Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Sozialgerichts für das Saarland vom 29. November 1978 und des Landessozialgerichts für das Saarland vom 17. Juli 1979 sowie der Bescheid der Beklagten vom 26. Juni 1978 aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid über die Verletztenrente ihres verstorbenen Ehemannes zu erteilen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin begehrt als Sonderrechtsnachfolgerin ihres am 29. Januar 1977 verstorbenen Ehemannes aus dessen Unfallversicherung Verletztenrente wegen einer Berufskrankheit. Seinen im Mai 1973 gestellten Antrag, ihm Rente wegen einer Quarzstaublungenerkrankung (Silikose) oder einer Quarzstaublungenerkrankung in Verbindung mit aktiver Lungentuberkulose (Siliko-Tuberkulose) zu gewähren, hatte die Beklagte mit Bescheid vom 13. Juni 1975 abgelehnt. Die dagegen gerichtete Klage des Versicherten sowie seine Berufung waren ohne Erfolg geblieben (Urteile vom 5. März und 5. Mai 1976).

Die nach dem Tode des Versicherten durchgeführte Leichenöffnung ergab, daß er an einer leichten Silikose mit aktiver Lungentuberkulose gelitten hatte. Die Beklagte gewährte der Klägerin Sterbegeld, Überbrückungshilfe und Witwenrente, lehrte jedoch mit Bescheid vom 26. Juni 1978 den am 3. Mai 1977 eingegangenen Antrag der Klägerin ab, ihr nachträglich die ihrem Ehemann wegen seiner Berufskrankheit zustehende Verletztenrente zu gewähren. Ein derartiger Anspruch sei nach § 59 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil (SGB 1) erloschen.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und das Landessozialgericht (LSG) die in erster Instanz zugelassene Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteile vom 29. November 1978 und 17. Juli 1979). § 59 SGB 1 stehe einer Neufeststellung der Verletztenrente gemäß § 627 Reichsversicherungsordnung (RVO) entgegen. Zur Zeit seines Todes sei ein Anspruch des Versicherten auf Verletztenrente nicht anerkannt und nicht mehr anhängig gewesen. Auch habe weder der Versicherte selbst einen Überprüfungsantrag nach § 627 RVO gestellt noch die Beklagte vor seinem Tod ein solches Verfahren eingeleitet.

Dieses Urteil hat die Klägerin mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, § 59 SGB 1 solle verhindern, daß nach dem Tode des Versicherten unter Umständen noch nach Jahren Ansprüche angemeldet würden, wenn die Ermittlung des Sachverhalts schwierig geworden sei. Dagegen habe der Gesetzgeber mit der genannten Vorschrift nicht die Zahlung einer Leistung untersagen wollen, von der feststehe, daß sie zu Lebzeiten des Versicherten zu Unrecht abgelehnt worden sei.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Urteils des SG zu verurteilen, ihr als Rechtsnachfolgerin ihres Ehemannes, die diesem zustehende Rente wegen einer Siliko-Tuberkulose zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie steht auf dem Standpunkt, nach dem eindeutigen Wortlaut des § 59 SGB 1 seien die Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs nicht erfüllt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist begründet. Der Antrag auf Neufeststellung der abgelehnten Rente wegen einer Quarzstaublungenerkrankung kann im Falle der Klägerin nicht unter Hinweis auf § 59 SGB 1 abgelehnt werden.

