Entscheidungsstichwort (Thema)

Versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis bei Reiseleitern

 

Orientierungssatz

Von entscheidender Bedeutung für die Beurteilung, ob Reiseleiter während der Durchführung der übernommenen Aufgaben von dem Reiseveranstalter persönlich abhängig sind, ist ihre Weisungsgebundenheit. Reiseleiter, die zur "strikten Einhaltung" der allgemeinen und der die jeweilige Reise betreffenden besonderen Anweisungen des Reiseveranstalters verpflichtet sind, üben ihre Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses iS des § 539 Abs 1 Nr 1 RVO aus.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 13.08.1980; Aktenzeichen L 17 U 209/79)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 26.04.1979; Aktenzeichen S 17 U 1/77)

 

Tatbestand

Die Klägerin ist als Unternehmerin Mitglied der Beklagten. Sie führt ua Rundreisen in eigenen Autobussen durch. Unterwegs werden die Reisenden von Reiseleitern begleitet und betreut. Durch Bescheid vom 28. Oktober 1976 forderte die Beklagte die Klägerin auf,die Entgelte der Reiseleiter zur Beitragsumlage nachzuweisen. Der Widerspruch, mit dem die Klägerin die Auffassung vertrat, die Reiseleiter seien bei ihr nicht aufgrund eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses beschäftigt, sondern als selbständige freiberufliche Mitarbeiter tätig, blieb ohne Erfolg (Bescheid vom 7. Dezember 1976).

Die rechtlichen Beziehungen zwischen der Klägerin und den Reiseleitern sind in einer schriftlichen "Vereinbarung über freiberufliche Reiseleitertätigkeit" festgelegt, in der es ua heißt: "Der fallweise Einsatz erfolgt durch die Sachabteilung der E... nach Bedarf und nach gegenseitiger Absprache mit dem Reiseleiter. Der Reiseleiter verpflichtet sich zur strikten Einhaltung der allgemeinen und der die jeweilige Reise betreffenden besonderen Anweisungen der E...-Sachabteilung. Im übrigen ist der Reiseleiter für die Gestaltung des Tagesablaufes im Rahmen des jeweiligen Programms laut Reiseausschreibung selbst verantwortlich. Der Reiseleiter erklärt hiermit, daß er durch seine selbständige und freiberufliche Tätigkeit als Reiseleiter keinen Vertrag im arbeitsrechtlichen sowie sozialrechtlichen Sinne mit der E... eingeht. Die aus der selbständigen und freiberuflichen Tätigkeit zu zahlende Einkommensteuer ist vom Reiseleiter selbst zu entrichten. Sozialversicherungspflicht (Zahlung von Beiträgen zur Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung) besteht nicht."

Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat die gegen den Bescheid der Beklagten gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 26. April 1979). Es hat übereinstimmend mit der Beklagten angenommen, nach der tatsächlichen Ausgestaltung der Verhältnisse hätten die Reiseleiter in einem Beschäftigungsverhältnis zu der Klägerin gestanden. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 13. August 1980). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Für die Beurteilung, ob ein Beschäftigungsverhältnis oder eine selbständige freiberufliche Tätigkeit vorliege, komme es entscheidend nicht auf die Vereinbarungen der Beteiligten, sondern auf die tatsächliche Gestaltung der Verhältnisse an. Maßgebend sei, welche das Gesamtbild bestimmenden Umstände überwiegend seien. Anders als in dem vom Bundessozialgericht (BSG) am 17. Mai 1973 entschiedenen Fall (BSGE 36, 7), in dem davon ausgegangen worden sei, daß Reiseveranstalter in der Regel die einzelnen Reisedienstleistungen nicht selbst zu erbringen, sondern nur zu verschaffen hätten, so daß die Zielortreiseleiter nach der Art ihrer Tätigkeit nicht im Betrieb des Reiseveranstalters abhängig tätig würden, sei hier der Einsatz der Reiseleiter ein wesentlicher Bestandteil der von der Klägerin zu erbringenden Leistungen gewesen. Die Reiseleiter seien für das Unternehmen der Klägerin im Rahmen der von dieser gegenüber den Reisenden übernommenen Verpflichtungen tätig geworden und hätten ohne eigenes Unternehmerrisiko fremdbestimmte Tätigkeiten verrichtet, so daß ihre Tätigkeit überwiegend die Merkmale einer abhängigen Beschäftigung gezeigt habe.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision trägt die Klägerin vor: Entgegen der Auffassung des LSG seien die von ihr von Fall zu Fall beauftragten Reiseleiter ebenso wie Zielortreiseleiter (s BSGE 36, 7) selbständig und freiberuflich tätig. Bei den drei- bis 14-tägigen Pauschalrundreisen seien zwar die Tageszielorte und die Unterkünfte festgelegt. Die Reiseleiter seien jedoch in der Gestaltung des Tagesablaufs frei (zB Reiseunterbrechungen, Auswahl der Sehenswürdigkeiten und der Reiseroute zu den Zielorten). Sie seien während der Reisen nicht in den Betrieb eingegliedert und erfüllten eigene Aufgaben. Gegenüber ihren Kunden habe sie - die Klägerin - die Reisebetreuung nicht selbst zu erbringen, sondern lediglich zu verschaffen. Für die Selbständigkeit der Reiseleiter spreche auch die Art der Vergütung in Form von Tagespauschalen.

