Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 16.04.1975)

SG Berlin (Urteil vom 14.06.1974)

 

Tenor

Die Revisionen des Klägers und der Beigeladenen gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 16. April 1975 werden zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt ist, vom Kläger für die bei ihm beschäftigte Ehefrau, die Beigeladene, ab 1. Januar 1971 Beiträge zur Krankenversicherung zu fordern, weil diese nicht rechtzeitig beantragt hat, sie nach Art. IV § 2 des Gesetzes zur Weiterentwicklung des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung (Zweites Krankenversicherungsänderungsgesetz – 2. KVÄG –) vom 21. Dezember 1970 (BGBl I 1770) von der Krankenversicherungspflicht zu befreien.

Bei einer Betriebsprüfung in den Räumen des Steuerbevollmächtigten des Klägers stellte ein Betriebsprüfer der Beklagten fest, daß der Kläger für seine bei ihm beschäftigte Ehefrau seit dem 1. Januar 1971 keine Beiträge zur Krankenversicherung gezahlt hatte. Der Kläger konnte auch nicht nachweisen, daß die Ehefrau von der Versicherungspflicht befreit worden war. Der Kläger verwies allerdings darauf, der Betriebsprüfer habe sich in dem Büro des Steuerbevollmächtigten davon überzeugen können, daß in der dortigen Personalakte der Beigeladenen der Durchschlag des bis zum 30. Juni 1971 zu stellenden Befreiungsantrags vorliege. Der Steuerbevollmächtigte habe an Hand seines Postausgangsbuchs – das Büro des Steuerbevollmächtigten sei straff und gut organisiert – feststellen können, daß am 7. Juni 1971 mehrere Beitragsnachweisungen, die Befreiungsanträge für die Beigeladene und eine andere Klientin, seine eigene Beitragsnachweisung und ein Scheck zur Post gegeben worden seien. Da der Scheck gutgeschrieben worden sei, müsse auch der Befreiungsantrag der Beigeladenen eingegangen sein. Die Beklagte, die die Angaben des Steuerbevollmächtigten des Klägers nicht voll bestätigen und auch den Eingang des Befreiungsantrags der anderen Klientin nicht feststellen konnte, forderte in zwei Bescheiden vom 18. Oktober 1972 vom Kläger, Krankenversicherungsbeiträge für die beigeladene Ehefrau vom 1. Januar bis 31. Dezember 1971 in Höhe von 613, 80 DM und vom 1. Januar bis 30. September 1972 in Höhe von 552,60 DM nachzuzahlen.

Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 18. April 1973; Urteile des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 14. Juni 1974 und des Landessozialgerichts -LSG- Berlin vom 16. April 1975). Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen dieses Urteil haben der Kläger und die Beigeladene Revision eingelegt. Sie rügen eine Verletzung des Art. 4 § 2 des 2. KVÄG und des § 242 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB).

Der Kläger und die Beigeladene beantragen,

die Urteile des LSG Berlin vom 16. April 1975 und des SG Berlin vom 14. Juni 1974 sowie die Bescheide der Beklagten vom 18. Oktober 1972 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. April 1973 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Revisionen des Klägers und der Beigeladenen zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß das Gericht nach § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revisionen des Klägers und der Beigeladenen sind unbegründet. Sie sind zurückzuweisen.

Das LSG hat im Ergebnis zutreffend entschieden, daß die Beklagte berechtigt ist, vom Kläger für seine bei ihm beschäftigte Ehefrau, die Beigeladene, ab 1. Januar 1971 Beiträge zur Krankenversicherung zu fordern.

Die beiden Beitragsbescheide der Beklagten vom 18. Oktober 1972 sind entgegen der Auffassung der Revisionskläger nicht rechtswidrig.

