Entscheidungsstichwort (Thema)

Rückwirkungszeitraum zeitlich begrenzt

 

Leitsatz (amtlich)

1. § 44 Abs 4 SGB 10 ist in seiner Auswirkung auf Rentenansprüche mit Art 14 GG vereinbar.

2. Einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch vermag die Verletzung nur solcher Pflichten des Sozialleistungsträgers auszulösen, hinsichtlich derer die Rechtsfolgen einer Verletzung nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt worden sind.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Beschränkung eines rückwirkenden Rentenanspruchs durch den gesetzlichen Rentenversicherungsträger auf einen Zeitraum von nur vier Jahren stellt - unter Beachtung der die Versichertengemeinschaft berührenden Interessen -, eine zulässige Bestimmung des Inhalts und der Schranken des Eigentums dar.

2. Bei der Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes ist § 44 Abs 4 SGB 10 als Vorschrift zwingenden Rechtes zu beachten. Ihre Anwendung stellt keinen Verstoß gegen Treu und Glauben dar.

 

Orientierungssatz

SGB 10 § 44 und sozialrechtlicher Herstellungsanspruch:

Die Anwendbarkeit des § 44 SGB 10 schließt die Herleitung weitergehender Rechtsfolgen auf der Grundlage des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs aus.

 

Normenkette

SGB 10 § 44 Abs. 4 Fassung: 1980-08-18; GG Art. 14 Abs. 1 S. 2

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 18.01.1985; Aktenzeichen L 1 An 71/84)

SG Berlin (Entscheidung vom 22.05.1984; Aktenzeichen S 3 An 2614/82)

 

Tatbestand

Streitig ist der Beginn des neu berechneten Altersruhegeldes.

Der im Jahre 1910 geborene Kläger ist rassisch Verfolgter des Nationalsozialismus iS des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Bis April 1933 entrichtete er Pflichtbeiträge zur deutschen Angestelltenversicherung. Sodann wanderte er verfolgungsbedingt aus und erwarb später die britische Staatsangehörigkeit. Im Jahre 1973 entrichtete er gemäß § 10 Abs 1 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) ua für die Monate November 1954 bis Februar 1956 Beiträge nach.

Mit Bescheid vom 1. Juli 1975 bewilligte ihm die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) für die Zeit ab 1. April 1975 Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Bei der Berechnung der Leistung berücksichtigte die Beklagte die mit den nach dem WGSVG nachentrichteten Beiträgen belegten Zeiten als Zeiten der Pflichtversicherung. Bei der Ermittlung der pauschalen Ausfallzeit (Art 2 § 14 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes -AnVNG-) hingegen ging sie davon aus, daß der letzte Pflichtbeitrag vor dem 1. Januar 1957 für den Monat April 1933 entrichtet worden sei und sich damit eine pauschale Ausfallzeit von lediglich 12 Monaten ergebe.

Am 17. Mai 1982 beantragte der Kläger eine Neufeststellung des ihm zustehenden Altersruhegeldes unter Hinweis darauf, daß der letzte Pflichtbeitrag vor dem 1. Januar 1957 für eine höhere pauschale Ausfallzeit errechne. Mit Bescheid vom 7. Juli 1982 nahm die Beklagte eine Neuberechnung des Altersruhegeldes unter Berücksichtigung einer pauschalen Ausfallzeit von nunmehr 58 Monaten vor. Hierdurch ergab sich gegenüber dem bisherigen Zahlbetrag eine um etwa 130,-- bis 150,-- DM monatlich höhere Rente. Die Beklagte zahlte diese höhere Rente erst ab 1. Januar 1978 mit der Begründung, Leistungen könnten gemäß § 44 Abs 4 des Sozialgesetzbuchs, Zehntes Buch, Verwaltungsverfahren (SGB 10) vom 18. August 1980 (BGBl I S 1469) nur für vier Jahre rückwirkend erbracht werden. Den auf die Zahlung der höheren Rente bereits ab 1. Juli 1975 gerichteten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 9. November 1982).