Für die Klägerin gelten die Vorschriften der §§ 56 ff SGB 1, denn ihr Ehemann ist nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes gestorben (Art II § 19 SGB 1). Dem Sonderrechtsnachfolger stehen nach § 56 Abs. 1 SGB 1 fällige Ansprüche auf laufende Geldleistungen beim Tode des Berechtigten zu. Ansprüche auf Sozialleistungen werden – soweit keine entgegenstehenden Regelungen vorhanden sind – mit ihrem Entstehen fällig (§ 41 SGB 1) und sie entstehen, sobald die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (§ 40 Abs. 1 SGB 1). Abgelehnt hat die Beklagte mit Bescheid vom 13. Juni 1975 einen Anspruch des Versicherten auf Rente wegen einer Quarzstaublungenerkrankung nach den Nrn 34 oder 35 der Anlage zur 7. Berufskrankheitenverordnung vom 20. Juni 1968 (BKVO – jetzt Nrn 4101 und 4102 der BKVO idF der Verordnung vom 8. Dezember 1976). Voraussetzung eines solchen Anspruchs ist eine entschädigungspflichtige Berufskrankheit der bezeichneten Art (§ 551 Abs. 1 Satz 1 RVO, § 1 BKVO), die entweder eine Krankheit im Sinne der Krankenversicherung sein oder eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) verursacht haben muß (§ 551 Abs. 3 RVO). Die Feststellung der Leistung hat – ohne Antrag – von Amts wegen zu erfolgen (§ 1545 Abs. 1 Nr. 1 RVO). Falls die Neufeststellung gemäß § 627 RVO ergibt, daß der Ehemann der Klägerin an einer Silikose oder an einer Siliko-Tuberkulose gelitten und die dadurch bedingte MdE mindestens 20 vH betragen hat (§§ 551 Abs. 3 Satz 1, 580 Abs. 1, 581 Abs. 1 RVO), waren die entsprechenden, von der Beklagten zu zahlenden Geldleistungen zur Zeit seines Todes fällig im Sinne der §§ 40 Abs. 1, 41, 56 Abs. 1 Satz 1 SGB 1. Die Überprüfung des Bescheides vom 13. Juni 1975 wird nicht dadurch gehindert, daß er durch rechtskräftige sozialgerichtliche Entscheidungen bestätigt worden ist (vgl BSG in SozR Nr. 2 zu § 619 RVO aF und Nr. 1 zu § 93 Reichsknappschaftsgesetz –RKG–).

Ein Anspruch auf Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung, die dem Ehemann der Klägerin zu dessen Lebzeiten hätte gewährt werden müssen, könnte begründet sein, wenn sich die Beklagte gemäß § 627 RVO in der zur Zeit des Todes des Versicherten gültigen Fassung von der Unrichtigkeit ihres Bescheides vom 13. Juni 1975 überzeugen müßte. Wie der Senat bereits zu § 619 RVO sF entschieden hat (Urteil vom 13. Mai 1966 in SozR Nr. 3 zu § 619 RVO aF, der bis zum 1. Juli 1963 dem § 627 RVO entsprach), steht der Tod des Berechtigten der Neufeststellung einer vorher ihm gegenüber zu Unrecht abgelehnten Leistung zugunsten der Rechtsnachfolger nicht entgegen. Durch die Vorschrift über die Neufeststellung der abgelehnten Rente wird nicht ein neuer materieller Anspruch begründet, sondern nur die Weit er Verfolgung eines bereits früher erhobenen und zu Unrecht abgelehnten Anspruchs ermöglicht. Insoweit besteht eine wesentliche Ähnlichkeit mit dem Verfahren nach § 1744 RVO in der bis zum 1. Januar 1981 gültigen Fassung. Dieser Rechtsprechung hat sich der 12. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) angeschlossen (Urteil vom 13. November 1974 in BSGE 38, 211, 212 – SozR 2200 § 1300 Nr. 4 mwN). Sie ist – jedenfalls für die Zeit der Geltungsdauer des § 627 RVO – nicht durch das Inkrafttreten des SGB 1 am 1. Januar 1976 überholt.

