Orientierungssatz

Ständige Familienwohnung iS des RVO § 543 Abs 1 S 2 ist eine Wohnung, die für eine nicht unerhebliche Zeit den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten bildet. Diese Vorschrift ist auch anzuwenden, wenn die ursprünglich am Ort der Arbeitsstätte vorhandene Familienwohnung aus Gründen, die mit der versicherten Tätigkeit nicht im Zusammenhang stehen, nach auswärts verlegt und die Wohnung am Arbeitsort allein vom Versicherten nur noch als Schlafstelle benutzt wird.

 

Normenkette

RVO § 543 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 3. Oktober 1962 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger war seit dem 1. Oktober 1956 Versicherungsvertreter für die Deutsche Krankenversicherungs-AG. Filialdirektion Mannheim. Sein Betätigungsfeld erstreckte sich auf den Süden von Rheinland-Pfalz und den Norden von Baden-Württemberg mit dem Schwerpunkt um K., wo er seit dem 1. Juni 1957 mit seiner Familie wohnte. Aus seiner Ehe sind drei Kinder, geboren 1951, 1954 und 1958 hervorgegangen. Zwei Schwangerschaften seiner Ehefrau in den Jahren 1954 und 1955 wurden im Kreiskrankenhaus H. wegen gesundheitlicher Gefährdung der Ehefrau durch eine Niereninsuffizienz unterbrochen.

Am 19. Juli 1957 suchte die Ehefrau des Klägers den Chefarzt der geburtshilflich-gynäkologischen Abteilung des Städt. Krankenhauses K., Dr. K, zwecks Unterbrechung der bei ihr wiederum eingetretenen Schwangerschaft auf. Dr. K schaltete das Staatl. Gesundheitsamt K. ein. Auf dessen Ersuchen erstattete der Chefarzt der Inneren Abteilung des Städt. Krankenhauses K., Dr. v. C, nach stationärer Beobachtung der Ehefrau des Klägers vom 19. bis 26. Juli 1957 am 1. August 1957 ein Gutachten. Er konnte kein Nierenleiden mehr, sondern nur eine Schwangerschaft erbrechen feststellen. Das Gutachten ging am 3. August 1957 beim Staatl. Gesundheitsamt ein. Dieses verständigte die Ehefrau des Klägers fernmündlich dahin, daß der Unterbrechung der Schwangerschaft nicht zugestimmt werden könne.

Am 5. August 1957 begab sich der Kläger zu seiner Filialdirektion Mannheim. Diese händigte ihm Gelder aus, die er als Rückvergütung an im Raume K. wohnhafte Versicherte auszahlen sollte. Gegen 11.15 Uhr kehrte der Kläger in seine Wohnung in K. zurück. Hier fand er seine Ehefrau und eines seiner Kinder erkrankt vor. Die Ehefrau sah sich infolge Schwangerschaftsbeschwerden und Kreislaufstörungen außerstande, den Haushalt der Familie zu versorgen. Der Kläger faßte hierauf den Entschluß, seine Ehefrau und die beiden Kinder mit seinem Kleinwagen (Renault) zu seiner Schwiegermutter nach H. zu bringen. Diese war damals Alleineigentümerin eines Hauses, dessen Obergeschoß seinerzeit von der Familie ihres Sohnes bewohnt war. Um die ihr durch den Hausbau entstandenen wirtschaftlichen Verpflichtungen abdecken zu können, war sie als Putzfrau bei der Stadtverwaltung H. tätig.

Der Kläger kam mit seinem PKW am 5. August 1957 gegen 16 Uhr in H. an. Nach etwa einstündigem Aufenthalt trat er die Rückfahrt über die Autobahn Stuttgart-Karlsruhe an. Hier fuhr er - nachdem er noch nicht ganz die Hälfte der etwa 250 km langen Wegstrecke zurückgelegt hatte - gegen 19 Uhr auf einen vor ihm fahrenden Lastzug auf. Er erlitt erhebliche Schädelverletzungen, die einen mehrmonatigen Krankenhausaufenthalt mit Operation (plastische Deckung eines Knochendefekts) sowie weitere stationäre Behandlungen erforderten. Erstmals am 24. August 1959 nahm er - kurzfristig - die Arbeit wieder auf, und zwar als Hilfsarbeiter.