Die Klägerin beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts sowie die Bescheide der Beklagten vom 28. Oktober 1976 und 7. Dezember 1976 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist nicht begründet.

Die Beklagte geht im angefochtenen Bescheid zutreffend davon aus, daß die damals für die Klägerin tätig gewordenen Reiseleiter zu den versicherten Beschäftigten (s § 723 Abs 1 RVO) gehörten und deren Entgelt deshalb im Lohnnachweis als Grundlage für die Beitragsberechnung mit anzuführen war (s §§ 725 Abs 1, 741 Abs 1 RVO). Die Reiseleiter waren, wie das LSG in Übereinstimmung mit dem SG zu Recht entschieden hat, bei der Klägerin aufgrund eines Dienstverhältnisses beschäftigt und somit gegen Arbeitsunfall versichert (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO).

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist es für die Annahme eines Arbeits- oder Dienstverhältnisses (Beschäftigungsverhältnis) iS des § 539 Abs 1 Nr 1 RVO entscheidend, daß eine persönliche Abhängigkeit von einem Arbeitgeber vorliegt (s ua BSGE 35, 20, 21; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. -9. Aufl, S 469 i - jeweils mwN). Diese äußert sich vor allem in der Weisungsgebundenheit des Dienstleistenden (BSG aaO; Brackmann aaO S 469 k). Für die Abgrenzung abhängiger Arbeit von selbständiger Tätigkeit sind das Vorhandensein eines eigenen Unternehmerrisikos sowie die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft bedeutsame Anhaltspunkte (BSGE aaO). Liegen sowohl Merkmale der Abhängigkeit als auch der Selbständigkeit vor, kommt es auf das Gesamtbild der Tätigkeit und die berufliche Stellung an, wobei nicht die zivilrechtliche Erscheinungsform der getroffenen Vereinbarung oder die von den Vertragspartnern gewählte Bezeichnung, sondern die tatsächliche Gestaltung der Verhältnisse ausschlaggebend ist (BSG aaO mwN).

Die Reiseleiter übten ihre Tätigkeit für die Klägerin aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses iS des § 539 Abs 1 Nr 1 RVO aus. Von entscheidender Bedeutung für die Beurteilung, daß die Reiseleiter während der Durchführung der übernommenen Aufgaben von der Klägerin persönlich abhängig waren, ist ihre Weisungsgebundenheit. Die Reiseleiter waren zur "strikten Einhaltung" der allgemeinen und der die jeweilige Reise betreffenden besonderen Anweisungen der E...-Sachabteilung verpflichtet. Nur "im übrigen" waren sie für die Gestaltung des Tagesablaufes, jedoch "im Rahmen des jeweiligen Programms laut Reiseausschreibung" selbst verantwortlich. Soweit ihnen danach eine gewisse Freiheit in der Gestaltung des Tagesablaufs überhaupt zustand, tritt dies gegenüber der strikten Weisungsgebundenheit als nicht erheblich in den Hintergrund, zumal da der Rahmen des Programms von der Klägerin vorgegeben war und von dieser das Programm im Einzelfall durch besondere Anweisungen ihrer Sachabteilung für die Reiseleiter verbindlich auch noch nachträglich geändert werden konnte. Während der Dauer ihres jeweiligen Einsatzes hatten die Reiseleiter weisungsgemäß die von der Klägerin gegenüber ihren Kunden übernommene Begleitung und Betreuung der Reisenden in betriebseigenen Bussen mit von der Klägerin angestelltem Fahrpersonal durchzuführen. Dies ergibt sich aus den tatsächlichen Feststellungen des LSG, die nicht wirksam angegriffen und deshalb für das BSG bindend sind (s § 163 SGG). Schon aus diesem Grunde kann die Klägerin ihre Auffassung nicht auf die Ausführungen im Urteil des 12. Senats des BSG vom 17. Mai 1973 (BSGE 36, 7) stützen. Der 12. Senat hat aaO entschieden, daß ausschließlich mit der Betreuung von Urlaubern am Reise-Zielort beauftragte Reiseleiter nicht in einem Beschäftigungsverhältnis zum Reiseveranstalter stehen. Als entscheidenden Ausgangspunkt hat der 12. Senat bei der rechtlichen Beurteilung aber herausgestellt (aaO S 8 ff), daß der Einsatz der Reiseleiter nicht einen wesentlichen Bestandteil der vom Reiseveranstalter zu erbringenden Leistung gebildet habe, der Reiseveranstalter vielmehr die Betreuung der Urlauber am Zielort lediglich zu verschaffen, nicht zu erbringen gehabt habe. Darüber hinaus waren die Reiseleiter in dem vom 12. Senat entschiedenen Fall nicht weisungsgebunden (aaO S 10). Hier aber lagen, wie aufgezeigt, die Verhältnisse nach den tatsächlichen Feststellungen anders.

Gegenüber den hier gegebenen Merkmalen persönlicher Abhängigkeit, die das Gesamtbild der Tätigkeit geprägt haben, treten andere Umstände - wie etwa die für Beschäftigungsverhältnisse nicht typische Entlohnung nach einer Tagespauschale - in den Hintergrund.

Nach allem hat das LSG zu Recht entschieden, daß die Reiseleiter in einem Beschäftigungsverhältnis zur Klägerin standen.

Die Revision ist mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661849

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