Entscheidungsstichwort (Thema)

Urteilserschleichung. Nichtbeachtung der Rechtskraft eines Urteils

 

Leitsatz (amtlich)

Zurücktreten einer sittenwidrig herbeigeführten Rechtskraft eines Urteils (Anschluß an BGH 27.3.1968 VIII ZR 141/65 = BGHZ 50, 115; BAG 14.10.1960 1 AZR 233/58 = BAGE 10, 88, 98).

 

Orientierungssatz

1. Die Anwendung der vom RG und BGH entwickelten und vom BAG übernommenen Grundsätze auch auf Urteile der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit steht nicht die Sonderregelung des § 45 SGB 10 über die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte entgegen. Diese Vorschrift betrifft nicht Verwaltungsakte, soweit sie der Sozialversicherungsträger in Ausführung eines ihm zur Leistung verpflichtenden rechtswidrigen Urteils erlassen hat.

2. Rechtsgrundlage für die Nichtbeachtung der Rechtskraft eines bindenden Urteils ist eine Anwendung des in § 826 BGB normierten Grundsatzes von Treu und Glauben.

3. Als sittenwidrig herbeigeführt wird insbesondere ein Urteil angesehen, das auf einer wahrheitswidrigen Sachverhaltsschilderung und insbesondere darauf beruht, daß der Kläger einen Zeugen zu einer falschen Aussage angestiftet hat (vgl BGH 20.3.1957 IV ZR 235/56 = LM Nr 7 zu § 826 (Fa) BGB). Hat ein Kläger das Urteil erschlichen, bedarf es - anders als bei der sittenwidrigen Ausnutzung der Rechtskraft eines zwar nicht erschlichenen, aber unrichtigen Urteils - keiner weiteren Umstände, um die Vollstreckung aus dem Urteil für sittenwidrig anzusehen (vgl BGH 25.5.1959 II ZR 231/58 = LM Nr 9 zu § 826 (Fa) BGB).

4. Die Sozialleistungsträger können gemäß § 44 SGB 10 zugunsten des Betroffenen eine neue Entscheidung selbst dann treffen, wenn ihre frühere Entscheidung im sozialgerichtlichen Verfahren durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt worden ist.

 

Normenkette

SGG § 141; BGB § 826; SGB 10 § 45

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 27.03.1985; Aktenzeichen L 6 U 108/82)

SG Hannover (Entscheidung vom 25.01.1982; Aktenzeichen S 19 U 293/81)

 

Tatbestand

Der am 31. Oktober 1937 in O., F. St. D., geborene Kläger erlitt im Mai 1957 bei einer Mißhandlung eine Verletzung des rechten Auges. Während einer stationären Behandlung vom 11. bis 24. Mai 1957 in der Augenklinik des Staatlichen Krankenhauses D. wurde der rechte Augapfel entfernt. Die polnische Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen später ein.

Im Januar 1958 zog der Kläger in das Bundesgebiet. Er beantragte im Juni 1961, ihm wegen des Verlustes des Auges Verletztenrente zu gewähren. Er behauptete: Polnische Staatsangehörige hätten ihn, als er sich am 11. Mai 1957 (Sonnabend) in Begleitung des S. J. (J) auf dem Heimweg von seiner Arbeitsstelle befunden habe, angegriffen und verletzt. Der Kläger legte eine Ablichtung der Bescheinigung der Allgemeinen Konsumgenossenschaft in D. vom 7. Dezember 1957 vor, wonach er ab 20. November 1953 als Verlader beschäftigt gewesen und auf eigenen Wunsch am 7. Dezember 1957 entlassen worden sei.