Die Ehefrau des Klägers befand sich vom 2. bis 11. September 1957 zur Beurteilung der Frage, ob eine Schwangerschaftsunterbrechung angezeigt sei, im Kreiskrankenhaus H. . Die Ärzte dieses Krankenhauses lehnten diese ab. Am 17. März 1958 wurde die Ehefrau des Klägers von einem Jungen entbunden.

Der Kläger meldete sich am 17. Dezember 1957, seine Ehefrau am 22. Januar 1958 polizeilich von K. nach H. ab. Die Möbel wurden am 19. Dezember 1957 bei einer Spedition eingelagert und am 20. Juni 1958 nach H. gebracht.

Die Beklagte verneinte mit Bescheid vom 3. April 1958 ihre Entschädigungspflicht, weil die Rückfahrt des Klägers von H. nach K. am 5. August 1957 mit seiner versicherten Tätigkeit nicht im Zusammenhang stehe; die Hinfahrt sei durchgeführt worden, um seine Familie zur Schwiegermutter zu bringen.

Das Sozialgericht (SG) Ulm hat die hierauf erhobene Klage durch Urteil vom 24. April 1959 abgewiesen. Es hat sich der Auffassung der Beklagten, daß Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (in der vor Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes - UVNG - geltenden Fassung - RVO aF) nicht bestanden habe, mit der Begründung angeschlossen, daß die Fahrt nach H. dem eigenwirtschaftlichen Bereich zuzurechnen sei und für die Rückfahrt nach dem Grundsatz der einheitlichen Beurteilung von Hin- und Rückfahrt nichts anderes gelten könne. Die Rückfahrt könne auch nicht als Fahrt von der Familienwohnung zur Arbeitsstätte und damit als nach § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF versichert angesehen werden, weil der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Klägers weiterhin K. gewesen sei; dieser sei im Unfallzeitpunkt nicht einmal vorübergehend nach H. verlegt gewesen, er könne dem Aufenthaltsort der Ehefrau nicht gleichgesetzt werden.

Auf Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg durch Urteil vom 3. Oktober 1962 die Entscheidung des SG sowie den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese dem Grunde nach verurteilt, den Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 5. August 1957 zu entschädigen.

Das Berufungsgericht hat in seinem Urteil im wesentlichen ausgeführt:

