Entscheidungsstichwort (Thema)

Berechnung und Auszahlung einer Verletztenrente nach § 571 Abs 1 und § 581 Abs 1 RVO

 

Beteiligte

… Klägerin und Revisionsklägerin

Verwaltungs-Berufsgenossenschaft,Hamburg 1, Mönckebergstraße 7, Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

G r ü n d e :

I

Die Klägerin begehrt, ihre Verletztenrente nach § 571 Abs 1 und § 581 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) zu berechnen und in voller Höhe auszuzahlen, anstatt die Rente nach § 576 Abs 1 RVO auf den Betrag eines Unfallausgleichs für Beamte zu beschränken.

Die Klägerin ist beamtete Sonderschullehrerin des Freistaates Bayern. Vom 1. August 1978 ab war sie vorübergehend unter Belassung ihrer Dienstbezüge vom staatlichen Schuldienst beurlaubt und dem Schulträger Kolping-Bildungswerk, Diözesanverband A.       e.V., für den Dienst an der Adolf-Kolping-Berufsschule, Private Gewerbliche Sonderberufsschule für Lernbehinderte, zugewiesen worden. Während dieser Beschäftigung erlitt sie am 17. Dezember 1981 einen Verkehrsunfall, den die Beklagte als Arbeitsunfall beurteilte; die Unfallfolgen bewertete die Beklagte mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 vH und mehr (70 vH, 60 vH und 50 vH). Verletztenrente ab 14. Februar 1983 zahlte sie der Klägerin dagegen nur in Höhe des Unfallausgleichs gemäß § 35 iVm § 31 Abs 5 Beamtenversorgungsgesetz (BeamtVG) aus. Zur Begründung gab die Beklagte an, solange die Klägerin Dienstbezüge einer Beamtin erhalte, sei ihr nach § 576 Abs 1 RVO die Verletztenrente nur in Höhe des Unfallausgleichs zu zahlen (angefochtener Bescheid vom 5. April 1984 und weiterer Bescheid vom 27. Mai 1988).

Daraufhin entzog die Bezirksfinanzdirektion Augsburg der Klägerin den ihr zuvor ab 1. Januar 1982 als "Kannleistung" unter Widerrufsvorbehalt neben ihren Dienstbezügen gewährten Unfallausgleich, rechnete die Verletztenrente auf die bisher gewährten Leistungen an und forderte die errechneten Überzahlungen zurück. Wegen einer gegenüber der Beurteilung durch die Beklagte um 10 vH höheren Bewertung der unfallbedingten MdE zahlte sie jedoch ab 1. Januar 1984 als Kannleistung monatlich noch 137,-- DM. Nach Eingang eines weiteren Gutachtens setzte sie den Grad der MdE ab 1. Januar 1984 in gleicher Höhe wie die Beklagte fest und leistete ab 1. Oktober 1984 überhaupt keine weiteren Zahlungen mehr (Bescheide vom 17. April und 19. September 1984).