Das von den Revisionsklägern mit ihren Revisionen weiter verfolgte Begehren richtet sich nach der Fassung der Anträge darauf, die Aufhebung der beiden Bescheide zu verlangen. Das eigentliche Klageziel besteht aber nicht darin. Erstrebt wird vielmehr, durch Richterspruch die Beklagte zu verpflichten, den von ihr verweigerten Befreiungsbescheid zu erteilen. Erst wenn die Beklagte verpflichtet ist, den Befreiungsbescheid zu erlassen, sind die beiden angefochtenen Beitragsbescheide hinfällig. Für spätere Zeiten ist damit die Beklagte ebenfalls nicht berechtigt, Beiträge anzufordern. Allerdings ist den beiden streitigen Bescheiden nicht zu entnehmen, daß die Beklagte es abgelehnt hat, die Befreiung von der Versicherungspflicht in einem Verwaltungsakt auszusprechen. Dies ist aber in dem Widerspruchsbescheid vom 18. April 1973 geschehen. Darin hat die Beklagte u.a. festgestellt, ein Antrag auf Befreiung von der Krankenversicherungspflicht sei bei ihr innerhalb der gesetzlichen Ausschlußfrist, die eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zulasse, nicht eingegangen. Sie hat in ihrem ausführlich begründeten Widerspruchsbescheid hinreichend deutlich zu erkennen gegeben, daß sie sich wegen der Fristversäumnis gehindert sieht, die Beigeladene von der Versicherungspflicht zu befreien und darüber einen Bescheid zu erteilen. Mag auch das letztere nicht ausdrücklich erklärt worden sein, so ergibt es sich doch aus dem Gesamtzusammenhang. Das rechtfertigt es, zu Gunsten der Revisionskläger den Antrag dahin umzudeuten, daß die Beklagte durch Urteil verpflichtet werden soll, den von ihr bisher abgelehnten Befreiungsbescheid zu erlassen (§ 54 Abs. 1 Satz 1, 2. Alternative SGG).

Daß die Befreiung von der Versicherungspflicht durch Verwaltungsakt zu geschehen hat und erst durch ihn rechtswirksam wird, es also nicht ausreicht, daß ein Befreiungsantrag gestellt wird, ist allerdings in der Vorschrift des Art. 4 § 2 des 2. KVÄG nicht geregelt. Diese Vorschrift enthält keine Bestimmungen über das Befreiungsverfahren und über die Rechtswirkung einer Entscheidung über die Befreiung von der Versicherungspflicht. Insofern ist Art. 4 § 2 des 2. KVÄG lückenhaft. Diese Lücke läßt sich aber durch entsprechende Anwendung bestehender Vorschriften über die Befreiung von der Versicherungspflicht aus anderen Gründen schließen. Dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung ist die antragsabhängige Befreiung von der Versicherungspflicht bekannt. Die Befreiung von der Versicherungspflicht ist bestimmten Personen ermöglicht, so solchen, die als Ruhegehaltsempfänger in ein an sich versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis treten (§ 173 Abs. 1 RVO), ferner solchen, die bei einem Krankenversicherungsunternehmen versichert sind, unter bestimmten Voraussetzungen (§§ 173a Abs. 1, 173b Abs. 1 Satz 1, 173c Abs. 1 Satz 1, 173d Abs. 1 RVO). Während die Vorschriften der §§ 173a bis d RVO über das Befreiungsverfahren nichts aussagen, bestimmt § 173 Abs. 2 Satz 1 RVO: ”Über den Antrag entscheidet der Leiter der Krankenkasse”. Diese Entscheidung ist ein Verwaltungsakt (Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Teil II, 43. Nachtrag, § 173, Anm. 4a), der bis zum Widerruf (§ 173 Abs. 3 RVO) rechtswirksam bleibt (Peters, aaO, § 173, Anm. 4a aa). Die Befreiung hat konstitutive Wirkung. Erst durch die Entscheidung der Krankenkasse über den Befreiungsantrag wird der Versicherte von der Versicherungspflicht befreit (BSG SozR 2200 § 173 Nr. 1). Es ist kein Grund ersichtlich, daß bei Befreiungsanträgen nach Art. 4 § 2 des 2. KVÄG anders als bei Befreiungsanträgen nach § 173 Abs. 1 RVO verfahren werden soll. Daher ist die Lücke in der Vorschrift des Art. 4 § 2 des 2. KVÄG durch richterliche Entscheidung dahin zu schließen, daß über einen nach dieser Vorschrift gestellten Befreiungsantrag entsprechend § 173 Abs. 2 Satz 1 RVO zu entscheiden, also dem Versicherten ein Befreiungsbescheid mit konstitutiver Wirkung zu erteilen ist.