Durch die Aussagen der als Zeugen gehörten Ehefrau und der Schwiegermutter des Klägers sei erwiesen, daß diese ihrer Tochter anläßlich ihres letzten Besuches vor dem 5. August 1957 zugesichert habe, sie könne mit ihren Kindern für längere Zeit zu ihr kommen, wenn es ihr gesundheitlich schlecht gehe. Zu diesem Zeitpunkt sei die bei der Ehefrau des Klägers erneut eingetretene Schwangerschaft ärztlicherseits zwar noch nicht festgestellt gewesen, ihr Vorliegen sei aber vermutet worden. Aus einer nach den früheren Erfahrungen verständlichen Furcht vor erneuten ungünstigen gesundheitlichen Auswirkungen - anläßlich der Geburt ihres zweiten Kindes seien präeklamptische Zustände und eine lebensbedrohender Kollaps aufgetreten - und ihres damaligen durch das Gutachten des Dr. v. C erwiesenen herabgesetzten Kräfte- und Allgemeinzustandes mit täglich mehrfach sich wiederholenden Schwangerschaftserbrechen, Leibschmerzen, Schwarzwerden vor den Augen und Kopfschmerzen sei auch die Aussage der Ehefrau des Klägers glaubhaft, daß sie mit ihren Kindern bis zu ihrer Entbindung, möglicherweise noch länger, bei ihrer Mutter habe verbleiben wollen. Daß sich die Ehefrau des Klägers seinerzeit in einer schlechten gesundheitlichen Verfassung befunden habe, gehe auch daraus hervor, daß sie, nachdem sie die Nachricht vom Verkehrsunfall ihres Ehemannes erhalten habe, nicht die Kraft besessen habe, ihn im Krankenhaus P. zu betreuen; an ihrer Stelle habe sich ihre Mutter für eine Woche dorthin begeben. Zu dem Entschluß, zur Mutter zu fahren, mochten zwar auch Umstände beigetragen haben, die nicht dafür sprächen, daß die Ehefrau des Klägers dort eine längere Zeit habe zubringen wollen. Das eine ihrer Kinder sei damals an Masern und Mittelohrentzündung erkrankt; bei ihrem seinerzeit selbst pflegebedürftigen Zustand habe sich die Ehefrau des Klägers offenbar außerstande gesehen, die notwendige Pflege ihres Kindes zu übernehmen. Weiter habe zu dem Entschluß, die Mutter aufzusuchen, die Benachrichtigung des Staatl. Gesundheitsamtes K. beigetragen, daß eine erneute Schwangerschaftsunterbrechung nicht vorgenommen werden dürfe. Diese Umstände seien aber nicht der eigentliche Anlaß für die Fahrt nach H. gewesen, sondern hätten nur dazu beigetragen, den im Prinzip mit der Mutter bereits abgesprochenen dortigen Aufenthalt vorzuverlegen. Es liege zwar der Verdacht nahe, daß die Ehefrau des Klägers sich allein deshalb nach H. begeben habe, um im dortigen Krankenhaus eine abermalige Begutachtung zu erreichen, ob eine Schwangerschaftsunterbrechung vorgenommen werden solle. Dem stehe jedoch entgegen, daß der behandelnde Arzt der Ehefrau des Klägers, der ihre Krankenhauseinweisung veranlaßt habe, außer einem "im ganzen elenden Zustand" und "starkem Schwangerschaftserbrechen" keine krankhaften Untersuchungsbefunde erhoben habe, er vielmehr durch eine stationäre Untersuchung der Gefahr akuter "Störungen von seiten der Nieren" habe vorbeugen wollen. Es müsse ferner berücksichtigt werden, daß die Ehefrau des Klägers zu den Ärzten des Kreiskrankenhauses H. im Hinblick auf ihre früheren dortigen Behandlungen ein besonderes Vertrauen gehabt habe. Nach der Lebenserfahrung werde sich eine verheiratete Tochter. die mit ihrer Familie ohne nähere Angehörige erst kurze Zeit in einer ihr fremden Stadt wohne, bei befürchteten gesundheitlichen Schwierigkeiten und Rückschlägen zu ihrer Mutter hingezogen fühlen. Bei der Ehefrau des Klägers treffe dies jedenfalls angesichts ihrer besonders gelagerten Verhältnisse zu; die Entbindung ihres zweiten Kindes sowie die beiden Schwangerschaftsunterbrechungen seien am Wohnort der Mutter unter deren Obhut erfolgt.

Mit der Verbringung von Frau und Kindern zur Schwiegermutter am 5. August 1957 habe der Kläger den Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse nach H. verlegt; die Wohnung der Schwiegermutter sei damit zur Familienwohnung im Sinne von § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF geworden. Die Lebensinteressen eines verheirateten Versicherten mit Kindern würden vorwiegend durch die persönliche und wirtschaftliche Sorge für deren Wohlergehen bestimmt. Der Kläger habe seine Familie nur deshalb nach H. gebracht, um die Pflege seiner Ehefrau sicherzustellen und damit seinerseits uneingeschränkt seiner Berufstätigkeit nachgehen zu können. Bei normalem Verlauf der Dinge - ohne den Verkehrsunfall des Klägers - wäre es dessen Ehefrau auch möglich gewesen, noch einen Teil der ihr als Ehefrau zukommenden Betreuungsaufgaben wahrzunehmen; sie hätte, soweit es ihr gesundheitlicher Zustand erlaubt hätte, entweder selbst oder durch ihre Mutter die Kleidung und Wäsche ihres Mannes versorgen und ihm mit dem erforderlichen Rat zur Seite stehen können. Die Familienwohnung in H. sei auch, was das Gesetz erfordere, eine ständige gewesen, denn es sei vorgesehen gewesen, dort mehr als 8 Monate zu bleiben. Dem widerspreche nicht, daß der Kläger bei Antritt der Fahrt am 5. August 1957 nicht beabsichtigt gehabt habe, seine Wohnung in K. aufzugeben. Versicherungsschutz bestehe auch dann, wenn die ursprüngliche Familienwohnung nach auswärts verlegt werde; die Wohnung in K. sei dadurch zur Unterkunft des Klägers (§ 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF) geworden.

