Entscheidungsstichwort (Thema)

Zustimmung zur Sprungrevision durch Prozeßbevollmächtigten erster Instanz. Anhörung im Verwaltungsverfahren. erhebliche Beeinträchtigung in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. Merkzeichen "G". unwiderlegliche Rechtsvermutung. Rechtsentziehung kraft Gesetzes

 

Orientierungssatz

1. Bedenken gegen die Zulässigkeit der Sprungrevision sind nicht daraus herzuleiten, daß die Zustimmung zur Sprungrevision von dem früheren Bevollmächtigten des Klägers erteilt worden ist, der ausdrücklich nur für das Verfahren vor dem SG bevollmächtigt war. Die möglichen Beschränkungen der Rechte des Bevollmächtigten im Verhältnis zu dem Kläger persönlich oder im Verhältnis zu seinem Arbeitgeber, der Gewerkschaft, haben keine Außenwirkung (vgl § 73 Abs 4 SGG, § 83 ZPO). Das gilt vor allem auch dann, wenn der frühere Bevollmächtigte des Klägers verpflichtet gewesen sein sollte, die Zustimmung zur Einlegung der Sprungrevision nicht in eigener Verantwortung zu erteilen.

2. Die Zustimmung muß innerhalb der Revisionseinlegungsfrist erteilt worden und beim BSG eingegangen sein. Das Gesetz verlangt nur, daß sie der Revisionsschrift "beigefügt" ist. Daraus kann weder geschlossen werden, daß sie zusammen mit der Revisionsschrift beim BSG eingehen (vgl ua BSG vom 3.6.1981 11 RA 4/81 = SozR 1500 § 161 Nr 29) noch daß sie schon vor der Revisionseinlegung erteilt sein müßte. Geht die Zustimmung innerhalb der Revisionsfrist beim BSG ein und liegt die Revisionsschrift schon vor, dann ist sie jedenfalls dann der Revisionsschrift "beigefügt", wenn kein Zweifel besteht, daß beide Schriftstücke zusammengehören.

3. Greift nicht die Verwaltung, sondern der Gesetzgeber unmittelbar in die Rechte eines Beteiligten ein, besteht kein Recht auf Anhörung gemäß § 24 Abs 1 SGB 10.

4. Die gesetzliche Vermutung, nach der alle Schwerbehinderte mit einer MdE von wenigstens 80 vH ohne weitere Prüfung als erheblich bewegungsbehindert zu behandeln waren (§ 58 Abs 1 S 2 SchwbG aF) ist zu Lasten aller dieser Schwerbehinderten durch § 58 Abs 1 S 2 SchwbG idF des HBegleitG 1984 vom 22.12.1983 beendet worden (Anschluß an BSG vom 24.4.85 9a RVs 11/84 = SozR 3870 § 58 Nr 1).

 

Normenkette

SGG § 161 Abs 1 S 3, § 73 Abs 4; ZPO § 83; SGB 10 § 24 Abs 1; SchwbG §§ 57, 58 Abs 1 S 2 Fassung: 1983-12-22, § 3 Abs 4, § 58 Abs 1 S 2 Fassung: 1979-10-08

 

Verfahrensgang

SG Karlsruhe (Entscheidung vom 12.04.1984; Aktenzeichen S 1 Vs 492/84)

 

Tatbestand

Im September 1983 stellte das Versorgungsamt bei dem Kläger eine weitere Behinderung iS des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) fest, erhöhte den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) für die Gesamtheit der Behinderungen von 60 auf 90 vH und erklärte: "Sie sind in Ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt - Merkzeichen G" - (Neufeststellungsbescheid vom 5. September 1983). Mit Bescheid vom 3. Januar 1984 stellte das Versorgungsamt dagegen, ohne den Kläger vorher anzuhören, fest, er sei nicht in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt. Die Feststellung des Merkmals "G" in der "entsprechenden Entscheidung" und in seinem Ausweis werde mit Ablauf des 31. März 1984 aufgehoben. Dies folge aus der Neufassung des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG idF des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 (HBegleitG 1984) vom 22. Dezember 1983 (BGBl I, 1532) als wesentliche Änderung in den rechtlichen Verhältnissen, wonach auch bei einer MdE von 80 vH und mehr die erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht mehr vermutet werde, sondern tatsächlich bestehen müsse.

Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) den Bescheid vom 3. Januar 1984 aufgehoben und festgestellt, daß mit Bescheid vom 5. September 1983 eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr iS von § 58 Abs 1 Satz 1 SchwbG anerkannt worden sei. In seinen Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, der angefochtene Bescheid sei unter Verletzung des § 24 Abs 1 des Sozialgesetzbuches, Zehntes Buch (SGB 10), zustande gekommen, ohne daß ein Ausnahmefall des Abs 2 aaO vorliege. Außerdem habe der Beklagte kein Neufeststellungsrecht gem § 48 Abs 1 SGB 10. Die Feststellung vom 5. September 1983, daß der Kläger in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sei, beziehe sich ihrem objektiven Erklärungsgehalt nach allein auf die Voraussetzungen des § 58 Abs 1 Satz 1 SchwbG aF und nicht auf diejenigen des Satzes 2 aaO. Letztere begnüge sich mit allein einer MdE von wenigstens 80 vH, so daß zur Eintragung des Merkzeichens "G" in dem Ausweis des Klägers keine gesonderte Feststellung gem § 3 Abs 4 SchwbG erforderlich gewesen sei. Das HBegleitG 1984 habe keine Änderung des § 58 Abs 1 Satz 1 SchwbG vorgenommen.

Mit der - vom SG zugelassenen - Revision unter Übergehung der Berufungsinstanz rügt der Beklagte, das SG habe die Rechtsgrundlage zur Feststellung der umstrittenen Gehbehinderung verkannt. Diese beruhe allein auf § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF mit seiner unwiderlegbaren Rechtsvermutung bei einer MdE von wenigstens 80 vH. Sie habe die Versorgungsverwaltung zur umstrittenen Feststellung gezwungen, ohne daß selbst bei offenkundiger Gehfähigkeit eine Ermittlungsbedürftigkeit iS des Satzes 1 aaO bestanden habe. Dementsprechend habe die Streichung des Satzes 2 aaO eine wesentliche Änderung iS von § 48 Abs 1 SGB 10 bewirkt. Nach § 24 Abs 2 Nr 2 und Nr 4 SGB 10 habe von einer vorherigen Anhörung des Klägers abgesehen werden können. Dadurch wäre die Einhaltung der mit dem Inkrafttreten des § 58 Abs 2 SchwbG nF am 1. April 1984 gesetzten Frist in Frage gestellt worden. Der angefochtene Bescheid sei außerdem einer von mehr als 80.000 gleichartigen Verwaltungsakten iS von § 24 Abs 2 Nr 4 SGB 10 gewesen, die auf dieselbe Rechtslage gestützt seien und jeweils in gleicher Weise die Ablehnung des Merkmals "G" betroffen hätten.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12. April 1984 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie zurückzuweisen, weiter hilfsweise, den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Er meint, die Voraussetzungen des § 161 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) seien nicht erfüllt, weil der Beklagte nicht seine (des Klägers) ordnungsgemäße Zustimmung zur Sprungrevision der Revisionsschrift beigefügt habe. Erst nach Einlegung der Revision, wenn auch noch vor Ablauf der Revisionsfrist, habe der Beklagte das schriftliche Einverständnis seines Prozeßbevollmächtigten erster Instanz vorgelegt. Dieser sei aber dazu weder von ihm bevollmächtigt noch innergewerkschaftlich berechtigt gewesen.

Im übrigen habe das SG zutreffend entschieden.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat ist mit seinen ehrenamtlichen Richtern der gesetzliche Richter (Art 101 Abs 1 Satz 2 Grundgesetz - GG -). Die Zweifel daran, ob der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) wie es das Gesetz (§§ 45 f SGG) vorsieht und das GG (Art 92) voraussetzt (vgl BVerfG SozR Nr 4 zu Art 101 GG), über die Berufung der ehrenamtlichen Richter eine eigenverantwortliche Entscheidung getroffen hat, greifen nicht durch. Zwar hat sich der BMA in aller Regel an die von den Verbänden vorgelegten Vorschlagslisten gehalten. Er hat damit aber nicht die Vorschläge lediglich vollzogen, sondern nach seinem Ermessen gehandelt. Das hat der 1. Senat in seinem Beschluß vom 26. September 1985 - 1 S 12/85 -, der alle ehrenamtlichen Richter des Bundessozialgerichts (BSG) betrifft, festgestellt.

Ob der erkennende Senat an diese Feststellung gebunden ist, braucht nicht entschieden zu werden. Denn der erkennende Senat ist auch nach eigener Prüfung zu der Überzeugung gekommen, daß der Minister jedenfalls bei der Berufung der ehrenamtlichen Richter der Senate der Kriegsopferversorgung gesetzmäßig vorgegangen ist. Denn keiner der hierfür vorschlagsberechtigten Verbände hat sich auf den Standpunkt gestellt, seine Vorschlagsliste sei für den BMA verbindlich.