Die Beklagte ist aus doppeltem Grund nicht dazu zu verpflichten, den Befreiungsbescheid zu erlassen.

Der erste Grund ist, daß der Antrag der Versicherten, der Voraussetzung für jeden Befreiungsbescheid ist, fehlt. Der nach Art. 4 § 2 des 2. KVÄG erforderliche und bis zum 30. Juni 1971 zu stellende, also fristgebundene Antrag des Versicherten, ihn von der Versicherungspflicht zu befreien, ist der Beklagten nicht innerhalb dieser Frist zugegangen. Auf den Zugang bei der Beklagten kommt es jedoch entscheidend an. Wenn sich auch bei diesem Antrag die verfahrensrechtliche und materiell-rechtliche Bedeutung unterscheiden lassen, so hat doch die zweite Funktion, mit ihm einen Anspruch geltend zu machen und zugleich dem beantragten Verwaltungsakt zuzustimmen, das Übergewicht. Insofern ist der Antrag eine Willenserklärung des öffentlichen Rechts. Auf Willenserklärungen Privater (nichtamtliche Willenserklärungen) sind die Grundsätze des bürgerlichen Rechts über Willenserklärungen entsprechend anzuwenden, weil weder im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung noch sonst im Sozialversicherungsrecht, aber auch nicht im allgemeinen Verwaltungsrecht besondere Rechtsvorschriften über Willenserklärungen des öffentlichen Rechts bestehen (vgl. Peter Badura, Das Verwaltungsverfahren, in: Erichsen/Martens, Allg. VerwR, 1975, das Verwaltungsverfahren, S. 233, hier: S. 250 mit Nachweisen; Kempfer, NJW, 1965, 1951; Peter Krause, Die Willenserklärungen im Bereich des öffentlichen Rechts, VerwArch, 1970, 297, hier: 320). Daher ist § 130 BGB entsprechend anzuwenden. Nach § 130 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BGB wird eine Willenserklärung, die einem anderen – auch einer Behörde – gegenüber in dessen Abwesenheit abgegeben wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in welchem sie ihm zugeht. Der Zugang des Befreiungsantrags der Beigeladenen bis zum Ablauf des 30. Juni 1971 hat sich nicht feststellen lassen. Ohne den fristgerechten Antrag war die Beklagte nicht befugt, die streitige Befreiung auszusprechen.

Der zweite Grund dafür, daß die Beklagte nicht zu verpflichten ist, den Befreiungsbescheid zu erlassen, liegt in folgendem:

Selbst wenn man annehmen wollte, daß in dem Widerspruch gegen die beiden Beitragsbescheide zugleich der bis dahin fehlende Befreiungsantrag gesehen werden könnte, wäre ein solcher Antrag jedenfalls nach Ablauf der gesetzlichen Frist – 30. Juni 1971 – gestellt und daher verspätet.

Wegen der Fristversäumnis ist keine Wiedereinsetzung zuzulassen. Denn die hier zu beachtende Frist ist eine Ausschlußfrist. Bei einer Ausschlußfrist kommt ihrem Wesen nach eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, um die Fristversäumnis zu beseitigen, nicht in Betracht.