Die Beklagte lehnte den Antrag auf Entschädigung wegen verspäteter Antragstellung und auch deshalb ab, weil die Schlägerei auf persönlichen Gründen beruht habe (Bescheid vom 18. April 1962). Das Sozialgericht (SG) wies die Klage ab (Urteil vom 15. November 1962), das Landessozialgericht (LSG) verurteilte die Beklagte, dem Kläger wegen des Verlustes des rechten Auges ab 1. Juni 1961 Rente zu zahlen (Urteil vom 12. Dezember 1963). Die Beklagte zahlte aufgrund des Ausführungsbescheides vom 13. August 1964 dem Kläger Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 25 vH. Das LSG ging in seinen Entscheidungsgründen aufgrund der Angaben des Klägers, der von ihm vorgelegten Unterlagen und der Aussage des Zeugen J. davon aus, daß der Kläger am 11. Mai 1957 auf dem Weg von seiner Beschäftigung als Verlader bei der D. Konsumgenossenschaft nach Hause von jungen Polen überfallen und mißhandelt worden wäre.

Der Kläger ermächtigte im August 1979 die Beklagte, für ihn einen Rentenantrag beim polnischen Sozialversicherungsträger zu stellen.

Die polnische Staatliche Sozialversicherung lehnte eine Rentengewährung ab, da der Kläger am Unfalltag nicht beschäftigt gewesen sei. Sie übersandte zugleich mehrere Unterlagen. In der Fotokopie des Krankenblattes ist ua als Unfallhergang vermerkt, der Kläger sei überfallen worden, als er mit seinem Freund zum Tanzen gegangen sei. In einem mitübersandten fotokopierten Arbeitszeugnis des Klägers vom 19. November 1957 ist vermerkt, daß der Kläger vom 2. November 1956 bis 24. März 1957 beschäftigt gewesen sei. Nach einer Fotokopie der Bescheinigung der Lebensmittelgenossenschaft D. vom 29. Mai 1980 war der Kläger dort vom 20. November 1957 bis 7. Dezember 1957 beschäftigt. In dieser Bescheinigung heißt es noch, der Unfall könne sich nicht während der Beschäftigung bei der Genossenschaft ereignet haben.

Durch Bescheid vom 25. September 1981 nahm die Beklagte den Bescheid vom 13. August 1964 mit Wirkung für die Vergangenheit ab 1. Juni 1961 zurück, stellte die laufende Rentenzahlung ein und forderte den Betrag von 36.876,20 DM zurück, da die zur Rentengewährung führenden Angaben des Klägers falsch gewesen wären.

Das SG hat den Bescheid der Beklagten vom 25. September 1981 aufgehoben, da wegen der bewußt enggefaßten Vorschriften über die Restitutionsklage die Berufung auf § 826 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) den angefochtenen Bescheid nicht rechtfertige (Urteil vom 25. Januar 1982).

