Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 06.06.1991; Aktenzeichen L 6 U 109/90)

SG Oldenburg (Urteil vom 10.10.1990)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 6. Juni 1991, das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 10. Oktober 1990 sowie der Bescheid der Beklagten vom 25. Juli 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 1988 aufgehoben.

Es wird festgestellt, daß der Zustand des Klägers nach Oberschenkel-Fraktur rechts und Patella-Fraktur links Folge des Arbeitsunfalls vom 4. September 1987 ist.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darum, ob Verletzungen, die der Kläger bei einem Verkehrsunfall erlitten hat, Folgen eines Arbeitsunfalls (Wegeunfall) sind.

Der Kläger war in einem Unternehmen für Luft- und Wärmetechnik in L. … (L.) beschäftigt. Am 4. September 1987 nahm er an einer Betriebsfeier im neuen Betriebsgebäude des Unternehmens teil. Gegen 19.30 Uhr verließ er das Betriebsgebäude mit einem Arbeitskollegen und ließ sich von ihm in dessen Wagen auf einen Weg fahren, der entweder als Umgehungsweg um die Innenstadt von L. auch zur Wohnung des Klägers im Stadtteil H. … (H.) führte, oder in anderer Richtung nach D. … (D.), wo an diesem Abend eine mehrstündige Preisskatveranstaltung stattfand. In einer Straßenkurve fuhr der Arbeitskollege des Klägers das Auto gegen einen Baum. Dabei erlitt der 29jährige Kläger folgende Verletzungen:

Kopfplatzwunde, Schädelprellung, Commotio cerebri, Oberschenkelfraktur rechts, multiple Prellungen und Schürfungen sowie Patella-Fraktur links.

Er mußte operativ versorgt werden und wurde zweimal stationär behandelt.

Die Beklagte lehnte Unfallentschädigung ab, weil der Kläger nicht auf dem Heimweg zu seiner Wohnung, sondern auf einem unversicherten Weg zur Preisskatveranstaltung verunglückt sei, wie er es auch zu Anfang gegenüber dem Durchgangsarzt angegeben habe (Bescheid vom 25. Juli 1988, Widerspruchsbescheid vom 28. Oktober 1988).

Auch vor dem Sozialgericht (SG) Oldenburg und dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat der Kläger keinen Erfolg gehabt (Urteile vom 10. Oktober 1990 und 6. Juni 1991). Das LSG hat ausgeführt, selbst nach der umfangreichen Beweisaufnahme vor dem SG und vor dem LSG mit jeweiliger Vernehmung des Arbeitskollegen E. … als Zeugen könne nicht festgestellt werden, ob sich der Kläger zur Unfallzeit auf dem Weg zu seiner Wohnung oder zur Preisskatveranstaltung befunden habe. Trotz der Aussage des Zeugen E. …, er habe die Absicht gehabt, den Kläger nach Hause zu fahren, blieben erhebliche Zweifel daran bestehen. Damit entfalle der Versicherungsschutz nach § 550 Reichsversicherungsordnung (RVO). Dieser greife nicht ein, wenn die Zurücklegung des Weges wesentlich dem Ziel diene, einen dritten Ort zu erreichen, an dem der Versicherte einer mehrstündigen Freizeitaktivität nachgehen wolle. In einem derartigen Fall werde die Wahl des anderen Zielpunktes allein durch persönliche Gründe bestimmt. Deswegen träten die versicherte Tätigkeit und der durch sie bestimmte Ausgangspunkt für die Zurücklegung des Weges in den Hintergrund. Das müsse auch dann gelten, wenn die Wegstrecke zu dem dritten Ort – wie hier – nicht erheblich länger als diejenige zur Wohnung sei.

Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 550 RVO, weil er noch auf dem Teilstück des Weges verunglückt sei, den er auf jeden Fall habe zurücklegen müssen, gleichgültig, ob er nach Hause oder zur Preisskatveranstaltung hätte gelangen wollen.