Die Sprungrevision ist zulässig.

Keine Bedenken gegen die Zulässigkeit sind daraus herzuleiten, daß die Zustimmung zur Sprungrevision von dem früheren Bevollmächtigten des Klägers erteilt worden ist, der ausdrücklich nur für das Verfahren vor dem SG bevollmächtigt war. Es mag zutreffen, daß ein für die Revisionsinstanz Bevollmächtigter besser beurteilen kann, ob es sinnvoll ist, der Revision unter Übergehung der Berufungsinstanz zuzustimmen. Das Gesetz sieht aber vor, daß die Zustimmung schon im Verfahren vor dem SG erteilt wird. Nach § 161 Abs 1 Satz 3 SGG muß dies sogar geschehen, wenn die Sprungrevision noch nicht im Urteil des SG zugelassen ist. Denn dem an das SG gerichteten Antrag auf Zulassung der Sprungrevision ist die Zustimmung des Gegners bereits beizufügen. Sie ist also von dem Gegner persönlich oder von seinem Prozeßbevollmächtigten erster Instanz zu erteilen. Die Zustimmung ist der Revisionsschrift beizufügen, wenn die Sprungrevision, wie hier, im Urteil zugelassen ist. Dafür, daß die Zustimmung des Gegners oder des Prozeßbevollmächtigten erster Instanz dann wirkungslos wäre, besteht kein Anhalt. Die möglichen Beschränkungen der Rechte des Bevollmächtigten im Verhältnis zu dem Kläger persönlich oder im Verhältnis zu seinem Arbeitgeber, der Gewerkschaft, haben keine Außenwirkung (vgl § 73 Abs 4 SGG, § 83 Zivilprozeßordnung -ZPO-). Das gilt vor allem auch dann, wenn der frühere Bevollmächtigte des Klägers verpflichtet gewesen sein sollte, die Zustimmung zur Einlegung der Sprungrevision nicht in eigener Verantwortung zu erteilen.

Die Zulässigkeit der Sprungrevision kann auch nicht deshalb in Zweifel gezogen werden, weil die ausdrückliche Zustimmung nicht schon zu Protokoll des SG erklärt, sondern erst nach Einlegung der Sprungrevision erteilt worden ist. Die Zustimmung muß nur innerhalb der Revisionseinlegungsfrist erteilt worden und beim BSG eingegangen sein. Das Gesetz verlangt nur, daß sie der Revisionsschrift "beigefügt" ist. Daraus kann nicht geschlossen werden, daß sie zusammen mit der Revisionsschrift beim BSG eingehen müßte (BSG SozR 1500 § 161 Nrn 3, 5 und 29). Daraus kann auch nicht geschlossen werden, daß die Zustimmung schon vor der Revisionseinlegung erteilt sein müßte. Geht die Zustimmung, wie hier, innerhalb der Revisionsfrist beim BSG ein und liegt die Revisionsschrift schon vor, dann ist sie jedenfalls dann der Revisionsschrift "beigefügt", wenn kein Zweifel besteht, daß beide Schriftstücke zusammengehören.

Die Revision hat auch in dem Sinne Erfolg, daß das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Vordergericht zurückverwiesen werden muß.

Wie der Senat bereits mit dem Urteil vom 24. April 1985 - 9a RVs 11/84 - (SozR 3870 § 58 Nr 1) entschieden hat, führt die Klage entgegen Meinung des Vordergerichts nicht schon deshalb zum Erfolg, weil der Kläger nicht angehört worden ist, bevor der angefochtene Bescheid erlassen wurde. Ist die Anhörung unterblieben, so ist das ein Verfahrensfehler, der auch im Gerichtsverfahren nicht geheilt werden kann, wenn das in einer Verfahrensvorschrift eigens festgelegt ist (§ 41 Abs 1 und 2 SGB 10 vom 18. August 1980 - BGBl I, 1469 -). Daran fehlt es hier.