Das LSG hat dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. März 1985). Es hat insbesondere ausgeführt: Die Frist für eine Nichtigkeits- oder Restitutionsklage sei ebenso wie die für die Rücknahme eines Verwaltungsaktes nach § 45 des Sozialgesetzbuches - Zehntes Buch - -Verwaltungsverfahren- (SGB X) verstrichen. Die Klage sei aber nach § 826 BGB begründet. Die Voraussetzungen, unter denen nach dieser Vorschrift ein Schadenersatz wegen Ausnutzung eines erschlichenen Urteils begründet sei, lägen vor. Der Kläger habe wider besseres Wissen unrichtige Angaben gemacht, um seinen Augenschaden als Unfallfolge entschädigen zu lassen. Der Kläger habe seine Augenverletzung nicht bei seiner Schlossertätigkeit erlitten. Aus dem Arbeitszeugnis vom 19. November 1957 gehe hervor, daß der Kläger nur vom 2. November 1956 bis 24. März 1957 als Schlosser tätig gewesen sei. In der von ihm vorgelegten Bescheinigung vom 7. Dezember 1957 über eine durchgehende Beschäftigung in den Jahren 1953 bis Ende 1957 sei in dem Datum "20. XI.1953" die "3" nach einer Änderung einer anderen Zahl, deren Bruchstücke sich zu einer 7 ergänzen ließen, eingesetzt worden. Der Kläger habe zumindest gewußt, daß die Bescheinigung vom 7. Dezember 1957 verfälscht worden und unrichtig sei. Ebenso sei die frühere Behauptung des Klägers falsch, er habe bei dem polnischen Sozialversicherungsträger einen Rentenantrag gestellt. Der Kläger sei vielmehr im Unfallzeitpunkt nicht beschäftigt gewesen. Der Zeuge J. und der Kläger hätten bis zum Erlaß des Urteil vom 12. Dezember 1963 den Zweck des Weges am 11. Mai 1957 wissentlich verschwiegen. Der Senat sei überzeugt, daß der Kläger das Urteil vom 12. Dezember 1963 durch unwahre Angaben erschlichen habe.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er trägt im wesentlichen vor: Eine entsprechende Anwendung des § 826 BGB komme auf Sozialrechtsverhältnisse nicht in Betracht. Fraglich sei schon, ob überhaupt Rechtsbeziehungen öffentlich-rechtlicher Art zwischen dem Kläger und der Beklagten beständen. Vielmehr bestehe ein Sozialrechtsverhältnis zwischen den Parteien nicht. Auch ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch müsse hier versagen. Die Beklagte hätte möglicherweise den Zivilrechtsweg einhalten müssen. Die Beseitigung eines sozialgerichtlichen Urteils durch Verwaltungsakt sei nicht denkbar. Im Ergebnis hätte jedoch die Anwendung des § 826 BGB in dem hier zu entscheidenden Fall zur Folge, daß das Urteil des LSG vom 12. Dezember 1963 beseitigt und damit die Rechtskraft durchbrochen werde. Ein solch schwerwiegender Eingriff sei aber nur in äußersten Fällen erträglich und geboten; die Annahme eines solch schwerwiegenden Falles sei hier jedoch auch nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme durch das Berufungsgericht nicht gerechtfertigt. Eine offensichtliche Lüge seitens des Klägers läge nicht vor. Er habe sich vielmehr auf Urkunden und die Zeugenaussage gestützt. Wenn das Berufungsgericht Zweifel gehabt habe, ob der Kläger am Unfalltage beschäftigt gewesen wäre und es sich insoweit um einen Wegeunfall gehandelt hätte, so hätten diese Zweifel durch weitere Aufklärung möglicherweise ausgeräumt werden können. Es sei eine Erfahrungstatsache, daß durch intensivere Nachforschungen gegebenenfalls über die zuständigen Ministerien weitere Erkenntnisse hätten erzielt werden können. Das Berufungsgericht hätte sich nicht mit der Erklärung der Landesversicherungsanstalt (LVA) von B. vom 12. November 1984 unter Hinweis auf die Antwort der Lebensmittelgenossenschaft in D. zufriedengeben dürfen. Insoweit werde die Verletzung der allgemeinen Aufklärungspflicht gerügt.

Der Kläger beantragt, das Urteil des LSG vom 27. März 1985 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG vom 25. Januar 1982 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist nicht begründet.

Die Beklagte hat als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung durch ihre Entscheidung vom 25. September 1981, die Rechtskraft des Urteils vom 12. Dezember 1963 nicht mehr zu beachten sowie als Folge dessen den Bescheid vom 13. August 1964 aufzuheben, die Rentenzahlung einzustellen und die gezahlten Renten in Höhe von insgesamt 36.876,20 DM zurückzufordern, einen Einzelfall auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts mit unmittelbarer Rechtswirkung nach außen geregelt. Dieser Verwaltungsakt ist, wie das LSG zutreffend entschieden hat, im Ergebnis nicht rechtswidrig.

Die Beziehungen zwischen einem Empfänger von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung und dem Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sind öffentlich-rechtlicher Natur. Dies gilt entgegen der Auffassung der Revision auch dann, wenn zu Unrecht davon ausgegangen worden ist, ein Arbeitsunfall habe vorgelegen, und der Verletzte deshalb die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung ohne Rechtsgrund bezogen hat; öffentlich-rechtlicher Natur ist auch der Anspruch auf Rückforderung von Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 187r, 730e ff mit zahlreichen Nachweisen).