Allerdings hat der Gr. Senat des BSG in seinem Beschluß vom 9. Juni 1961 – GS 2/60 – (BSGE 14, 246; dazu zustimmend: Nipperdey, NJW, 1962, 321; Küster, RzW, 1962, 205; Zschacke, DVBl, 1962, 322; kritisch dazu: Pentz, RzW, 1962, 269; Menger, VerwArch, 1963, 207; Schieckel, SGb, 1963, 80; vgl. auch: Haueisen, NJW, 1966, 1433) zur Ausschlußfrist des § 58 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) a.F. entschieden, die Fristvorschrift gelte nicht für Fälle, in denen die Voraussetzungen des verspätet angemeldeten Anspruchs zweifelsfrei gegeben seien. Aus dem Grundgedanken, daß dem Inhalt jeder Rechtsvorschrift durch ihre rechtsethische und soziale Funktion Grenzen gesetzt sind (aaO, 249), hat er abgeleitet: § 58 Abs. 1 BVG a.F. habe auch Ordnungscharakter in dem Sinn, daß die Anmeldung des Versorgungsanspruchs an eine bestimmte Frist gebunden sein soll, um der Verwaltung einen ausreichenden Überblick über den Umfang der Versorgungslast zu ermöglichen; Entstehungsgeschichte, Sinn und Zwck der Fristvorschriften ließen aber erkennen, daß jener Zweck vor dem Ziel zurücktrete, die Verwaltung davor zu schützen, daß Ansprüche gegen sie zu einer Zeit erhoben würden, zu welcher der Sachverhalt nur noch unter größten Schwierigkeiten aufzuklären sei. Sei das aber nicht gefährdet, weil die Voraussetzungen des “verspätet angemeldeten” Anspruchs zweifelsfrei gegeben seien, lasse es die Funktion der Fristvorschriften nicht zu, sie anzuwenden (aaO, 250). Auf diese Weise hat der Gr. Senat, wie bereits vor ihm der 2. Senat in BSGE 10, 88, 91, bei der Ausschlußfrist des § 1546 RVO nach seiner Auffassung sozial unangemessene und mit der Ausschlußfrist nicht gewollte Ergebnisse vermeiden wollen (aaO, 251).

Diesen Gedanken der Fristenfunktion möchten die Revisionskläger nicht auf Leistungsansprüche beschränkt wissen. Dieser Gedanke sei vielmehr als allgemeiner Grundsatz schlechthin in dem Verhältnis zwischen den Versicherungsträgern und den Versicherten bei allen Fristen maßgebend. Dieser Argumentation hat sich das Berufungsgericht mit Recht widersetzt. Die von den Revisionsklägern angeführte Rechtsprechung des BSG, insbesondere des Gr. Senats (BSGE 14, 246) bezieht sich, wie schon das LSG ausgeführt hat, ausschließlich auf Leistungsansprüche. Hier geht es dagegen um die Ausübung eines Gestaltungsrechts. Schon von der Rechtsform her hat daher das LSG Bedenken gehabt, die Rechtsprechung zum Leistungsrecht auf einen anders gelagerten Fall zu übertragen. Außerdem hat es sich darauf berufen, der 3. Senat des BSG habe sich – selbst bei Übernahme der Erwägungen des Gr. Senats – im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht dazu verstehen können, die Anspruchsbeschränkungen, die sich aus § 216 Abs. 3 RVO für den Fall der nicht rechtzeitigen Arbeitsunfähigkeitsmeldung ergeben, in wirklichen oder vermeintlichen Härtefällen als gegenstandslos anzusehen (BSGE 29, 271, 273). Vielmehr habe der 3. Senat, so hat das LSG weiterhin ausgeführt, die strikte Anwendung der Ausschlußwirkung des § 216 Abs. 3 RVO auf Grund der Funktionsprüfung gefordert. § 216 Abs. 3 RVO solle die Krankenkasse nicht so sehr vor der Schwierigkeit schützen, die Voraussetzungen eines verspätet angemeldeten Anspruchs im Nachhinein aufzuklären, sondern in erster Linie es der Krankenkasse ermöglichen, ihrer gesetzlichen Pflicht (§ 369b Abs. 1 Satz 1 RVO) zu genügen, die Arbeitsunfähigkeit des Versicherten in den erforderlichen Fällen durch einen Vertrauensarzt “rechtzeitig” nachprüfen zu lassen. Für eine gleich klare Ausschlußwirkung hat sich das LSG bei der Versäumung der Ausschlußfrist eingesetzt. Die Ausschlußfrist solle hier nicht etwa die Krankenkasse vor der Schwierigkeit schützen, die Voraussetzungen eines verspätet angemeldeten Anspruchs im Nachhinein aufzuklären. Die Befristung diene vielmehr dazu, den durch das Wahlrecht der von der Befreiungsmöglichkeit betroffenen Personen entstandenen Schwebezustand innerhalb eines festen Zeitraums zu beenden. Nach Ablauf dieses Zeitraums müsse im beiderseitigen Interesse Klarheit darüber herrschen, ob die gesetzliche Versicherungspflicht bestehe und im Krankheitsfall Leistungen zu gewähren seien.