Das Sozialgericht Berlin (SG) hat die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen (Urteil vom 22. Mai 1984). Das Landessozialgericht Berlin (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 18. Januar 1985) und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt:

Der Kläger habe keinen Anspruch auf das höhere Altersruhegeld schon für die Zeit vor dem 1. Januar 1978. Die Beklagte habe bei Erlaß des Rentenbescheides vom 1. Juli 1975 durch falsche Berechnung der pauschalen Ausfallzeit das Recht unrichtig angewendet und deshalb zutreffend den Bescheid insoweit auch für die Vergangenheit zurückgenommen. Für diesen Fall sehe § 44 Abs 4 SGB 10 zwingend eine Erbringung der dem Versicherten vorenthaltenen Sozialleistungen für die Vergangenheit längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor. Die Vierjahresfrist sei nicht eine Verjährungsfrist, sondern entspreche in ihrer Wirkung einer Ausschlußfrist. Ihre Überschreitung sei deshalb nicht zulässig, und auf ein Verschulden des Versicherungsträgers komme es nicht an. Auf einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch könne sich der Kläger nicht berufen. Zunächst gehe § 44 SGB 10 als speziellere gesetzliche Regelung dem Herstellungsanspruch vor. Darüber hinaus sei nicht ersichtlich, daß die Beklagte bei Erlaß des Bescheides vom 1. Juli 1975 dem Kläger gegenüber eine sich aus dem Sozialrechtsverhältnis ergebende Beratungspflicht verletzt oder eine unrichtige Auskunft erteilt habe. Für die Zeit nach Erlaß des Bescheides habe für sie kein konkreter Anlaß zum Tätigwerden bestanden.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision trägt der Kläger vor, entgegen der Ansicht des LSG habe die Beklagte bei Erlaß des fehlerhaften Bescheides vom 1. Juli 1975 sowohl eine sich aus dem Sozialrechtsverhältnis ergebende Beratungspflicht verletzt als auch eine unrichtige Auskunft erteilt. Die Erteilung eines Rentenbescheides umfasse stets auch eine Rentenauskunft und sei mehr als eine solche. Er (Kläger) habe die falsche Rentenberechnung nicht zu erkennen vermocht. Der Beklagten hingegen sei bekannt gewesen, daß die nach dem WGSVG nachentrichteten Beiträge als Pflichtbeiträge zu berücksichtigen seien. Sie habe mit ihrem Verhalten selbst eingeräumt, daß sie fehlerhaft vorgegangen sei. Dann aber verstoße es gegen Treu und Glauben, daß sie eine Berichtigung jahrelang unterlassen habe und sich nunmehr auf neu in Kraft getretene gesetzliche Bestimmungen berufe. Er (Kläger) habe von Anfang an einen Anspruch auf höhere Rentenleistungen unter Berücksichtigung der vorgenommenen Beitragsnachentrichtung gehabt. Dieser Rentenanspruch sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) als Eigentum durch Art 14 des Grundgesetzes (GG) geschützt. Die zeitliche Einschränkung des Anspruchs aufgrund des § 44 Abs 4 SGB 10 stelle eine unzulässige Enteignung dar und verstoße gegen die Eigentumsgarantie des Art 14 GG.