Die Beklagte war auch befugt, ihre Entscheidung, die Rechtskraft des Urteils vom 12. Dezember 1963 nicht mehr zu beachten, durch Verwaltungsakt zu treffen. Die Beklagte hat nicht das Urteil aufgehoben oder für unwirksam erklärt; denn der Einwand des Rechtsmißbrauches als Erscheinungsform von Treu und Glauben läßt die Wirksamkeit der Norm (s BVerwGE 59, 242, 246), hier die Wirksamkeit des Urteils, unberührt. Die Beklagte hat vielmehr gegenüber dem Kläger im Kern festgestellt, daß nach ihrer rechtlichen Beurteilung das Geltendmachen von Rechtsansprüchen aus dem Urteil vom 12. Dezember 1963 sittenwidrig ist. Eine solche Entscheidung gegenüber dem Kläger regelt einen Einzelfall auf - wie oben aufgezeigt - dem Gebiet des öffentlichen Rechts.

Dieser Verwaltungsakt ist in der Sache im wesentlichen rechtmäßig.

Nach ständiger Rechtsprechung schon des Reichsgerichts (RG) und nunmehr des Bundesgerichtshofes (BGH) muß die Rechtskraft eines Urteils zurücktreten, wenn sie sittenwidrig herbeigeführt oder ausgenutzt wird (s ua RGZ 46, 74, 79; 61, 359, 365; BGHZ 40, 130; 50, 115, 117; BGH LM Nrn 8, 9, 12, 15 und 20 zu § 826 (Fa) BGB). An dieser seit Jahrzehnten entwickelten Rechtsprechung hat der BGH trotz der im Schrifttum hiergegen vorgebrachten Bedenken festgehalten (BGHZ 50, 115 mit Nachweisen der Gegenmeinung, s insoweit auch Bley in Sozialgesetzbuch-Sozialversicherung-Gesamtkommentar, § 141 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG- Anm 4 Buchst c, cc; Schreiber JR 1984, 154). Die Rechtsprechung des BGH hat jedoch in letzter Zeit auch im Schrifttum Zustimmung gefunden (s ua Braun, Rechtskraft und Restitution, 1979, S 301, 302; Musielack JA 1982, 7; s auch Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 2. Aufl 1974, S 497, 498). Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat sich ihr ebenfalls angeschlossen (s ua BAGE 10, 88, 98; BAG AP Nr 14 zu § 826 BGB). Diese Rechtsprechung läßt sich nach der Auffassung des Senats nicht auf Urteile der Zivil- und Arbeitsgerichte beschränken; die sie tragenden Grundgedanken gelten auch für Urteile der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit (Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl, 1981, § 141 Anm 20; zur Verwaltungsgerichtsbarkeit ebenso Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 8. Aufl 1980, § 121 Anm 14; Kopp, VwGO, 7. Aufl 1986, § 121 RdNr 30; Redeker/von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 8. Aufl 1985, § 121 RdNr 16; vgl auch zur freiwilligen Gerichtsbarkeit BGH LM Nr 10 zu § 826 (Fa) BGB und zum BEG BGH LM Nr 13 zu § 213 BEG 1956). Der Grundsatz von Treu und Glauben gilt auch im öffentlichen Recht (vgl ua BSGE 7, 199, 200; 34, 211, 213; 47, 194, 196; 54, 257, 258; BSG Urteil vom 21. Juli 1981 -7 RAr 37/80-; BVerwGE 55, 337, 339; 59, 242, 246; 60, 162, 203). Deshalb ist auch sittenwidriges Handeln im Sozialversicherungsrecht unzulässig, wie die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) insbesondere zur Verwirkung als Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung bestätigt (BSGE aaO). Die unzulässige Rechtsausübung kann sich aber auch in der sittenwidrigen Geltendmachung der Rechtskraft eines Urteiles zeigen. Im Bereich des Sozialversicherungsrechts muß deshalb ebenfalls in den vom BGH gezogenen engen Grenzen und unter Anwendung strenger Maßstäbe die Rechtskraft eines Urteils zurücktreten, wenn sie sittenwidrig herbeigeführt wird.