Der Kläger beantragt,

die angefochtenen Urteile und Bescheide aufzuheben und festzustellen, daß sein Zustand nach Oberschenkelfraktur rechts und Patella-Fraktur links Folge des Arbeitsunfalls am 4. September 1987 ist.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil des LSG für zutreffend. Das LSG sei mit seiner Rechtsprechung zum Unfallversicherungsschutz vom Ort der Tätigkeit zu einem sog dritten Ort auch nicht von dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. März 1988 in SozR 2200 § 550 Nr 78 abgewichen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist begründet.

Dem Kläger steht der Anspruch auf Feststellung zu, daß seine geltend gemachten Verkehrsunfallverletzungen Folgen eines Arbeitsunfalls sind.

Gegenüber der Beklagten als Körperschaft des öffentlichen Rechts ist die Feststellungsklage zulässig und begründet (§ 55 Abs 1 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Aus den das BSG nach § 163 SGG bindenden tatsächlichen Feststellungen in Verbindung mit der Bezugnahme auf die Verwaltungsakten der Beklagten geht hervor, daß der Kläger wegen der Unfallfolgen zweimal stationär mit operativer Versorgung behandelt werden mußte, daß er noch am 18. März 1988 unter Beschwerden am linken aber auch im rechten Knie in Form von Sensibilitätsstörungen unterhalb der Patella rechts sowie unvollständiger Flexion in den Knien litt und deshalb mindestens noch bis zum 6. April 1988 arbeitsunfähig war (vertrauensärztliches Gutachten vom 18. März 1988, Bl 85 VA). Anzeichen dafür, daß die Verletzungsfolgen vollständig und endgültig ausgeheilt sind, liegen nicht vor. Stattdessen geht der Behandlungsbericht des St. F. … L. … vom 13. November 1987 (Bl 12 VA) von einer Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenberechtigender Höhe nach Abschluß der Behandlung aus.

Entgegen der Meinung des LSG und der Ansicht der Beklagten stellt der Unfall, bei dem der Kläger diese Verletzungen erlitt, gemäß § 550 Abs 1 RVO einen Arbeitsunfall dar.

Nach dieser Vorschrift gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit.

Die Beteiligten gehen übereinstimmend davon aus, daß der Kläger am 4. September 1987 unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand, als er an der betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltung seines Arbeitgebers teilnahm. Das stimmt mit den Angaben des Unternehmens vom 25. September 1987 (Bl 5 R und 6 VA) überein.

Das LSG hat für den Senat bindend die weiteren tatsächlichen Feststellungen getroffen (§ 163 SGG), daß der Kläger diese Veranstaltung verlassen hatte, um zur privaten Freizeitgestaltung überzugehen. Der Weg, den er dazu mit seinem Arbeitskollegen zurücklegte, war in erster Linie von zwei Umständen geprägt. Er war auf der einen Seite von dem Ort der versicherten Tätigkeit als Ausgangspunkt bestimmt und auf der anderen Seite von der Tatsache, daß der Kläger am Ziel in den Privatbereich hinüberwechseln wollte. Diese Wegstrecke konnte jedenfalls auch zur Wohnung des Klägers führen unter Umständen, die nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG den Versicherungsschutz des Versicherten unter Berücksichtigung seiner Wahlfreiheit nach § 550 Abs 1 RVO gewährleisten. Auf derselben Wegstrecke, den der Kläger bis zu der Unfallstelle zurückgelegt hatte, konnte er aber genausogut auch in die Richtung nach D. weiterfahren, um dort in den Privatbereich hinüberzuwechseln und an der mehrstündigen Preisskatveranstaltung teilzunehmen. Die Strecke von dem Betriebsgebäude aus dorthin war nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) nicht erheblich länger als diejenige vom Betriebsgebäude zur Wohnung des Klägers.

Weil das LSG schließlich bindend festgestellt hat, daß nur zwei Alternativen möglich sind, entweder die, daß der Kläger nach Hause gefahren werden sollte, oder die andere, daß der Zeuge E. … ihn trotz seiner gegenteiligen Bekundungen doch nach D. zur Preisskatveranstaltung fahren wollte, kommt es nicht mehr auf die – vom LSG aus dem Beweisergebnis abgeleitete -tatsächliche Unmöglichkeit an, die eine oder die andere Alternative auszuschließen. Denn unter beiden der festgestellten alternativen Umstände wäre der Kläger gemäß § 550 Abs 1 RVO versichert gewesen, als er den Unfall erlitt. Deshalb ist der Klageanspruch im Wege der Wahlfeststellung begründet (BSGE 13, 51, 53; BSG SozR 2200 § 548 Nr 80; vgl Meyer-Ladewig, SGG, 4. Aufl, § 103 RdNr 6).