Der Kläger beantragt sinngemäß, die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 18. Januar 1985 und des Sozialgerichts Berlin vom 22. Mai 1984 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 7. Juli 1982 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 9. November 1982 zu verurteilen, die nach Neuberechnung festgesetzte Rente bereits vom 1. April 1975 an zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. § 44 Abs 4 SGB 10 sei auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Diese Anwendung verstoße nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- (Hinweis auf das Urteil vom 11. April 1985 - 4b/9a RV 5/84 - = SozR 1300 § 44 Nr 17) auch dann nicht gegen Treu und Glauben, wenn sie (die Beklagte) die falsche Berechnung des Altersruhegeldes verschuldet haben sollte oder die Voraussetzungen eines Herstellungsanspruchs vorlägen. Nach dem Beschluß des Großen Senats (GS) des BSG vom 15. Dezember 1982 (BSGE 54, 223 = SozR aaO Nr 3) habe der Gesetzgeber mit § 44 Abs 4 SGB 10 nicht eine verfassungswidrige Eigentumsverletzung angeordnet, sondern lediglich Inhalt und Schranken des Eigentums an Versichertenrenten bestimmt. Überdies habe das fehlerhafte Verwaltungshandeln lediglich die pauschale Ausfallzeit des Klägers und damit einen Leistungsbestandteil berührt, der nicht im wesentlichen auf einer Beitragsleistung des Klägers, sondern vor allem auf staatlicher Gewährung beruhe.

 

Entscheidungsgründe

Die durch nachträgliche Zulassung statthafte Revision des Klägers ist zulässig, aber nicht begründet.

Der Kläger kann das durch den Bescheid der Beklagten vom 7. Juli 1982 neu festgestellte und höhere Altersruhegeld nicht bereits ab 1. April 1975, sondern erst ab 1. Januar 1978 beanspruchen.

Soweit sich im Einzelfall ergibt, daß bei Erlaß eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10). Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des SGB längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag (§ 44 Abs 4 SGB 10).

Die Voraussetzungen des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 für eine Rücknahme des Bescheides vom 1. Juli 1975 sind erfüllt gewesen. Bei Erlaß dieses Bescheides hat die Beklagte das Recht unrichtig angewandt. Sie ist unter Außerachtlassung dessen, daß die vom Kläger für die Zeit bis Februar 1956 nach dem WGSVG nachentrichteten Beiträge als rechtzeitig entrichtete Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit gelten (§ 10 Abs 1 Satz 3 WGSVG), bei der Ermittlung der pauschalen Ausfallzeit davon ausgegangen, daß der letzte Pflichtbeitrag vor dem 1. Januar 1957 für den Monat April 1933 entrichtet worden sei, und hat infolgedessen eine pauschale Ausfallzeit von lediglich 12 anstatt richtigerweise 58 Monaten berücksichtigt. Dadurch ist dem Kläger das ihm zustehende höhere Altersruhegeld zu Unrecht nicht erbracht worden. In diesem Umfange ist die Beklagte nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 zur Rücknahme des Bescheides vom 1. Juli 1975 mit Wirkung für die Vergangenheit verpflichtet gewesen. Dieser Verpflichtung ist sie durch Erlaß des Bescheides vom 7. Juli 1982 nachgekommen. Darüber herrscht unter den Beteiligten kein Streit.

Der Kläger kann die Zahlung des im zustehenden höheren Altersruhegeldes längstens für vier Jahre rückwirkend von dem Beginn des Jahres, in welchem er seinen Neufeststellungsantrag vom 17. Mai 1982 gestellt hat, und somit erst ab 1. Januar 1978 verlangen. Das ergibt sich aus § 44 Abs 4 Sätze 1 und 3 SGB 10. Die Vorschrift ist auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar. Nach dem Beschluß des GS des BSG vom 15. Dezember 1982 (BSGE 54, 223, 226 ff = SozR 1300 § 44 Nr 3 S 4 ff) findet § 44 SGB 10 mit Einschluß seines Abs 4, soweit Leistungen vor dem 1. Januar 1981 in Streit stehen und eine Leistungs- bzw Verpflichtungsklage über den 31. Dezember 1980 hinaus anhängig ist, selbst dann Anwendung, wenn der Verwaltungsakt, der durch den angefochtenen Verwaltungsakt aufgehoben werden soll, vor dem 1. Januar 1981 erlassen worden ist (seither ständige Rechtsprechung des BSG; vgl ua BSGE 55, 87, 88 = SozR 1300 § 44 Nr 4 S 12; BSG SozR 2200 § 1251 Nr 102 S 280; BSG SozR 1200 § 59 Nr 5 S 8 uam).