Die Anwendung der vom RG und BGH entwickelten und vom BAG übernommenen Grundsätze auch auf Urteile der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit steht nicht die Sonderregelung des § 45 SGB X über die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte entgegen. Diese Vorschrift betrifft nicht Verwaltungsakte, soweit sie der Sozialversicherungsträger in Ausführung eines ihn zur Leistung verpflichtenden rechtswidrigen Urteils erlassen hat (Schneider-Danwitz in Sozialgesetzbuch-Sozialversicherung-Gesamtkommentar, Vorbemerkung 30 Buchst b vor § 44 SGB X; s auch Brackmann aaO S 232f IV). Zwar ist nach § 45 SGB X die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes auch zulässig, nachdem der Verwaltungsakt unanfechtbar geworden ist. Damit ist jedoch die Verwaltung nur berechtigt, trotz der Bindungswirkung von Verwaltungsakten im Rahmen des § 45 SGB X erneut in der Sache zu entscheiden. § 45 SGB X enthält aber keine darüber hinausgehende Ermächtigung, nach (erneuter) Prüfung der Sach- und Rechtslage auch die Rechtskraft eines sie bindenden Urteiles außer acht zu lassen und einen Verwaltungsakt auch insoweit aufzuheben, wie er ein rechtskräftiges Urteil ausführt. Zudem kann ein Verwaltungsakt, soweit er nur in Ausführung eines die Sozialversicherungsträger bindenden Urteils ergangen ist, nicht als rechtswidrig iS des § 45 SGB X angesehen werden. Er mag gegebenenfalls ein unrichtiges Urteil ausführen; die Ausführung eines die Verwaltung bindenden rechtskräftigen Urteils ist aber im Sozialleistungsbereich kein rechtswidriges Verwaltungshandeln. Die Rücknahme eines in Ausführung eines rechtskräftigen Urteils ergangenen Verwaltungsaktes nach § 45 SGB X ist allerdings nur soweit ausgeschlossen, wie die Rechtskraft des Urteils reicht. Darüber hinausgehende Entscheidungen in dem Verwaltungsakt - zB, wie hier, bei einem Grundurteil nach § 130 SGG, gegebenenfalls die Höhe der MdE oder des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) - können unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X zuungunsten des Betroffenen zurückgenommen werden. Soweit im Schrifttum zum Teil die Auffassung vertreten wird, die §§ 44 bis 49 SGB X beträfen auch die in Ausführung eines Urteils ergangenen Verwaltungsakte, bezieht sich diese Auffassung, worauf Schneider-Danwitz (aaO) zutreffend hinweist, überwiegend auf die Rücknahme dieser Bescheide wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse (so wohl Schroeder-Printzen/Wiesner ua, SGB X, 1981, Vorbemerkung 2 zu §§ 44 bis 49 unter Bezugnahme auf BSGE 16, 138; generell jedoch wohl Jahn, SGB X, Vorbemerkung vor § 44 RdNr 5). Ebenso betrifft die Rücknahme eines Verwaltungsaktes gemäß § 45 SGB X, nach dem eine gegen ihn gerichtete Klage abgewiesen wurde (s Pickel, Das Verwaltungsverfahren, Komm, § 45 Anm 2 Buchst a), eine die Rechtskraft des Urteils nicht berührende andere Fallgestaltung als die hier maßgebende. Deshalb steht der Auffassung des Senats nicht entgegen, daß die Sozialleistungsträger gemäß § 44 SGB X zugunsten des Betroffenen eine neue Entscheidung selbst dann treffen können, wenn ihre frühere Entscheidung im sozialgerichtlichen Verfahren durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt worden ist. Ein die Klage abweisendes Urteil bestätigt lediglich, daß nach Auffassung des Gerichts der Verwaltungsakt nicht rechtswidrig ist. Es enthält aber kein Gebot, dem Kläger die beantragte Leistung nicht zu gewähren. Somit berührt eine Entscheidung zugunsten des Betroffenen in diesen Fällen nicht die Rechtskraft des Urteils. Dies entspricht letztlich dem allgemeinen, auch auf anderen Rechtsgebieten geltenden Grundsatz, daß der Schuldner, der ein klageabweisendes Urteil erstritten hat, dennoch, trotz der Rechtskraft des Urteils, jederzeit befugt ist, die Leistung zu erbringen, zu der er nach dem rechtskräftigen Urteil lediglich nicht verpflichtet ist. Brackmann (aaO) hebt zwar zutreffend hervor, daß dadurch der Versicherte, der zunächst einen die Leistungspflicht des Sozialversicherungsträgers ablehnenden Bescheid erhalten hat, im Grunde bessergestellt wird gegenüber dem Versicherten, dem der Versicherungsträger die beantragte Leistung sogleich durch Verwaltungsakt bewilligt hat. Dies ist jedoch nicht nur im Bereich des Sozialversicherungsrechts eine Folge des erstrittenen obsiegenden Urteils und der damit verbundenen Rechtskraftwirkung. Auch im Zivilrecht ist der Gläubiger, dem der Schuldner die Leistung freiwillig erbringt, einer Rückforderung gegenüber weniger stark geschützt, als wenn der Schuldner zunächst die Leistung verweigerte und der Gläubiger ein obsiegendes Urteil erstreiten mußte.