Nach § 24 Abs 1 SGB 10 ist Gelegenheit zur Äußerung nur zu geben, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, "der in die Rechte eines Beteiligten eingreift". Hier ist ein derartiger Verwaltungsakt nicht erlassen worden. In ein Recht des Klägers hat nämlich nicht die Verwaltung, sondern der Gesetzgeber unmittelbar eingegriffen. § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG idF des Art 20 Nr 2 des HBegleitG 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl I, 1532) hat die nach § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG idF der Bekanntmachung vom 8. Oktober 1979 (BGBl I, 1649) begründete Vermutung, wonach ein Schwerbehinderter mit einer MdE von mindestens 80 vH in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr als erheblich beeinträchtigt gilt, mit Ablauf des 31. März 1984 beseitigt. Die Verwaltung hat es nur abgelehnt, die tatsächliche Bewegungsbehinderung iS des § 58 Abs 1 Satz 1 SchwbG nach § 3 Abs 4 SchwbG mit Wirkung ab 1. April 1984 festzustellen, wodurch sie für die Zukunft die unerläßliche Voraussetzung für einen Beförderungsanspruch nach § 57 SchwbG verneint hat.

Der angefochtene Bescheid enthält allerdings in seinem Verfügungsteil folgenden Zusatz: "Die Feststellung des Merkzeichens 'G' in der entsprechenden Entscheidung und in Ihrem Ausweis werden mit Ablauf des 31. März 1984 aufgehoben". Darauf stützt sich die Meinung des Vordergerichts, erst die Verwaltung und nicht schon das Gesetz habe in das aufgrund des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF bestehende Recht eingegriffen. Diese Meinung trifft aber nicht zu.

Das Gesetz bringt mit hinreichender Klarheit zum Ausdruck, daß für die Beendigung des sich aus der Vermutung des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF ergebenden Rechts keine Regelung der Verwaltung vorgesehen ist. Die Verwaltung hat nur eine Voraussetzung für die Rechtsstellung gem § 57 SchwbG für die Zukunft zu regeln.

Wenn Schwerbehinderte mit einer MdE von mindestens 80 vH nach § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG nF eine erhebliche Bewegungsbehinderung iS des Satzes 1 nur mit einem Ausweis mit entsprechendem Aufdruck (Merkmal "G"), der ab 1. April 1984 gültig ist, nachweisen können und wenn wegen der Neufassung des Abs 1 als Voraussetzung dafür eine tatsächliche Bewegungsbehinderung gem § 3 Abs 4 SchwbG festgestellt sein muß, dann ist die Rechtsstellung, die aufgrund der früheren Rechtsvermutung (§ 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF) bestand, kraft Gesetzes mit Ablauf des 31. März 1984 fortgefallen. Der Gesetzgeber hat nämlich nicht nur diejenigen Fälle erfaßt, die er im Ergebnis sachgerecht neu geregelt wissen wollte, und hat somit der Verwaltung nicht den Vollzug übertragen. Er hat ausnahmslos bei allen Schwerbehinderten mit einer MdE von mindestens 80 vH die Zuerkennung der erheblichen Bewegungseinschränkung beendet, so wie er ihnen dieses Merkmal zuvor kraft Gesetzes durch die Rechtsvermutung des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF eingeräumt hatte. Er verlangt von allen diesen Schwerbehinderten, daß sie sich einen neuen Ausweis beschaffen, wenn sie weiterhin die Vergünstigung der freien Beförderung im Nahverkehr genießen wollen. Der Sinn dieser Regelung ist es, die Verwaltung erstmals zu der Prüfung zu verpflichten, ob die Voraussetzungen des § 58 Abs 1 Satz 1 SchwbG erfüllt sind, die für diesen Personenkreis neu gefordert werden. Diese Auslegung des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG nF entspricht auch den Motiven des Gesetzgebers, wie sie in der Begründung des Regierungsentwurfs geschildert sind (vgl BR-Drucks 302/83 S 89). Der Gesetzgeber geht hier davon aus, daß schon die alte Fassung des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG die Betroffenen unmittelbar begünstigte: Eine Feststellung der erheblichen Bewegungseinschränkung sei bei Schwerbehinderten mit einer MdE um wenigstens 80 vH bisher nicht erfolgt. Von diesem Ausgangspunkt aus lag es nahe, daß das neue Gesetz diese gesetzliche Vergünstigung auch ohne Mitwirkung der Verwaltung wiederum durch Gesetz beendete.