Die Verlegung der ständigen Familienwohnung im Sinne von § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF setze keinen Umzug voraus. Es sei daher ohne Belang, daß der Kläger am 5. August 1957 nicht die zu einer selbständigen Haushaltsführung seiner Familie erforderlichen Gegenstände, die er in seinem Kleinwagen gar nicht hätte unterbringen können, mit sich geführt habe. Es sei auch ohne rechtliche Bedeutung, daß der Kläger und seine Ehefrau sich erst später polizeilich abgemeldet hätten, zu einem Zeitpunkt nämlich, in dem sie ihren Wohnsitz in K. aufgegeben hätten. Am 5. August 1957 sei die Familienwohnung nicht für dauernd, wenn auch für eine erhebliche Zeit nach H. verlegt worden.

Versicherungsschutz sei auch zu bejahen, obwohl der Kläger auf der ersten Fahrt von der eben erst in H. begründeten Familienwohnung nach K. verunglückt sei. Der für § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF maßgebliche Gesichtspunkt der einheitlichen rechtlichen Beurteilung von Hin- und Rückfahrt bei Wegen von und zur Arbeitsstätte sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auf § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF nicht anwendbar.

Es seien endlich keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß der Verkehrsunfall des Klägers auf eine Fahruntüchtigkeit infolge unternehmensfremder Umstände als rechtlich allein wesentliche Ursache zurückzuführen sei. Der Fahrer des Lastzuges, auf den der Kläger aufgeprallt sei, habe diesen kurz vorher wegen einer beginnenden Gefällstrecke langsam abgebremst. Es sei nicht ausgeschlossen, daß der Kläger dies infolge Ablenkung zu spät beachtet habe. Nach der Aussage seiner Ehefrau habe er sich am Tage zuvor, einem Sonntag, im wesentlichen zu Hause aufgehalten. Dies lasse den Schluß, Ursache des Verkehrsunfalls sei eine unüberwindliche Übermüdung des Klägers gewesen, nicht zu.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat ihr Rechtsmittel im wesentlichen wie folgt begründet:

Die vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen tatsächlicher Art, aus denen es den rechtlichen Schluß gezogen habe, daß der Kläger am frühen Nachmittag des 5. August 1957 seine ständige Familienwohnung von K. nach H. verlegt habe, hätten das LSG bei sachentsprechender Würdigung dazu führen müssen, daß trotzdem der entscheidende Mittelpunkt des häuslichen Wirkungskreises des Klägers nach wie vor seine Wohnung in K. geblieben sei. Das LSG habe die Grenzen seiner richterlichen Überzeugungsbildung überschritten sowie gegen die Denkgesetze verstoßen. Die Verlegung des häuslichen Wirkungskreises sei ein Vorgang tatsächlicher Art. Das Berufungsgericht habe bei seiner Beweiswürdigung vornehmlich auf die Aussage der Schwiegermutter des Klägers abgestellt. Diese habe jedoch bekundet, daß Besuche ihrer Tochter mit Familie schon vor dem 5. August 1957 nichts außergewöhnliches gewesen seien. Der Besuch an diesem Tag sei für sie völlig unerwartet gewesen, sie sei nicht einmal zu Hause gewesen. Sie sei erst nach Hause gekommen, als der Kläger schon verunglückt gewesen sei. Ehefrau und Schwiegermutter hätten sich somit darüber, daß die Familie für einige Zeit in H. habe bleiben wollen, erst zu einem Zeitpunkt verständigen können, als der Kläger längst wieder abgefahren gewesen sei. Es sei daher äußerst zweifelhaft und unwahrscheinlich, daß der Kläger am 5. August 1957 um 11.15 Uhr "gewissermaßen ins Blaue hinein" plötzlich beschlossen habe, den Mittelpunkt seines häuslichen Wirkungskreises für längere Zeit aus K. weg zu verlegen. Die an diesem Tag nach H. angetretene Fahrt sei nichts anderes als ein bereits abgesprochener vorverlegter Besuch gewesen, dessen Dauer bei Antritt der Reise noch nicht voraussehbar gewesen sei. In diesem Zeitpunkt habe der Kläger eine Verlegung der ständigen Familienwohnung noch nicht ins Auge gefaßt, geschweige deren Durchführung begonnen gehabt. Aber selbst wenn im Zeitpunkt des Verkehrsunfalls des Klägers dessen ständige Familienwohnung bereits in H. gewesen sei, hätten für die Rückfahrt nach K. die eigenwirtschaftlichen Beweggründe des Klägers, seine Familie vorübergehend zur Schwiegermutter zu bringen, im Vordergrund gestanden und den mit der Rückfahrt zusätzlich verfolgten Zweck, in den betrieblichen Wirkungskreis zurückzukehren, gänzlich beiseite gedrängt.

Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die - durch Zulassung statthafte (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) - Revision ist nicht begründet.

Das Berufungsgericht hat zutreffend angenommen, daß der Kläger am Abend des 5. August 1957 auf der Fahrt von seiner "ständigen Familienwohnung" zur Arbeitsstätte verunglückt ist und rechtserhebliche Umstände sonstiger Art der Entschädigungspflicht der Beklagten nicht entgegenstehen.

Ständige Familienwohnung im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF ist nach der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts - RVA - (EuM 49, 140), der sich der erkennende Senat angeschlossen hat (BSG 1, 171, 173), eine Wohnung, die für eine nicht unerhebliche Zeit den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten bildet. Diese Vorschrift ist auch anzuwenden, wenn die ursprünglich am Ort der Arbeitsstätte vorhandene Familienwohnung aus Gründen, die mit der versicherten Tätigkeit nicht im Zusammenhang stehen, nach auswärts verlegt und die Wohnung am Arbeitsort allein vom Versicherten nur noch als Schlafstelle benutzt wird (BSG 2, 78, 80, 81).

Bei einem verheirateten Versicherten wird sich der Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse im allgemeinen an dem Ort befinden, an dem sich die Ehefrau nicht nur vorübergehend aufhält (Miesbach/Baumer, Die gesetzliche Unfallversicherung nach dem UVNG, 1964, Anm. 8 zu § 550 RVO; Vollmar, Sozialversicherung, 1956, 114, 115). Es kommt allerdings nicht allein auf die äußeren Umstände an; maßgebend ist vielmehr, welche Absicht mit dem Aufenthalt der Ehefrau außerhalb der gemeinsamen Wohnung der Eheleute verbunden ist. Hält sie sich dort nur besuchsweise auf, bleibt die eheliche Wohnung nach wie vor der durch enge persönliche Beziehungen gekennzeichnete Mittelpunkt der Lebenshaltung der Eheleute. Vorliegendenfalls ist es, wie das Berufungsgericht festgestellt hat, jedoch so gewesen, daß der Kläger seine Familie zu seiner Schwiegermutter mit dem Willen verbracht hat, daß bei dieser sich das Leben seiner Familie annähernd so gestalten sollte, wie es zuvor in der ehelichen Wohnung in K. sich abgespielt hatte. Dem steht nicht etwa entgegen, daß unmittelbarer Anlaß für die Verlegung der Lebenshaltung der Familie des Klägers die Erkrankung der Ehefrau und eines seiner Kinder gewesen ist. Die Verhältnisse, unter denen das Leben der Familie des Klägers in der Wohnung der Schwiegermutter weitergeführt werden sollte, sind denen nicht vergleichbar, die eingetreten wären, wenn der Kläger seine erkrankten Angehörigen in ein Krankenhaus und das gesunde Kind in einem Pflegeheim untergebracht hätte. Wie das LSG unangegriffen festgestellt hat, war mit dem Aufenthalt bei der Schwiegermutter zwar in erster Linie der Zweck verbunden, den erkrankten Familienangehörigen die notwendige Pflege durch die Schwiegermutter zukommen zu lassen; dies hätte aber nicht ausgeschlossen, daß der Kläger bei seinen - meist wohl auf das Wochenende beschränkten - Besuchen in H. teils durch seine Ehefrau, teils durch die Schwiegermutter so umsorgt worden wäre, wie es vorher in der ehelichen Wohnung in K. der Fall gewesen war.