Dem ist zuzustimmen. Die Durchbrechung der Ausschlußfristwirkung bei verspäteter Meldung von Leistungsansprüchen, wenn die Voraussetzungen des Anspruchs zweifelsfrei erfüllt sind, hat das BSG aus zwei, freilich verschieden starken Gründen zugelassen: Die Anmeldefrist soll der Verwaltung einen ausreichenden Überblick über den Umfang der Versorgungslast ermöglichen, mehr noch aber soll die Verwaltung davor geschützt werden, daß gegen sie Ansprüche zu einer Zeit erhoben werden, in der der Sachverhalt nur noch unter größten Schwierigkeiten aufzuklären ist. Diese Interessenlage besteht bei einem befristet möglichen Antrag auf Befreiung von der Versicherungspflicht nicht. Hier steht eindeutig das Ordnungsinteresse beider Beteiligten im Vordergrund, nämlich das des Versicherten, aus dem Kreis der Versicherten auszuscheiden, sowie das des Krankenversicherungsträgers, die befristet eröffnete Möglichkeit zur Befreiung von der Versicherungspflicht alsbald durch eine eigene Entscheidung über den Antrag auf Befreiung von der Versicherungspflicht abzuschließen und so Klarheit darüber zu gewinnen, wer Kassenmitglied (§ 306 RVO) ist. Bei dieser Interessenlage besteht entgegen der Auffassung der Revisionskläger kein Grund, die Ausschlußwirkung des Art. 4 § 2 des 2. KVÄG zu durchbrechen. Der Befreiungsantrag mußte daher dem Krankenversicherungsträger bis zum Ablauf des 30. Juni 1971 zugegangen sein.

Die Revisionskläger beziehen sich zur weiteren Begründung des von ihnen erstrebten gegenteiligen Ergebnisses auf das Urteil des erkennenden Senats vom 26. Mai 1971 – 12/11 RA 118/70 – (SGb 1971, 272 = BeitragsR 1971, 340). Der Kläger des damaligen Verfahrens hatte behauptet, er habe in einem Schreiben an den Rentenversicherungsträger auf die bisherige Befreiung von der Versicherungspflicht verzichtet und dieses Schreiben als einfachen Brief rechtzeitig vor Ablauf der in Art. 2 § 5a Satz 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) bestimmten Frist (30. Juni 1968) in einen Postbriefkasten eingeworfen. Der erkennende Senat hat in diesem Fall die Durchbrechung der Ausschlußfrist des Art. 2 § 5a Satz 1 AnVNG unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BSG (BSGE 10, 88, 92; 14, 246, 249; 29, 271, 273, 274) u.a. damit begründet, die Verzichtserklärung in Art. 2 § 5a Satz 1 AnVNG diene dazu, den durch das Wahlrecht der von der Vorschrift betroffenen Personen entstandenen Schwebezustand innerhalb eines festen Zeitraums zu beenden. Dabei gebiete das Interesse des Versicherungsträgers an einer alsbaldigen Erfassung des auf Antrag der Pflichtversicherung wieder unterliegenden Personenkreises dann keine starre Handhabung der Ausschlußfrist, wenn deren Versäumung nicht im Verantwortungsbereich des Klägers liegt. Wenn der Kläger von der Verzichtsbefugnis habe Gebrauch machen wollen, sei er darauf angewiesen gewesen, seine Erklärung mit Hilfe der Deutschen Bundespost der Beklagten zur Kenntnis zu bringen. Nach Aufgabe des Briefes beider Post habe der Kläger auf den weiteren Gang der Beförderung keinen Einfluß gehabt. Aus diesem Grund sei auch eine andere Betrachtungsweise als zu der Vorschrift des § 130 BGB gerechtfertigt, zumal sich hier letztlich eine staatliche Stelle auf die durch eine andere staatliche Stelle – noch dazu in Ausübung eines Monopols – womöglich verursachte Fristversäumnis berufe. Dem Kläger könne daher im Verhältnis zum Versicherungsträger nicht das Risiko des Zugangs bzw. des rechtzeitigen Zugangs aufgebürdet werden.