Die allein durch eine gesetzliche Regelung zuerkannte Rechtsstellung des Klägers konnte durch eine Gesetzesvorschrift für die Zukunft beseitigt werden. Insoweit ist die Rechtslage anders, als wenn in den üblichen Fällen des Sozialrechts eine Leistung oder ein Recht durch Verwaltungsakt zuerkannt worden ist und nachträglich die gesetzlichen Voraussetzungen fortfallen; dann muß dies die Verwaltung in der Regel durch einen Änderungs- oder Aufhebungsbescheid aussprechen (vgl BSG SozR 5850 § 4 Nr 8). Dem Recht der Kriegsopferversorgung, nach dem sich die Anerkennung als Schwerbehinderter und das übrige Verfahrensrecht für Schwerbehinderte richten (§ 3 SchwbG), ist ein solcher Eingriff durch das Gesetz nicht fremd. Als dieses Rechtsgebiet durch das Bundesversorgungsgesetz (BVG) vom 20. Dezember 1950 (BGBl I, 791) völlig neugeordnet wurde, verloren die früheren Bescheide ihre Wirksamkeit mit zwei Ausnahmen: die Entscheidung über die Frage des ursächlichen Zusammenhanges einer Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang iS des § 1 BVG blieb für die Zukunft rechtsverbindlich (§ 85), und die aufgrund der bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften zu zahlenden Versorgungsbezüge wurden bis zu einer Feststellung nach dem neuen Gesetz weitergezahlt (§ 86).

Bei der durch § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG nF für den Einzelfall geschaffenen Rechtslage lag es nahe, daß die Verwaltung nicht einfach abwartete, wer von den Betroffenen einen Antrag stellen werde, sondern kraft ihrer Fürsorgeverpflichtung von sich aus tätig wurde. Auf diese Weise konnte sie verhindern, daß die wirklich erheblich in ihrer Bewegungsfähigkeit Behinderten am 1. April 1984 vor vollendeten Tatsachen standen und weder einen gültigen Ausweis besaßen, der zur unentgeltlichen Beförderung berechtigte, noch die für die Wirksamkeit in vielen Fällen erforderlichen 120,-- DM gezahlt hatten (vgl § 57 Abs 1 Satz 2 SchwbG nF).

Die Verwaltung ist auch so tätig geworden.

In Baden-Württemberg hat die Verwaltung alle in Betracht kommenden Fälle (mehrere hunderttausend) überprüft und auf unterstellten Antrag über die tatsächliche Bewegungsbehinderung einige Monate vor dem 1. April 1984 entschieden. In Nordrhein-Westfalen hat die Verwaltung die Schwerbehinderten mit einer MdE von wenigstens 80 vH über die allgemeine Rechtslage, wie sie nach diesem Urteil zu verstehen ist, aufgeklärt und ihnen anheimgegeben, einen Antrag zu stellen und sich zur Frage der tatsächlichen erheblichen Bewegungseinschränkung zu äußern. In Niedersachsen hat die Verwaltung offenbar wie in Baden-Württemberg alle Fälle geprüft. Sie hat in diesem Land auch versucht, möglichst alle Betroffenen anzuhören.

Es braucht nicht entschieden zu werden, ob in allen Fällen, in denen auf einen nur unterstellten Antrag die Gewährung eines Rechts abgelehnt wird, eine vorherige Anhörung unterbleiben darf (so BVerwG, Urteil vom 14. Oktober 1982, 3 C 46.81 in BVerwGE 66, 184 = DVBl 1983, 271). Wenn aber - wie hier - das Gesetz ein Verwaltungsverfahren vorschreibt, durch das die Verwaltung in eine bestehende Rechtsposition iS von § 24 Abs 1 SGB 10 einzugreifen hat, dann hat dies nur den Sinn, daß sie nicht vor irgendwelchen Maßnahmen die Adressaten anzuhören braucht und daß dieses Unterlassen keinen unheilbaren Verfahrensfehler begründet.

Da das neue Recht die Voraussetzung für eine unentgeltliche Beförderung allen Schwerbehinderten mit einer MdE von mindestens 80 vH unmittelbar entzog, ist es für die Entscheidung des vorliegenden Falles unerheblich, wie ihnen diese nach altem Recht tatsächlich zuerkannt war. Nach altem Recht war eine erhebliche Bewegungseinschränkung für Schwerbehinderte mit einer MdE von mindestens 80 vH nicht durch die Verwaltung festzustellen. Davon geht auch, wie gesagt, die Gesetzesbegründung aus. Nach § 3 Abs 4 SchwbG waren - und sind - "weitere gesundheitliche Merkmale", dh andere als die MdE, nur dann festzustellen, wenn diese Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme einer Vergünstigung sind. Bei den Schwerbehinderten mit einer MdE von mindestens 80 vH wurde eine solche Verwaltungsentscheidung aber gerade nicht für die Vergünstigung der Freifahrt verlangt. Vorausgesetzt wurde ausschließlich die MdE von mindestens 80 vH. Allein aufgrund einer Feststellung der MdE nach § 3 Abs 1 bis 3 SchwbG war ein Ausweis nach § 3 Abs 5 SchwbG, der zur unentgeltlichen Beförderung nach § 57 SchwbG berechtigte, kraft der gesetzlichen Vermutung auszustellen. Dieser Ausweis ist ab 1. April 1984 unwirksam, weil seine gesetzliche Voraussetzung durch die gesetzliche Neuregelung entfallen ist.