Die Klägerin hat mit ihrer gegen die Anwendung des § 576 Abs 1 RVO gerichteten Klage weder vor dem Sozialgericht (SG) Augsburg (Urteil vom 12. Juni 1986) noch vor dem Bayerischen Landessozialgericht (-LSG- Urteil vom 8. November 1988) Erfolg gehabt. Das LSG hat in seinen Entscheidungsgründen ausgeführt, zwar sei für den vorliegenden Fall § 576 Abs 1 RVO nicht unmittelbar anwendbar. Ebensowenig sei es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 18. Dezember 1979 - 2 RU 47/77 -) gerechtfertigt, der Verletztenrente der Klägerin einen analog zu § 576 Abs 1 Satz 1 RVO berechneten Jahresarbeitsverdienst zugrunde zu legen. Aber analog zu der Regelung des § 576 Abs 1 Satz 2 RVO sei die Verletztenrente der Klägerin auf die Höhe des Betrages zu beschränken, der bei Vorliegen eines Dienstunfalls als Unfallausgleich zu gewähren wäre. Denn insoweit bestehe eine Regelungslücke. Der Klägerin seien trotz ihrer Beurlaubung wegen ihrer Zuweisung zur Adolf-Kolping-Berufsschule die bisherigen Dienstbezüge belassen und auch nach dem Unfall weitergezahlt worden. Damit sei sie wirtschaftlich einer aktiven Beamtin gleichgestellt und nicht sozial schutzbedürftiger als diese. Hinzu komme, daß die sonstigen Rechte und Pflichten aus dem Dienstleistungsverhältnis der Klägerin in jeder Hinsicht wie bei einer Beamtin im staatlichen Schuldienst gestaltet gewesen seien: Belassung der Dienstbezüge, keine Änderung der Buchungsstelle, Abberufung auf Antrag des Schulträgers nur aus berechtigten Gründen, Unterrichtspflichtzeiten dem Umfang nach wie an staatlichen Schulen, entsprechende Anwendung der Lehrerdienstordnung für Urlaub, Dienstbefreiung und Fortbildung, dienstliche Beurteilung durch die für die Lehrer an staatlichen Schulen zuständigen Beamten, Beförderung unter gleichen Voraussetzungen wie an staatlichen Schulen, Umzugskostenvergütung und Trennungsgeld in entsprechender Anwendung der für versetzte Lehrer geltenden Bestimmungen, entsprechende Anwendung des Bayer. Reisekostengesetzes für Dienstreisen und Reisekosten, Genehmigung von Nebentätigkeiten wie an Staatsschulen, Beihilfeberechtigung, Fortbildung wie für staatliche Lehrer, Haftung des Staates für von der zugewiesenen Lehrerin verursachte Schäden aus positiver Vertragsverletzung, aktives und passives Wahlrecht nach den Bestimmungen des Bayer. Personalvertretungsgesetzes, Ausgleich von Minderleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung und Schadensersatz nach dem Bayer. BeamtVG. Zutreffend sei daher das SG zu dem Ergebnis gekommen, daß allein der Sonderstatus der Beurlaubung es nicht rechtfertige, Vorteile aus einem Beamtenverhältnis und einem versicherten Beschäftigungsverhältnis (Fortzahlung der Dienstbezüge und Zuzahlung der Verletztenrente) zu kumulieren. Das BSG (aaO) habe im Falle eines verunglückten Lehrers, der unter Fortfall seiner Bezüge aus dem staatlichen Schuldienst für die Tätigkeit als Lehrer einer Heim-Sonderschule beurlaubt gewesen sei, entsprechend dem Grundgedanken des § 576 Abs 1 Satz 2 RVO, um eine Doppelversorgung durch Gewährung einer vollen Unfallrente und beamtenrechtlicher Unfallfürsorge zu vermeiden, § 576 Abs 1 Satz 2 RVO im Wege der Lückenfüllung entsprechend angewandt.

Mit der - vom erkennenden Senat zugelassenen - Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 576 Abs 1 RVO. Diese Vorschrift sei hier weder unmittelbar noch analog anwendbar. Sie bezwecke nur eine Gleichstellung innerhalb der aktiven Beamtenschaft. Anders als in dem vom BSG (aaO) entschiedenen Fall bestehe bei ihr auch keine Gefahr einer Doppelversorgung aus der gesetzlichen Unfallversicherung und nach beamtenrechtlichen Vorschriften.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. November 1988 und des Sozialgerichts Augsburg vom 12. Juni 1986 aufzuheben und die Beklagte in Abänderung ihrer Bescheide vom 5. April 1984 und vom 27. Mai 1988 zu verurteilen, ihr Verletztenrente in voller Höhe nach Maßgabe des Jahresarbeitsverdienstes gemäß § 571 RVO zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

II

Die Revision ist im wesentlichen begründet.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Auszahlung einer nach § 571 RVO berechneten Verletztenrente. Hierauf sind allerdings die von der Bezirksfinanzdirektion Augsburg gewährten Leistungen, soweit sie der Klägerin verblieben sind, anzurechnen.

