abs 1 RVO gilt ein auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg erlittener Unfall als Arbeitsunfall. Das LSG und die Beteiligten gehen zutreffend davon aus, daß der Gesetzgeber nach dieser Vorschrift den Versicherungsschutz für die Wege nach und von der Arbeitsstätte nicht auf die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte beschränkt, sondern es lediglich darauf abgestellt hat, daß die Arbeitsstätte Ziel oder Ausgangspunkt des Weges ist (s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, S 485o ff mit umfangreichen Nachweisen). Allerdings hat der Gesetzgeber, wie sich aus dem Wortlaut der Norm bereits ergibt, nicht schlechthin jeden Weg unter Versicherungsschutz gestellt, der zur Arbeitsstätte hinführt oder von ihr aus begonnen wird. Nach § 550 Abs 1 RVO ist vielmehr darüber hinaus erforderlich, daß der Weg mit der Tätigkeit in dem Unternehmen zusammenhängt, dh mit ihr in einem rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang steht. Dazu genügt nicht, daß der Weg in nahem zeitlichen Zusammenhang mit dem Arbeitsbeginn oder dem Ende der Arbeit zurückgelegt wird oder daß er direkt zur Arbeitsstätte oder von ihr weg führt. Die ursächliche Verknüpfung mit der versicherten Tätigkeit muß vielmehr rechtlich wesentlich sein (vgl zB BSGE 1, 171, 172; 8, 53ff; 22, 60ff; 32, 38ff; BG 1967, 115; 1969, 195; BSG Urteile vom 11. Oktober 1973 - 2 RU 1/73 -, 8. September 1977 - 2 RU 121/75 -, 19. Oktober 1982 - 2 RU 7/81 - und - 2 RU 67/81 -; LSG Niedersachsen, Breithaupt 1960, 1066 und 1967, 293; LSG Hamburg, BG 1958, 42; SG Reutlingen, Breithaupt 1971, 556; Brackmann aaO S 486c Benz, BG 1977, 32 mwN).

Die Beteiligten und das LSG gehen angesichts der getroffenen Feststellungen zutreffend und übereinstimmend davon aus, daß der Kläger seinen Lebensmittelpunkt nicht bei seiner Freundin hatte. Die festgestellten Lebensverhältnisse des Klägers gestatten es ferner nicht, von zwei getrennten Bereichen seines häuslichen Wirkungskreises auszugehen und anzunehmen, daß der Weg von beiden Lebensbereichen aus zur Arbeitsstätte im Einzelfall als Weg iS von § 550 Abs 1 RVO anzusehen ist; denn der Kläger besaß in dem von ihm gemieteten Zimmer einen für alle Lebensäußerungen bestimmten und ausreichenden Lebensbereich (vgl BSGE 19, 257, 258). Unter diesen Umständen hat das LSG richtig angenommen, daß der Kläger die Fahrt zur Arbeitsstätte am 5. März 1980 von einem sog dritten Ort aus unternommen hat, so daß die dargelegten Auslegungsgrundsätze des § 550 Abs 1 RVO anzuwenden sind.

Der Besuch des Klägers bei seiner Freundin stand unabhängig von der größeren Entfernung (s BSG Urteile vom 19. Oktober 1982 aaO) in keinem ursächlichen Zusammenhang mit seiner betrieblichen Tätigkeit, sondern gehörte zu seinem persönlichen und privaten Lebensbereich. Hieraus ergibt sich, daß auch der Weg von der Wohnung der Freundin grundsätzlich dem privaten Lebensbereich zuzurechnen war (BSGE 1, 171, 173; 8, 53, 55; 22, 60, 63; Brackmann aaO S 485s). Dies entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des BSG (s BSGE 4, 219, 222; Brackmann aaO S 486m und t - jeweils mit weiteren Nachweisen), die während privaten Zwecken dienenden Unterbrechungen und Umwegen Versicherungsschutz verneint, und zwar auch noch auf den Wegstrecken, die - bei Unterbrechungen - wieder zurück zum Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit bzw - bei Umwegen - wieder in Richtung dieses Weges führen. Das BSG nimmt jedoch Versicherungsschutz nach einem Umweg oder einer Unterbrechung wieder an, sobald der Teil des Weges erreicht ist, der den Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit bildet (s ua BSGE 20, 219, 221; BSG SozR Nr 5 zu § 543 RVO aF; Brackmann aaO). Das BSG hat den Versicherungsschutz sogar bejaht (BSG SozR Nr 27 zu § 548 RVO), sobald der Versicherte einen Teil des Weges erreicht hat, den er sonst zwar nicht üblicherweise nimmt, der aber ebenfalls als Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit iS des § 550 Abs 1 RVO gilt. Ebenso wie bei privaten Zwecken dienenden Unterbrechungen oder Umwegen auf dem Wege nach dem Ort der Tätigkeit ist jedoch auch bei der Rückkehr von einer eigenwirtschaftlichen, privaten Zwecken dienenden Fahrt für den Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO auf dem Weg nach dem Ort der Tätigkeit zu unterscheiden, ob der Versicherte noch auf einer den privaten Zwecken dienenden Wegstrecke oder bereits auf einer Wegstrecke verunglückt, die zu dem Weg nach dem Ort der Tätigkeit gehört (LSG Niedersachsen aaO S 1067; SG Reutlingen aaO). Nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt hat der Kläger den Unfall erst auf einem Streckenabschnitt erlitten, den er auch durchfahren hätte, wenn er seine Arbeitsstätte auch am Unfalltage von seiner Wohnung aus aufgesucht hätte; er hatte seinen üblichen Arbeitsweg am Unfallort bereits erreicht. Aus diesen Gründen vermag der Senat insoweit an seiner Entscheidung vom 28. August 1968 (2 RU 118/66 - BG 1969, 195) nicht festzuhalten.

Entgegen der Annahme der Revision hat der 8. Senat des BSG SozR 2200 § 550 Nr 34) nicht ebenfalls im Sinne des Urteils vom 28. August 1968 (aaO) entschieden. Vielmehr war der beim 8. Senat des BSG zur Entscheidung gelangte Sachverhalt dadurch gekennzeichnet, daß der Versicherte zwar auf derselben Wegstrecke verunglückte, die er auf der Rückfahrt von der Familienwohnung benutzen mußte. Er befand sich jedoch nicht auf der Fahrt von der Familienwohnung zum Ort der Tätigkeit oder seiner Unterkunft iS des § 550 Abs 3 RVO, sondern wollte einen Ort erreichen, in dem er viele Tage vor der eigentlichen Rückfahrt zur Arbeit privaten Anliegen nachgehen wollte.

Die Revision war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Breith. 1984, 112

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