Das RVA (EuM 49, 140) hat allerdings zu § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF das Erfordernis aufgestellt, daß es sich um eine selbständige Familienwohnung handeln müsse (ebenso Bayer. Landesversicherungsamt, Bayer. Amtsbl. 1950 S. 535 Nr. 138; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: 15.5.1964, Bd. II S. 484 b). Dieser Gesichtspunkt ist aber in erster Linie für die Frage von Bedeutung, ob und unter welchen Voraussetzungen die Behausung eines alleinstehenden Versicherten überhaupt als Familienwohnung angesehen werden kann (BSG 20, 110, 112). Für die - in der Regel anders gelagerten - Verhältnisse verheirateter Versicherter ist dieses Begriffsmerkmal hingegen nur insofern von Bedeutung, ob ihre Familie sich außerhalb der Familienwohnung besuchsweise aufhält oder ob ihre Lebensinteressen sich - wenn auch nicht fortdauernd - an eine andere Örtlichkeit verlagert haben. Dies setzt, wie das LSG zutreffend angenommen hat, einen Umzug, der nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hier nicht stattgefunden hat, nicht voraus. Darauf kann es jedenfalls bei verheirateten Versicherten schon deshalb nicht ankommen, weil, obwohl die gemeinsame eheliche Wohnung beibehalten wird, der Mittelpunkt der Lebensinteressen der Familie zeitweilig an einem anderen Ort gegeben sein kann (vgl. Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 25 zu § 550 RVO).

Die Wohnung der Schwiegermutter des Klägers war, nachdem dieser am 5. August 1957 seine Familie nach H. verbracht hatte, zur ständigen Familienwohnung im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF geworden. Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 25. November 1955 (BSG 2, 78, 80) eine Zeitspanne von einem Jahr sowie den Umstand, daß der Aufenthalt der Ehefrau des Versicherten in der Wohnung ihrer Tochter von vornherein unbefristet gewesen sei, als genügend angesehen, daß für den Versicherten und seine Ehefrau der Mittelpunkt ihrer Lebensverhältnisse nicht mehr ihre gemeinsame Wohnung, sondern die ihrer Tochter, bei der sich die Ehefrau des Versicherten aufgehalten und dieser jeweils sein Wochenende verbracht hatte, gewesen sei. Das Berufungsgericht hat in der vorliegenden Streitsache festgestellt, daß die Familie des Klägers wenigstens 8 Monate, nämlich bis zur Geburt des erwarteten Kindes, bei der Schwiegermutter bleiben sollte und die Beendigung dieses Aufenthaltes letztlich davon abhängig gewesen sei, bis wann die Ehefrau des Klägers sich von den für sie gesundheitlich äußerst nachteiligen Auswirkungen der Schwangerschaft und der Geburt erholt haben würde. Das LSG hat zwar nicht ausgeschlossen, daß der Kläger seine Familie auch deshalb nach H. verbracht hat, um im dortigen Krankenhaus wiederum eine Schwangerschaftsunterbrechung durchführen zu lassen. Aber auch in diesem Falle wäre angesichts der nach den Feststellungen des Berufungsgerichts bereits bestehenden und im Hinblick auf die vorangegangenen Schwangerschaften nicht ohne Grund befürchteten gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Ehefrau des Klägers das Verbleiben seiner Familie in H. nicht von vornherein zeitlich fest begrenzt gewesen. Es hätte sich jedenfalls um einen nicht unerheblichen Zeitraum gehandelt, so daß das LSG mit Recht angenommen hat, daß für die Dauer des Aufenthalts der Familie des Klägers in H. sich die ständige Familienwohnung im Sinne von § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF dort befunden hat und - wie der erkennende Senat in ähnlich gelagerten Fällen bereits entschieden hat (BSG 2, 78, 81; Urteil vom 31.7.1964 - 2 RU 250/63) - die in K. beibehaltene Wohnung zur "Unterkunft" des Klägers geworden ist. Der Kläger hat somit von dem Zeitpunkt an, in dem er seine Familie nach H. verbracht hatte, nicht etwa über zwei Teilbereiche seines häuslichen Wirkungskreises verfügt (vgl. hierzu das Urteil des erkennenden Senats vom 26.7.1963, veröffentlicht in SozR Nr. 44 zu § 543 RVO aF; ferner Bayer. LSG in Breithaupt-Sammlung 1965, 111 und LSG Baden-Württemberg in Sozialrechtliche Entscheidungssammlung Bd. III/2 Nr. 30 zu § 543 RVO aF).