Berechnungsgrundlage der in der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewährenden Renten ist grundsätzlich der Jahresarbeitsverdienst. Dies ist gemäß § 571 Abs 1 Satz 1 RVO der Gesamtbetrag aller Arbeitsentgelte und -einkommen im Jahr vor dem Arbeitsunfall. Aufgrund der Sonderregelung des § 576 RVO gilt ua dann etwas anderes, wenn Beamte oder Personen, denen sonst Unfallfürsorge nach beamtenrechtlichen Vorschriften gewährleistet ist, einen Arbeitsunfall im Sinne der RVO erleiden. Zum einen gilt dann als Jahresarbeitsverdienst der Jahresbetrag der ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge, die der Berechnung eines Unfallruhegehalts zugrunde zu legen wären (Abs 1 Satz 1). Zum anderen wird die Leistungspflicht des Unfallversicherungsträgers dadurch begrenzt, daß Rente nur insoweit auszuzahlen ist, als sie im Einzelfall die Dienst- oder Versorgungsbezüge übersteigt, mindestens allerdings in Höhe des Betrages, der im Falle eines Dienstunfalls nach beamtenrechtlichen Vorschriften als Unfallausgleich beansprucht werden könnte (Abs 1 Satz 2). Personen, die in den Anwendungsbereich des § 576 RVO fallen, sind insoweit also schlechter gestellt als andere Versicherte (zur Verfassungsmäßigkeit s BSGE 22, 54, 58f; 47, 137, 141; BSG, Urteil vom 27. August 1981 - 2 RU 41/79 -).

Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen des § 576 Abs 1 Satz 1 RVO nicht, weil sie im Zeitpunkt des Unfalls keine aktive Beamtin war. Ihr war auch "sonst" keine Unfallfürsorge nach beamtenrechtlichen Vorschriften gewährleistet. Der Senat hat bereits mit Urteil vom 18. Dezember 1979 (- 2 RU 47/77 - in: HVGB RdSchr VB 148/80) entschieden, daß die beamtenrechtliche Unfallfürsorge nur "gewährleistet ist", wenn hierauf ein Rechtsanspruch besteht. Der der Klägerin als beurlaubter Beamtin verbliebene Anspruch auf Unfallausgleich im Rahmen einer Ermessensentscheidung genügt diesen Anforderungen nicht.

§ 576 Abs 1 Satz 1 RVO kann in Fällen dieser Art auch nicht analog angewandt werden. Voraussetzung einer Analogie ist das Vorliegen einer unbewußten Regelungslücke. Daran fehlt es hier. Dies hat der Senat im vorgenannten Urteil unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte und den Zweck der Vorschrift ausführlich dargelegt.

Auch aus § 576 Abs 1 Satz 2 RVO läßt sich eine Beschränkung des Anspruchs der Klägerin auf die Höhe des beamtenrechtlichen Unfallausgleichs nicht ableiten. Einer unmittelbaren Anwendung dieser Vorschrift steht ihre enge systematische und inhaltliche Verknüpfung mit § 576 Abs 1 Satz 1 RVO entgegen. Der von beiden Sätzen betroffene Personenkreis ist grundsätzlich derselbe. Eine analoge Anwendung im Sinne einer Lückenfüllung ist zwar möglich, jedoch nicht in voller Konsequenz. Auch insoweit muß die enge inhaltliche Verknüpfung mit Satz 1 der Norm beachtet werden. Deshalb hat der Senat im Urteil vom 18. Dezember 1979 (aaO) aus der Vorschrift des § 576 Abs 1 Satz 2 RVO unter Berücksichtigung des Grundgedankens der Norm nur das über Satz 1 aaO hinausreichende Verbot einer Doppelversorgung im Sinne einer Kumulation von Leistungen nach beamtenrechtlichen Vorschriften und Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung entnommen. Daran wird festgehalten. Neben einer tatsächlich gewährten Unfallfürsorge nach beamtenrechtlichen Vorschriften besteht daher ein Anspruch auf Auszahlung der nach § 571 RVO berechneten Verletztenrente nur insoweit, als sie höher ist als der Unfallausgleich.