Die Beklagte hat in ihrem Bescheid vom 25. September 1981 den Bescheid vom 13. August 1964, auch soweit er in Ausführung des rechtskräftigen Urteils vom 12. Dezember 1963 ergangen ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen und sich insoweit auf § 45 SGB X gestützt. Diese Rechtsauffassung ist, wie oben dargelegt, unzutreffend. Rechtsgrundlage für die Nichtbeachtung der Rechtskraft des bindenden Urteils vom 12. Dezember 1963 ist vielmehr eine Anwendung des in § 826 BGB normierten Grundsatzes von Treu und Glauben. Die Voraussetzungen, unter denen nach dieser Vorschrift die Rechtskraft eines Urteils zurücktreten muß, weil sie sittenwidrig herbeigeführt worden ist, sind erfüllt.

Der Beklagten ist es nach der Rechtsprechung des BGH (BGHZ 50, 115, 120; Braun aaO; Musielack aaO S 13) nicht verwehrt, sich auf das sittenwidrige Herbeiführen der Rechtskraft des Urteils vom 12. Dezember 1963 zu berufen, weil die Frist zur Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 179 SGG iVm §§ 580 ff der Zivilprozeßordnung (ZPO) im Jahre 1979 bereits abgelaufen war (s § 586 Abs 2 Satz 2 ZPO). Schon aus diesem Grund vermag die dem Urteil des BSG vom 22. Februar 1967 (SozR Nr 27 zu § 41 VerwVG) zugrundeliegende Rechtsauffassung keine andere Entscheidung zu rechtfertigen.

Als sittenwidrig herbeigeführt wird insbesondere ein Urteil angesehen, das auf einer wahrheitswidrigen Sachverhaltsschilderung (RGZ 46, 75, 79; Musielack aaO S 9) und insbesondere darauf beruht, daß der Kläger einen Zeugen zu einer falschen Aussage angestiftet hat (s BGH LM Nr 7 zu § 826 (Fa) BGB). Hat ein Kläger das Urteil erschlichen, bedarf es - anders als bei der sittenwidrigen Ausnutzung der Rechtskraft eines zwar nicht erschlichenen, aber unrichtigen Urteils - keiner weiteren Umstände, um die Vollstreckung aus dem Urteil für sittenwidrig anzusehen (s BGH LM Nr 9 zu § 826 (Fa) BGB).