Gegen die Anwendbarkeit des § 44 SGB 10 einschließlich seines Abs 4 auf Sachverhalte, in denen der aufzuhebende Verwaltungsakt vor dem 1. Januar 1981 erlassen worden ist und um (höhere) Leistungen für eine Zeit vor diesem Stichtag gestritten wird, werden seitens der Revision prinzipielle Einwendungen nicht erhoben. Der Kläger meint allerdings, es stelle einen Verstoß gegen Treu und Glauben dar, wenn die Beklagte jahrelang eine Berichtigung unterlassen habe und sich nunmehr auf neu in Kraft getretene Bestimmungen berufe. Diese Argumentation ist schon von ihrem Ansatzpunkt her verfehlt. Die Beklagte kann sich - anders als bei einer Erhebung der Einrede der Verjährung - nicht auf § 44 Abs 4 SGB 10 "berufen" und allein deswegen mit einer solchen "Berufung" auch nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoßen. Sie hat vielmehr § 44 Abs 4 SGB 10 als eine Vorschrift zwingenden Rechts zu beachten. Schon der GS des BSG hat in seinem vorerwähnten Beschluß (BSGE 54, 223, 225 = SozR 1300 § 44 Nr 3 S 3) ausgeführt, nach Inkrafttreten des § 44 SGB 10 stelle sich die Frage der Verjährung nicht mehr und sei nach dessen Abs 4 bei Rücknahme von Verwaltungsakten für die Vergangenheit die rückwirkende Rentenleistung auf die Dauer von vier Jahren beschränkt. Dem folgend hat der 5b Senat des BSG im Urteil vom 29. November 1984 (BSG SozR aaO Nr 15 S 26) ausgesprochen, § 44 Abs 4 SGB 10 ersetze die Erhebung der Einrede der Verjährung und enthebe den Versicherungsträger der Entscheidung darüber, ob er diese Einrede erheben wolle oder nicht. Schließlich hat der 4b Senat des BSG in seinem Urteil vom 11. April 1985 (BSG SozR aaO Nr 17 S 37) im Einklang mit der ganz herrschenden Meinung im sozialrechtlichen Schrifttum ausgeführt, § 44 Abs 4 Satz 1 SGB 10 enthalte eine materiell-rechtliche Einschränkung des nachträglich bewilligten Anspruchs auf Sozialleistungen für die Vergangenheit, deren Wirkung über die der Verjährung nach § 45 des Sozialgesetzbuchs, Erstes Buch, Allgemeiner Teil (SGB 1) vom 11. Dezember 1975 (BGBl I S 3015) hinausgehe und der einer Ausschlußfrist entspreche (diesem Urteil zustimmend Hofe, SGb 1986, 11, 15 f; Benz, WzS 1986, 161, 167). Es unterliegt somit nicht dem Ermessen oder gar dem Belieben des Versicherungsträgers, ob er § 44 Abs 4 SGB 10 anwenden will oder nicht. Vielmehr ist ihm diese Anwendung zwingend vorgeschrieben. Dann aber kann diese Anwendung seitens eines mit Verfassungsrang (Art 20 Abs 3 GG) an Gesetz und Recht gebundenen Trägers der mittelbaren Staatsverwaltung von vornherein einen Verstoß gegen Treu und Glauben nicht darstellen.