Die von der Revision erhobenen Rügen gegen die jener Schlußfolgerung des Berufungsgerichts zugrunde liegenden Tatsachenfeststellungen und Wertungen, soweit diese auf dem Gebiet des Tatsächlichen liegen, sind nicht begründet. Die Revision läßt sich vor allem von dem Gedanken leiten, daß die Fahrt nach H. am 5. August 1957 vom Kläger ohne vorherige Verständigung der Schwiegermutter angetreten worden und die Ehefrau des Klägers sich mit dieser über Dauer und nähere Ausgestaltung des Aufenthalts der Familie erst zu einem Zeitpunkt habe besprechen können, als der Kläger bereits verunglückt gewesen sei. Dem steht jedoch die - von der Revision nicht angegriffene - Feststellung des Berufungsgerichts entgegen, daß Mutter und Tochter sich über den bevorstehenden längeren Aufenthalt ihrer Familie in H. schon anläßlich eines früheren Besuchs geeinigt hatten, der Kläger infolge Erkrankung seiner Ehefrau und eines seiner Kinder jedoch zu dem eiligst gefaßten Entschluß genötigt war, seine Familie zu einem früheren Zeitpunkt als vorgesehen zur Schwiegermutter zu bringen.

Auch der weitere Einwand der Revision, daß selbst dann, wenn der Kläger im Zeitpunkt seines Verkehrsunfalls seine ständige Familienwohnung bereits rechtswirksam nach H. verlegt gehabt habe, kein Versicherungsschutz gegeben sei, trifft nicht zu. Nach der ständigen Rechtsprechung des RVA, der sich der erkennende Senat angeschlossen hat (BSG 1, 171, 172), ist zwar der Rückweg von einer sog. eigenwirtschaftlichen Tätigkeit selbst dann kein nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF versicherter Weg, wenn er auch dazu bestimmt ist, den Versicherten zur Arbeitsstätte zu führen, weil Hin- und Rückweg von einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit rechtlich nicht unterschiedlich beurteilt werden können. Diese einheitliche rechtliche Behandlung von Wegen, die nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF zu beurteilen sind, ist aber auf Wege, für die Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF gegeben ist, nicht anzuwenden; denn der Gesetzgeber hat in dieser Vorschrift einen Versicherungsschutz geschaffen, der über den nach Satz 1 hinausgeht und es ermöglicht, die dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnenden Beweggründe für einen von der oder zur Arbeitsstätte angetretenen Weg rechtlich weitgehend unberücksichtigt zu lassen (BSG 1, 171, 173; 2, 78, 80). Wie das Berufungsgericht mit Recht angenommen hat, gilt dies jedenfalls dann, wenn - wie im vorliegenden Falle - nach Verlegung der ständigen Familienwohnung von dem Ort aus, der nunmehr den Mittelpunkt der Lebensinteressen des Versicherten bildet, der Weg zur Arbeitsstätte angetreten wird. In diesem Falle ist, entgegen der Meinung der Revision (die von Lauterbach aaO, Anm. 29 zu § 550 RVO geteilt wird), der innere ursächliche Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit zu bejahen, da der mit der vorangegangenen Betätigung verfolgte eigenwirtschaftliche Zweck völlig abgeschlossen gewesen und damit rechtlich bedeutungslos geworden ist.

Angesichts der Länge der Wegstrecke, die der Kläger im Zeitpunkt seines Unfalls noch vor sich hatte, kann zwar nicht davon ausgegangen werden, daß der Kläger noch an demselben Tag die am Vormittag von seiner Filialdirektion erhaltenen Gelder an Versicherte auszahlen wollte. Der von einer ständigen Familienwohnung im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF aus angetretene Weg muß jedoch nicht unmittelbar zur Arbeitsstätte führen; es genügt im al gemeinen, daß zunächst die Unterkunft am Arbeitsort aufgesucht und von dieser der Weg zur Arbeit angetreten wird (RVA in EuM 48, 166). Umstände, die dafür sprechen könnten, daß der Kläger den Aufenthalt in der von ihm nunmehr als Schlafstelle benutzten Wohnung in K. solange ausgedehnt haben würde, daß der Zusammenhang mit seiner versicherten Tätigkeit als gelöst anzusehen gewesen wäre (vgl. Lauterbach aaO Anm. 28 zu § 550 RVO). sind vom LSG nicht festgestellt worden.

Das Berufungsgericht hat schließlich, ohne daß diese Erwägungen von der Revision angegriffen worden sind, festgestellt, es seien keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vorhanden, daß der Verkehrsunfall des Klägers durch Fahruntüchtigkeit infolge unüberwindlicher, auf unternehmensfremde Umstände zurückzuführenden Übermüdung wesentlich verursacht sei.

Das LSG hat daher zu Recht die Entschädigungspflicht der Beklagten bejaht. Deren Revision war somit als unbegründet zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2374852

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