Die für die Sonderrechtsnachfolger jetzt gültige Regelung des § 59 Satz 2 SGB 1 bestimmt, daß Ansprüche auf Geldleistungen beim Tode des Berechtigten nur dann nicht erlöschen, wenn sie im Leitpunkt des Todes entweder festgestellt sind oder noch ein Verwaltungsverfahren über sie anhängig ist. Auf die von Wertenbruch (Sozialverfassung – Sozialverwaltung, 1974, S. 91 f) gegen diese Regelung schon zum Entwurf des SGB 1 vorgebrachten Bedenken braucht hier nicht eingegangen zu werden. Der Senat folgt der im Schrifttum vertretenen Auffassung, daß ein Verwaltungsverfahren im Sinne des § 59 Satz 2 SGB 1 auch dann „anhängig” ist, wenn die Rechtsnachfolger gemäß §§ 627, 1300 RVO die Fortsetzung des ursprünglichen Verfahrens betreiben (so Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung S. 609 a, 734 d; Heinze in Bochumer Kommentar zum SGB 1 § 59 Rz 9; Hauck/Haines SGB 1 K § 59 Rz 5; Schroeter in SGB/RVO Gesamtkommentar § 59 SGB 1 Anm. 3a; Miesbach-Buse, RKG Anm. 2 zu § 59 SGB 1; wohl auch Peters SGB 1 § 59 Anm. 5). Die im Schrifttum ebenfalls vertretene gegenteilige Ansicht, wie Burdenski in Burdenski/von Maydell/Schellhorn, Kommentar zum SGB 1 § 59 Rz 11; Kocher in Jahn, SGB für die Praxis § 59 Anm. 2; Casselmann in „Die Rentenversicherung im Sozialgesetzbuch”, begründet als „Das Angestelltenversicherungsgesetz” von Koch/Hartmann, § 59 SGB 1 Rz 8; Schimanski/Emmerich/Warode/Lueg, Knappschaftsversicherung, § 88 RKG, Anm. 19; Grüner SGB 1 § 59 Anm. III 2) vermag der Senat nicht zu teilen, weil sie nicht dem Sinn und Zweck der in § 59 Satz 2 SGB 1 getroffenen Regelung gerecht wird, wonach den Rechtsnachfolgern die rechtlichen Möglichkeiten eingeräumt werden sollen, die der Leistungsberechtigte selbst zu Lebzeiten nach der Antragstellung gehabt hätte. Berechtigter im Sinne der Vorschrift ist deshalb auch der Rechtsnachfolger, wenn er das vom Versicherten bereits begonnene Rentenverfahren lediglich fortsetzt (vgl Urteil vom 13. November 1974 a.a.O.). Insoweit ist das Verwaltungsverfahren über den betreffenden Rentenanspruch rückwirkend wieder als anhängig iS des § 59 Satz 2 SGB 1 anzusehen.

Eine solche Auslegung des § 59 Satz 2 SGB 1 ist auch verfassungskonform. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG in SozR 7610 § 1587 Nr. 1 mwN) gilt der Schutz der Eigentumsgarantie des Art. 14 Grundgesetz (GG) für Ansprüche auf Versichertenrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung und für solche Rechtspositionen der Versicherten, die nach der Begründung des rentenrechtlichen Verhältnisses und bei Erfüllung weiterer Voraussetzungen zum Vollrecht erstarken können (Rentenanwartschaften). Zwar besagt die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG nicht, daß alle vom Erblasser erworbenen Ansprüche als vererblich gestaltet werden müssen (vgl BverfGe 19, 202; BSG in BSGE 37, 199, 202 – SozR 2200 § 1288 Nr. 1): Für vom Versicherten selbst zu Lebzeiten geltend gemachte und „anhängige” Ansprüche auf Geldleistungen im Sinne des § 59 SGB 1 ist die Vererblichkeit aber ausdrücklich gesetzlich vorgesehen und mit der verfassungsmäßigen Eigentumsgarantie steht es daher in Einklang, diejenigen Ansprüche einzubeziehen, die sich ergeben, wenn das Verwaltungsverfahren über den betreffenden Rentenanspruch rückwirkend wieder als anhängig anzusehen ist.

Die Rechtsprechung des BSG im Bereich der Kriegsopferversorgung steht dieser Auffassung nicht entgegen, weil die entsprechende Regelung in § 40 Verwaltungsverfahrensgesetz (KOVVfG, früher VerwVG) abweichend von § 627 RVO gestaltet war (vgl BSG in BSGE 45, 1 = SozR Nr. 9 zu § 40 VerwVG). Zwar hat das SGB die Vereinheitlichung des Sozialrechts zum Ziel; solange die erwähnten unterschiedlichen Vorschriften jedoch noch gültig waren, muß den sich daraus ergebenden Konsequenzen Rechnung getragen werden.