Der Umstand, daß die Klägerin nach dem Unfall nach wie vor Anspruch auf Gewährung ihrer vollen Dienstbezüge hatte, führt zu keiner weitergehenden analogen Anwendung des § 576 Abs 1 Satz 2 RVO. Zum einen ist es für die Gewährung einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung grundsätzlich ohne Bedeutung, ob der Verletzte wegen seiner Schädigung tatsächlich eine Einkommenseinbuße erleidet oder nicht. Zum anderen würde die Auffassung des LSG in der Tat zu einer - auch vom LSG nicht für zulässig angesehenen - Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 576 Abs 1 Satz 1 RVO auf Fälle führen, in denen beamtenrechtlicher Unfallausgleich gerade nicht gewährleistet ist. Außerdem stünde eine so weitgehende Auslegung mit dem Charakter des § 576 RVO als Sonder- bzw Ausnahmevorschrift nicht in Einklang. Zwar sind auch solche Vorschriften auslegungs- und analogiefähig (vgl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl, S 339), jedoch ist dabei besonders streng auf die Berücksichtigung des Gesetzeszwecks und die Einhaltung allgemeiner Grundsätze, wie sie sich beispielsweise aus den Grundrechten und auch aus § 2 Abs 2 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch (SGB I) ergeben, zu achten. Dies hat das LSG nicht berücksichtigt. Danach ist es nicht gerechtfertigt, Beamte, die zum Zweck ihrer Beschäftigung bei einem privaten Schulträger unter Belassung ihrer Dienstbezüge und mit dem Anspruch auf Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfall, aber ohne Gewährleistung der Unfallfürsorge, beurlaubt sind, schlechter zu stellen als andere Versicherte, die einen arbeitsvertraglichen Anspruch auf volle Lohnfortzahlung haben oder die trotz der Unfallfolgen noch in der Lage sind, eine volle Arbeitsleistung zu erbringen. Denn dazu fehlt jedenfalls außerhalb des in § 576 Abs 1 Satz 1 RVO beschriebenen Personenkreises ein sachlicher Grund. Im übrigen unterschied sich die Rechtsstellung der Klägerin während ihrer Tätigkeit für das Kolping-Bildungswerk in Teilbereichen durchaus von derjenigen einer aktiven Beamtin. Sie unterstand der Direktionsbefugnis ihres privaten Arbeitgebers, und der Freistaat Bayern haftete nicht mehr gemäß Art 34 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) iVm § 839 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Nur für Rückgriffsansprüche des Schulträgers mußte der Freistaat Bayern im Rahmen des rechtlichen Dreiecksverhältnisses zwischen ihm, dem privaten Schulträger und der Klägerin aufkommen (vgl Stellungnahme des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultur, Bayerischer Landtag, Drucks 8/4810; Bekanntmachung desselben Ministeriums vom 14. Dezember 1982 Nr III A 8-4/180 570 in KMBl I Nr 24/1982).

Die nach § 571 RVO berechnete Verletztenrente der Klägerin kann somit von der Beklagten nur insoweit gekürzt werden, als die Klägerin die ihr von der Bezirksfinanzdirektion Augsburg gezahlten Beträge behalten durfte. Dabei handelt es sich um die Leistungen, die ihr wegen einer vorübergehenden Höherbewertung der MdE aufgrund der Bescheide vom 17. April 1984 und 19. September 1984 über die damaligen Leistungen der Beklagten hinaus belassen bzw ausgezahlt worden sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.BUNDESSOZIALGERICHT

 

Fundstellen

Dokument-Index HI517901

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