Die Revisionskläger können mit dieser Argumentation nicht durchdringen. Der Senat hält nämlich nach erneuter Prüfung nicht mehr an dieser Rechtsprechung, die auch auf Anträge übertragen werden könnte, fest. Er gibt sie auf. Er sieht keinen Grund, eine vom Gesetzgeber verfügte Ausschlußfrist zu durchbrechen, um den Versicherten vom Übermittlungsrisiko bei der Postbeförderung zu entlasten. Er ist vielmehr der Auffassung, daß auch empfangsbedürftige öffentlich-rechtliche Willenserklärungen der Regelung des Übermittlungsrisikos nach § 130 BGB (vgl. dazu: Soergel/Siebert/Hefermehl, BGB, 1. Bd. 10. Aufl. 1967, § 130, Anm. 7; Staudinger/Coing, BGB, Allg. Teil, 11. Aufl. 1957, § 130, Anm. 2 a.E.; Erman/Harry Westermann, BGB, 1. Bd., 6. Aufl. 1975, § 130, Anm. 1 bis 3) unterliegen. Das Postmonopol kann keine Veranlassung geben, von dieser Regel abzugehen. Es bestand bereits, als das Übermittlungsrisiko in § 130 BGB festgelegt wurde. Seit jeher hat derjenige, der eine Briefsendung in einen Briefkasten einwirft oder sonstwie der Post zur Beförderung übergibt, keinen Einfluß darauf, ob, wann und wie die Sendung befördert und dem Empfänger zugeleitet wird. Deshalb hätte die Ausschlußfrist des Art. 4 § 2 des 2. KVÄG nur gewahrt sein können, wenn der Antrag der Beklagten rechtzeitig, also bis zum 30. Juni 1971 fristgerecht zugegangen wäre (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 23. Juni 1976 – 12/7 RAr 80/74 –, zur Veröffentlichung bestimmt). Das war aber, wie bereits festgestellt, nicht der Fall. Der durch die Versäumnis ausgelöste Rechtsnachteil ist nicht mehr abzuwenden und vom Betroffenen hinzunehmen. Die Ausschlußfrist wirkt von Rechts wegen und unbedingt (vgl. BSG SozR Nr. 9 zu Art. 2 § 44 ArVNG; Nr. 10, aaO, mit weiteren Nachweisen; Nr. 12, aaO; BSGE 22, 257, 258; SozR Nr. 3 zu § 143 1 AVAVG; Urteil des erkennenden Senats vom 23. Juni 1976 – 12/7 RAr 80/74 –, zur Veröffentlichung bestimmt).