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG hat der Kläger das Urteil sittenwidrig erschlichen. Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger entgegen seinem Vorbringen im Klageverfahren S 20 U 249/62 -L 6 U 207/63- (früheres Klageverfahren) bei der Danziger Konsumgenossenschaft nicht, wie der vom Kläger der Beklagten bei der Antragstellung in Fotokopie vorgelegten Urkunde vom 7. XII.1957 zu entnehmen war, durchgehend vom März 1953 bis Dezember 1957, sondern erst vom 20. November 1957 bis 7. Dezember 1957 und somit erst nach dem Unfall beschäftigt gewesen ist. Seine frühere Beschäftigung als Schlosser hatte er nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG bereits am 24. März 1957 und somit vor der Augenverletzung beendet und war im Zeitpunkt der Augenverletzung ohne Beschäftigung. Das LSG hat weiter festgestellt, daß der Kläger - wiederum entgegen seinen Ausführungen im früheren Verfahren - sich auch nicht auf einem Weg nach Hause, sondern auf dem Weg zum Tanzen befunden hat, als er überfallen und verletzt wurde. Nach diesen tatsächlichen Feststellungen hat der Kläger die Augenverletzung im Mai 1957 nicht bei einem Arbeitsunfall erlitten. Diese tatsächlichen Feststellungen binden den Senat, da gegen sie keine substantiell begründeten Verfahrensrügen erhoben sind. Dies gilt auch, soweit der Kläger in der Revisionsbegründung die Verletzung der allgemeinen Aufklärungspflicht rügt und hierzu ausführt, das LSG hätte sich nicht mit der Erklärung der LVA B. zufrieden geben dürfen. Das hat das LSG, wie die Urteilsgründe zeigen, auch nicht getan. Der Hinweis, es sei eine Erfahrungstatsache, daß durch intensivere Nachforschungen gegebenenfalls über die zuständigen Ministerien weitere Kenntnisse hätten erzielt werden können, wie in vielen anderen Fällen, enthält keine substantiierte Rüge der Verletzung der Aufklärungspflicht. Die Ausführungen der Revision legen nicht einmal dar, welche Tatsachen nach ihrer Auffassung und bei wem sie hätten ermittelt werden müssen. Soweit der Kläger lediglich eine andere Beweiswürdigung für zutreffend ansieht, liegt darin keine Begründung eines Verfahrensmangels. Unter dem Gesichtspunkt erhobener Verfahrensrügen braucht auf den Inhalt des Schriftsatzes des Klägers vom 15. April 1986 nicht eingegangen zu werden, da er erst nach Ablauf der insgesamt bis zum 2. Dezember 1985 verlängerten Revisionsbegründungsfrist eingegangen ist.