Wenn man entgegen dieser Vorstellung des Gesetzes in dem Schreiben der Verwaltung an den Kläger, wonach dieser besonders bewegungsbehindert ist, eine Feststellung iS des § 3 Abs 4 SchwbG sehen wollte, so könnte sich die Frage ergeben, ob diese Entscheidung wegen eines Vertrauensschutzes auf Dauer Bestand hätte. Hat aber, was oben begründet wurde, § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG nF, ohne daß es eines Vollzuges durch die Verwaltung bedarf, die sich aus § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF ergebenden Vergünstigungen gleichmäßig für alle Schwerbehinderten mit einer MdE um mindestens 80 vH beendet, so ist ein Vertrauensschutz für die Zeit ab 1. April 1984 nicht zu begründen. Die Neuregelung ist der Vertrauensvorschrift des § 45 SGB 10 gleichrangig und geht ihr deshalb als späteres Gesetz vor. Als Verwaltungsakt wäre die frühere - rechtswidrige - Feststellung, daß der Schwerbehinderte bewegungsbehindert sei, nach § 39 Abs 2 SGB 10 durch jene Neuregelung mit Ablauf des 31. März 1984 unwirksam geworden, denn der Verwaltungsakt hätte sich "auf andere Weise erledigt" als durch Rücknahme, Widerruf, Aufhebung oder Zeitablauf (vgl Kopp, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl., 1983, § 43 Rdz 17).

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG nF bestehen nicht. Solche Bedenken wären allenfalls dann begründet, wenn die von § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF betroffenen Schwerbehinderten geltend machen könnten, ihnen sei durch das Gesetz etwas zuerkannt worden, wofür sie eine Gegenleistung erbracht hätten oder worauf sie sich in ihrer Lebensgestaltung eingerichtet hätten und auch auf Dauer einstellen durften. Es kann dahinstehen, ob diejenigen sich darauf berufen können, bei denen wirklich die Nachteile vorliegen, die in § 58 Abs 1 Satz 1 SchwbG aF und nF geschildert sind. Nicht geltend machen können es jedenfalls diejenigen, bei denen durch die Pauschalregelung des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF die erhebliche Bewegungseinschränkung unterstellt worden ist, auch wenn sie nicht bestand. Der Gesetzgeber war jedenfalls nicht gehindert, die als sozial schädlich erkannte Pauschalregelung zu ändern und dafür zu sorgen, daß in Zukunft allein diejenigen, bei denen die ausgleichungsbedürftigen Nachteile des § 58 Abs 1 Satz 1 SchwbG vorliegen, begünstigt werden. Damit ist dem verfassungsrechtlichen Gebot der Gleichbehandlung (Art 3 Abs 1 des GG) Rechnung getragen.

Das Vordergericht hat nunmehr zu prüfen, ob beim Kläger die tatsächlichen Voraussetzungen für eine unentgeltliche Beförderung im Personenverkehr, die nach dem ab 1. April 1984 geltenden Recht erforderlich sind, gegeben sind.

Weil die Verwaltung ihre angefochtenen Verwaltungsakte während des Gerichtsverfahrens unter Kontrolle halten muß und weil sie eine gründliche ärztliche Prüfung unter Verletzung der §§ 20 und 21 SGB 10 unterlassen hat, liegt es nahe, daß sie bei der nunmehr gebotenen Sachaufklärung mitwirkt und dadurch das Gericht entlastet. Das Gericht darf seinerseits ein von der Verwaltung eingeholtes Gutachten in der Regel bei seiner Entscheidung berücksichtigen, allerdings nicht als Gutachten eines Sachverständigen iS des § 118 SGG iVm §§ 403 ff ZPO (BSG SozR Nr 3 zu § 118 SGG; Nrn 66 und 68 zu § 128 SGG).

Das Vordergericht hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656514

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