Die Revisionskläger möchten freilich das Ergebnis zu ihren Gunsten auch dadurch wenden, daß sie der Beklagten vorwerfen, sie berufe sich rechtsmißbräuchlich auf die Wirkung der Ausschlußfrist. Damit können sie jedoch nicht durchdringen. Es kann den Revisionsklägern zugegeben werden, daß es in besonders gelagerten Fällen dem von der Ausschlußwirkung Betroffenen gestattet sein kann, diese Wirkung durch Berufung auf Treu und Glauben auszuräumen. Bei einer gesetzlichen Ausschlußfrist, wie der hier in Rede stehenden, lassen Stimmen im Schrifttum den Einwand unzulässiger Rechtsausübung nur zu, wenn die Fristwahrung vorsätzlich vereitelt worden ist (z.B. Gadow, IheringsJ 84, 195; Staudinger/Weber, 11. Auflage 1961, § 242 D 507). Der 7. Senat des BSG hat in BSGE 22, 257, 260 diese Auffassung ebenfalls ausgesprochen. Es hat Rechtsmißbrauch allgemein nur angenommen, wenn die Behörde vorsätzlich die Versäumung der Ausschlußfrist herbeigeführt hat oder nunmehr eine Haltung einnimmt, die mit ihrem früheren Verhalten, das den Antragsteller vernünftigerweise von der Fristwahrung abgehalten hat, unvereinbar ist. In dieser Entscheidung hat der 7. Senat – unabhängig von dem Gesagten – auf die Besonderheiten der Einzelumstände abgehoben und deshalb den Einwand des Rechtsmißbrauchs für gerechtfertigt erklärt. Die Einzelumstände lagen dort darin, daß das mit der Zustellung befaßte Postamt ein am selben Ort und am selben Tag gegen 14.00 Uhr aufgegebenes Eil-Einschreiben um 18.00 Uhr beim Arbeitsamt als Empfänger nicht zuzustellen versucht und daß das Arbeitsamt das Postamt nicht über seinen, wegen der besonderen Bedeutung des Fristablaufs für die Bauwirtschaft bis 24.00 Uhr eingerichteten Bereitschaftsdienst unterrichtet hatte. Abgesehen von derartigen subjektiven Gründen, bei denen demjenigen, der sich auf die Ausschlußwirkung beruft, seine eigene Verhaltensweise als der Sache abträglich entgegengehalten werden kann, werden ausnahmsweise in einzelnen Fällen auch objektive Gründe eine Berufung auf die Ausschlußwirkung unstatthaft machen können.

So hat der erkennende Senat in seinem Urteil vom 23. Juni 1976 – 12/7 RAr 80/74 – (zur Veröffentlichung bestimmt) ausgeführt, daß Rechtsmißbrauch durch Berufung auf die Wirkung der Ausschlußfrist allenfalls dann vorliegen kann, wenn die Ausschlußfrist für die Verwaltung von geringer Bedeutung ist und ganz erhebliche, langfristig wirksame Interessen des Bürgers auf dem Spiel stehen. Bei lediglich objektiven Gründen ist also, ebenso wie bei den subjektiven Gründen, große Zurückhaltung geboten, wenn man die Wirkung einer Ausschlußfrist beseitigen will. Das ist deshalb geboten, um den mit einer Ausschlußfrist stets verbundenen Zweck, eine gesetzliche Berechtigung kraft Gesetzes mit Fristablauf zu beenden, nicht zu gefährden und auf Umwegen eine bei einer Ausschlußfrist ausgeschlossene Wiedereinsetzung in den vorigen Stand einzuführen.

Da in dem hier zu entscheidenden Fall subjektive Gründe ohnehin ausscheiden, kann lediglich geprüft werden, ob die versäumte Frist für den unter Ausschlußfristwirkung stehenden Befreiungsantrag für die Beklagte von geringer Bedeutung ist und ganz erhebliche, langfristig wirksame Interessen der Revisionskläger auf dem Spiel stehen. Nach der Lage des Falles kann offen bleiben, ob die erstgenannte Voraussetzung erfüllt ist. Bei der notwendigen Abwägung der Interessenlage ist zu berücksichtigen, daß die erstrebte Befreiung von der Versicherungspflicht nur eingeschränkt bedeutsam ist. Die begehrte Befreiung von der Versicherungspflicht bezog sich nur auf das bestehende Ehegatten-Beschäftigungsverhältnis zwischen der Ehefrau und ihrem Ehemann. Bei der Aufgabe dieses Beschäftigungsverhältnisses wird eine Befreiung von der Versicherungspflicht ohnehin gegenstandslos werden. Jede spätere Beschäftigung, auch eine solche der Ehefrau bei ihrem Ehemann, wäre sodann grundsätzlich versicherungspflichtig. Ganz erhebliche, langfristig wirksame Interessen der Revisionskläger scheiden daher hier aus.

Es muß also dabei sein Bewenden haben, daß die Beklagte wegen der versäumten Ausschlußfrist nicht verpflichtet werden kann, die beigeladene Ehefrau von der Versicherungspflicht zu befreien.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1415593

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