Das LSG hat den vorstehend aufgezeigten Sachverhalt nicht lediglich aufgrund einer abweichenden Würdigung schon in dem durch das Urteil vom 12. Dezember 1963 abgeschlossenen Verfahren bekannter Tatsachen festgestellt (s BGHZ 40, 130, 133, 134; BGH LM Nr 15 zu § 826 (Fa) BGB; BAG AP aaO; Grunsky aaO S 498), sondern aufgrund neuer Beweismittel und neuer Beweiserhebungen sowie sich daraus ergebender neuer Tatsachen die Sittenwidrigkeit des Geltendmachens von Rechtsansprüchen aus dem Urteil vom 12. Dezember 1963 begründet. Die polnische Staatliche Sozialversicherung hat der Beklagten unter dem 8. Juni 1981 mitgeteilt, daß der Kläger entgegen seinem Vorbringen nach seiner Augenverletzung keinen Rentenantrag gestellt hat. In diesem Schreiben ist außerdem ausgeführt, daß der Kläger am Unfalltag nicht beschäftigt gewesen ist. In der beigefügten Kopie des Krankenblattes ist ua vermerkt, daß der Verletzte mit seinem Freund zum Tanzen gegangen sei. Ebenso sind Fotokopien der Arbeitsbescheinigungen vom 19. November 1957 und vom 29. Mai 1980 beigefügt, aus denen sich ergibt, daß der Kläger vom 2. November 1956 bis 24. März 1957 als Schlosser in dem Verband von Ingenieur-See-Bau und erst ab 20. November 1957 bis 7. Dezember 1957 bei der Konsumgenossenschaft beschäftigt war. Die vom LSG daraufhin veranlaßte Untersuchung durch das Landeskriminalamt Niedersachsen hat nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ergeben, daß die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung am 7. Oktober 1983 vorgelegte Originalurkunde vom 7. Dezember 1957 bei der Ziffer 3 der Jahreszahl 1953 verändert worden ist. Diese erst nach der Rechtskraft des Urteils vom 12. Dezember 1963 bekanntgewordenen Tatsachen haben das LSG nach eingehender Beweiswürdigung zu der Feststellung geführt, daß der Kläger die Augenverletzung nicht bei einem Arbeitsunfall erlitten hat. Die vom LSG festgestellten Tatsachen, insbesondere das Fehlen einer Beschäftigung im Unfallzeitpunkt, der Unfallhergang und die Änderung der Urkunde, waren dem Kläger als Verletzten und als Antragsteller zwangsläufig bekannt. Er hat die veränderte Urkunde zumindest vorsätzlich benutzt, um durch sie ihm, wie er gleichfalls wußte, nicht zustehende Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu erschleichen. Gleiches gilt für die nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG falsche Aussage seines Bekannten J. Auch hinsichtlich dieser Aussage muß der Kläger nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG gewußt haben, daß sie falsch war. Er hat dennoch auch diese falsche Zeugenaussage benutzt, um sich die Verletztenrente zu erschleichen. Hinter diesem sittenwidrigen Herbeiführen des Urteils hat dessen Rechtskraft zurückzutreten. Auch insoweit verkennt der Senat dabei nicht, daß die für den Rechtsfrieden so bedeutsame Rechtskraft eines Urteiles nur in Ausnahmefällen zurücktreten darf, wenn nämlich und soweit sie auch unter Anlegung strenger Maßstäbe sittenwidrig herbeigeführt oder ausgenutzt wird. Entgegen der Auffassung der Revision liegt jedoch ein derartiger schwerwiegender Ausnahmefall vor, da der Kläger nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG durch seine wahrheitswidrigen Angaben sowie durch das Ausnutzen einer veränderten Urkunde und einer falschen Aussage des von ihm benannten Zeugen ein Urteil erschlichen hat. Das LSG hat auch nach eingehender Beweiswürdigung festgestellt, daß alle diese Umstände entgegen der Auffassung der Revision dem Kläger bekannt waren und aufgrund der festgestellten Tatsachen auch bekannt sein mußten. Der besonderen Bedeutung der Rechtskraft für den Rechtsfrieden entspricht es auch, daß die Berufung der Beklagten auf das sittenwidrige Erschleichen der Rechtskraft des Urteils vom 12. Dezember 1963 - wie bereits mehrfach betont - nicht nur aufgrund einer neuen Würdigung alter Tatsachen oder einer anderen Rechtsauffassung, sondern aufgrund neuer Ermittlungen und dabei erhobener Tatsachen beruht.

Da somit die Rechtskraft des Urteils vom 12. Dezember 1963 zurücktreten muß, war die Beklagte auch nicht verpflichtet, entsprechend diesem rechtskräftigen Urteil einen Ausführungsbescheid zu erlassen, so daß sie diesen Bescheid, gestützt auf § 826 BGB, in dem angefochtenen Bescheid im vollen Umfang und nicht nur - wie oben aufgezeigt - insoweit zurücknehmen durfte, wie er von der Rechtskraft des Urteils (zB hinsichtlich der Höhe der MdE oder des JAV) nicht erfaßt wurde. Hinsichtlich der aufgrund des erschlichenen Urteils erbrachten Leistungen hat die Beklagte nach der ständigen Rechtsprechung des BGH auch einen Rückforderungsanspruch gegen den Kläger. Gegen die Höhe dieses Anspruches sind Einwände nicht vorgebracht und auch nicht ersichtlich. Selbst wenn sich der Rückforderungsanspruch aber nach einer analogen Anwendung des § 50 Abs 1 Satz 1, Abs 3 und 4 SGB X richten sollte, würde dies bei den von Anfang an zu Unrecht gewährten Leistungen und einem Zurücktreten der Rechtskraft des Urteils von Beginn der Leistungen an zu keinem anderen Ergebnis führen.

Die Revision des Klägers war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1657982

BSGE, 251

BB 1987, 972

NJW 1987, 2038

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