Nach der Rechtsprechung des Senats genügt es zur Begründung des Versicherungsschutzes gemäß § 550 Abs 1 RVO nicht allein, daß der Ort der versicherten Tätigkeit Ausgangs- und Endpunkt des Weges ist. § 550 Abs 1 und § 548 Abs 1 RVO setzen vielmehr voraus, daß sich ein Arbeitsunfall bei der versicherten Tätigkeit ereignet. Dazu ist in der Regel erforderlich, daß das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet, einerseits zur versicherten Tätigkeit zu rechnen ist, und daß diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat. Zunächst muß also eine sachliche Verbindung mit der Betriebstätigkeit und dem Unternehmen bestehen, der innere Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen.

Auf dem Wege von der Arbeitsstätte zur eigenen Wohnung nimmt das Gesetz grundsätzlich einen inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit an, weil der Versicherte diesen Weg wegen seiner Tätigkeit im Unternehmen zurücklegen muß. Dieser Zurechnung ist im Bereich des Wegeunfallversicherungsschutzes eigentümlich, daß der Natur der Sache nach ein zweiter, eigenwirtschaftlicher oder privater Handlungszweck vorliegt, der versicherungsunschädlich ist. Regelmäßig dient der Weg dem Versicherten zugleich dazu, von der Betriebstätigkeit in den Privatbereich hinüberzuwechseln, in dem seine persönlichen, privaten Interessen liegen.

In diesem Rahmen ist der Versicherungsschutz nach der ersten Alternative auf dem Weg zur eigenen Wohnung zu Recht unter allen Beteiligten unumstritten.

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG muß der Weg zum Ort der Tätigkeit jedoch weder von der Wohnung aus angetreten werden noch der Rückweg in der Wohnung enden (s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-11. Aufl, S 485r mit zahlreichen weiteren Nachweisen insbesondere auf die Rechtsprechung des BSG). Dabei ist es entgegen der Auffassung des LSG rechtlich unerheblich, daß für die Wahl „des anderen Zielpunktes als die Wohnung allein persönliche Gründe” maßgebend waren (BSGE 25, 93, 95; Brackmann aaO S 485k). Allerdings muß die Dauer des Aufenthaltes an dem anderen Ort so erheblich sein, daß dort der Versicherte von dem Ort der Tätigkeit aus in den privaten Bereich überwechselt (vgl BSGE 62, 113, 115; Brackmann aaO S 485r I). Es darf sich nicht lediglich um eine Unterbrechung oder einen Umweg auf dem Weg zB zur Wohnung handeln. Geht man von der zweiten Alternative eines Weges zur mehrstündigen Preisskatveranstaltung aus, so war dort ein Aufenthalt von erheblicher Dauer geplant; dann hängt der umstrittene Versicherungsschutz gegen Wegeunfälle entscheidend davon ab, ob der Weg dorthin ebenso wie der Weg in die eigene Wohnung wesentlich von dem Vorhaben des Klägers und der Notwendigkeit bestimmt war, vom Ort der Tätigkeit aus in den Privatbereich hinüberzuwechseln, in dem er seinen persönlichen privaten Interessen nachgehen kann (innerer Zusammenhang iS des § 550 Abs 1 RVO). Das trifft auch bei dieser Alternative im vorliegenden Falle zu.

Richtig ist allerdings, daß der erforderliche innere Zusammenhang nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls angenommen werden darf (zu weitgehend in diesem Zusammenhang Stoll, BG 1991, 45). Insgesamt muß danach der Weg vom sog dritten Ort aus in einem angemessenen Verhältnis zum Weg zur eigenen Wohnung stehen, weil anderenfalls die Prägung des Weges durch den Zweck der beabsichtigten Tätigkeit am dritten Ort so überwiegen würde, daß der Ausgangspunkt in den Hintergrund träte. Der wesentliche innere Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit entfiele damit (BSG Urteile vom 27. Juli 1989 – 2 RU 10/89 – in HV-Info 1989, 2417; BAGUV RdSchr 94/89; USK 8995 und vom 20. April 1978 – 2 RU 1/77 – in HVGBG RdSchr VB 126/78).