Für die nun von der Beklagten vorzunehmende Überprüfung muß beachtet werden, daß § 627 RVO durch Art II § 4 Nr. 1 SGB Verwaltungsverfahren vom 18. August 1980 (BGBl I S. 1469 –SGB 10–) gestrichen worden ist und daß bereits begonnene Verwaltungsverfahren grundsätzlich nach den Vorschriften des neuen Rechts zu Ende zu führen sind (Art II § 37 Abs. 1 SGB 10). Diese Regelungen sind indes nicht schlechthin am 1. Januar 1981 in Kraft getreten, wenn – wie im vorliegenden Fall – durch Art II § 40 Abs. 2 Satz 3 SGB 10 „anderes bestimmt ist” (Art II § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB 10). Nach Art II § 40 Abs. 2 Satz 3 SGB 10 sind von der Anwendung des – die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes neu regelnden – § 44 SGB 10 solche Verwaltungsakte ausgenommen, die in der Sozialversicherung bereits bestandskräftig waren und bei denen auch nach § 1744 RVO in der vor dem 1. Januar 1981 gültigen Fassung eine neue Prüfung nicht hätte vorgenommen werden können. Das trifft hier auf den Bescheid vom 13. Juni 1975 zu. Es kann aber nicht angenommen werden, daß diese Vorschrift im Zusammenhang mit der Streichung des § 627 RVO bewirken soll, eine Überprüfung der vor dem 1. Januar 1.981 ergangenen Verwaltungsakte sei nun weder nach § 627 RVO noch nach § 44 SGB 10 möglich. Vielmehr ist die Übergangsregelung des SGB 10 dahin zu verstehen, daß dann, wenn die Ausnahme des Art II § 40 Abs. 2 Satz 3 SGB 10 zu bejahen ist, jedenfalls für bereits laufende und noch nicht abgeschlossene Überprüfungsverfahren weiterhin § 627 RVO gilt. Nur diese Auslegung wird den Intentionen des Gesetzgebers gerecht. Nach der Begründung zu § 42 des Entwurfs eines SGB – Verwaltungsverfahren – (BT-Drucks 8/2034, S. 34) – jetzt § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB 10 – verallgemeinert diese Vorschrift einen Grundsatz, der in den §§ 627, 1300 RVO niedergelegt und für das gesamte Sozialrecht geboten ist. Es kann daher nicht angenommen werden, daß durch die Übergangsregelung vor dem 1. Januar 1981 erlassene und bestandskräftig gewordene Verwaltungsakte von der Überprüfungsmöglichkeit des § 627 RVO ausgeschlossen werden sollen. Anderenfalls würden sich unterschiedliche Entscheidungen ergeben, je nachdem, ob der Versicherungsträger seiner Überprüfungspflicht in dem bereits laufenden Neufeststellungsverfahren noch vor dem 1. Januar 1981 oder erst nach dem 31. Dezember 1980 nachgekommen ist, was auch mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht zu vereinbaren wäre.

Die Beklagte hat es im angefochtenen Bescheid vom 26. Juni 1978 dahingestellt sein lassen, ob sie nach den Erkenntnissen der Obduktion von der Rechtswidrigkeit der abgelehnten Rente im Sinne des § 627 RVO überzeugt ist. Sie hat also die Erteilung des Neufeststellungsbescheides abgelehnt. Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin daher eine Verurteilung der Beklagten zum Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsaktes (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz –SGG–). Der zu Unrecht auf § 59 Satz 2 SGB 1 gestützte Bescheid vom 26. Juni 1978, der der Neufeststellung entgegensteht, mußte daher aufgehoben werden und die Beklagte war zu verpflichten, einen neuen Verwaltungsakt unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu erteilen (§ 131 Abs. 2 SGG). Sie wird nun nach § 627 RVO zu prüfen und zu entscheiden haben, ob sie von der Unrichtigkeit des Bescheides vom 13. Juni 1975 überzeugt ist und gegebenenfalls welche Leistungen der Klägerin zu gewähren sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1064920

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