In diesem Zusammenhang vermögen zusätzliche unmittelbare oder mittelbare betriebsbezogene Umstände, Ungleichheiten in der Länge oder der Fahrtdauer des Weges vom dritten Ort auszugleichen und das Verhältnis zum Weg zur eigenen Wohnung trotzdem noch als insgesamt angemessen erscheinen zu lassen, wie auch zusätzliche private Umstände das Gegenteil zu bewirken vermögen (s die Urteile des Senats vom 4. Dezember 1991 – 2 RU 15/91 – mwN und vom 19. Oktober 1982 – 2 RU 7/81 – in HVGBG RdSchr VB 1/83 = NJW 1983, 2286). Letzteres traf für die Entscheidung des Senats in SozR 2200 § 550 Nr 78 zu, der ein Fall zugrundelag, in dem der Weg vom dritten Ort zum Ort der Tätigkeit um 26,8 Kilometer, dh dreimal länger war, als der Weg von der eigenen Wohnung aus. Deshalb hat der Senat in Übereinstimmung mit dem oben Dargelegten schon damals ausgeführt: „Der Senat mißt auch hier (s BSGE 62, 113 und Urteile vom 19. Oktober 1982 und 27. August 1987 aaO) der Entfernung die ihr zukommende Bedeutung, aber nicht die allein entscheidende Bedeutung bei. Bei der vielmehr gebotenen Beachtung aller Umstände ist hier – ebenso wie bei Erholungsfahrten in einen anderen Ort (s BSG Urteile vom 30. Juli 1971 – 2 RU 229/68 – und 19. Oktober 1982 – 2 RU 67/81 –; Brackmann aaO S 585 s I) – zu berücksichtigen, daß dem Besuch in T., der ausschließlich dem persönlichen, unversicherten Bereich zuzurechnen ist, die ausschlaggebende Bedeutung für das Zurücklegen des Weges zukommt. Das gilt jedenfalls für die hier maßgebende Wegstrecke, auf der sich der Unfall ereignete. Hier war die Fahrt unfallversicherungsrechtlich wesentlich durch die Notwendigkeit geprägt, von dem Endpunkt der Reise nach T. wieder gemeinsam mit der Familie in den näheren Bereich des Ausgangsortes zurückzugelangen. Demgegenüber stand die weitere Absicht des Ehemannes der Klägerin zu 1), in L. die Arbeit aufzunehmen, auf diesem maßgebenden Teil des Weges noch im Hintergrund. Dies zeigt sich auch darin, daß der Ehemann der Klägerin zu 1) mit seiner Familie erst einmal von T. aus zurückfahren wollte und mußte. Dabei machte er nach dem Vorbringen der Klägerin von der Dauer des Aufenthaltes in T. abhängig, ob er vor Arbeitsaufnahme noch seine Wohnung aufsuchen oder seine Familie an einer Haltestelle öffentlicher Verkehrsmittel absetzen und danach von dort aus zum Ort der Tätigkeit fahren werde.”

Wenn aber wie im vorliegenden Fall die Wegstrecken der Länge und erforderlichen Fahrtdauer nach annähernd gleich sind und es außer der Notwendigkeit, vom Ort der Tätigkeit aus in den Privatbereich überzuwechseln, keine zusätzlichen privaten Begleitumstände gibt, die die Fahrt in anderer, privater Richtung prägen, liegt im Vergleich zum Weg zur eigenen Wohnung ein angemessenes Verhältnis vor. Dann dient der Weg an den dritten Ort in gleicher Weise wie der Weg zur eigenen Wohnung dem Versicherten zugleich dazu, vom Ort der Tätigkeit aus den seinen persönlichen Interesse dienenden privaten Bereich zu erreichen. Unter diesen Umständen gewährt auch § 550 Abs 1 RVO Unfallversicherungsschutz auf dem Weg vom Ort der Tätigkeit an den sog dritten Ort.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

BB 1992, 713

NJW 1992, 1982

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