§ 44 Abs 4 SGB 10 widerspricht nicht dem GG. Nach dem Beschluß des GS des BSG vom 15. Dezember 1982 (BSGE 54, 223, 231 = SozR 1300 § 44 Nr 3 S 10) ist die auf Art II § 40 Abs 2 SGB 10 beruhende rückwirkende Anwendbarkeit des § 44 Abs 4 SGB 10 im Falle der Aufhebung eines vor dem 1. Januar 1981 erlassenen Verwaltungsaktes mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip herzuleitenden Grundsatz des Vertrauensschutzes vereinbar. Im übrigen hat die Rechtsprechung des BSG die Verfassungsmäßigkeit des § 44 Abs 4 SGB 10 wiederholt ohne nähere Ausführungen durch bloße Bejahung seiner Anwendbarkeit unterstellt (so zB BSGE 55, 87, 91 = SozR aaO Nr 4 S 15 f; BSG SozR 1200 § 59 Nr 5 S 10 f; BSGE 57, 209, 211 = SozR 1300 § 44 Nr 13 S 22; BSG SozR aaO Nr 15 S 24 f; Nr 18 S 40; Nr 19 S 43). Auch der erkennende Senat hält § 44 Abs 4 SGB 10 für mit dem GG vereinbar. Die Vorschrift steht insbesondere nicht im Widerspruch zu Art 14 GG.

Allerdings kann sie dazu führen, daß ein an sich bestehender Rentenanspruch für einen bestimmten Zeitraum nicht oder nicht vollständig erfüllt und dadurch für die Dauer dieses Zeitraums ganz oder partiell "entzogen" wird. Im vorliegenden Fall wirkt sich dies wie folgt aus: Dem Kläger ist das zunächst unzutreffend berechnete und deswegen niedrigere Altersruhegeld ab 1. April 1975 bewilligt worden. Das durch den Bescheid vom 7. Juli 1982 neu festgestellte höhere Altersruhegeld ist ihm aufgrund des § 44 Abs 4 SGB 10 erst ab 1. Januar 1978 zu zahlen. Ohne Anwendung dieser Vorschrift hätte es bereits ab 1. April 1975 gezahlt werden müssen. Der Rentenanspruch des Klägers wird damit für die Zeit vom 1. April 1975 bis 31. Dezember 1977 in Höhe des Differenzbetrages zwischen der zunächst festgestellten niedrigeren und der sodann zutreffend berechneten höheren Rente "entzogen". § 44 Abs 4 SGB 10 kann sogar noch weitergehende Wirkungen zeitigen und zB dann, wenn ein Rentenantrag zunächst rechtswidrig vollständig (dem Grunde nach) abgelehnt worden ist und dieser Ablehnungsbescheid nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 erst nach einem Zeitraum von mehr als vier Jahren zurückgenommen wird, dazu führen, daß dem Berechtigten die an sich zustehende Rente für einen zurückliegenden Zeitraum von uU mehreren Jahren nicht gezahlt wird (vgl etwa den Sachverhalt des allerdings durch Prozeßurteil vom heutigen Tage abgeschlossenen Rechtsstreits 1 RA 1/86).

Gleichwohl ist § 44 Abs 4 SGB 10 mit Art 14 GG vereinbar (so auch v. Einem in AmtlMitt der LVA Rheinprovinz 1981, 477, 479 und SozVers 1982, 1, 2 f; zweifelnd Zweng/Scheerer/Buschmann, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl, Stand: 1. Juli 1985, Band 1, § 44 SGB 10, Anm VI 1). Nach nunmehr feststehender Rechtsprechung des BVerfG genießen Ansprüche auf Versichertenrenten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen und solche Rechtspositionen des Versicherten nach Begründung des Rentenversicherungsverhältnisses, die bei Erfüllung weiterer Voraussetzungen wie etwa des Ablaufs der Wartezeit oder des Eintritts des Versicherungsfalles zum Vollrecht erstarken können (Rentenanwartschaften), den Schutz der Eigentumsgarantie (Art 14 Abs 1 Satz 1 GG). Die konkrete Reichweite dieses Schutzes ergibt sich aber erst aus der Bestimmung des Inhalts und der Schranken des Eigentums, die nach Art 14 Abs 1 Satz 2 GG Sache des Gesetzgebers ist. Für dessen Gestaltungsfreiheit sind Eigenart und Funktion des Eigentumsobjektes von maßgeblicher Bedeutung. Sie führen zu einer gewissen Stufung des Schutzes: Dem Gesetzgeber sind enge Grenzen gezogen, soweit es um die Funktion des Eigentums als Element der persönlichen Freiheit des Einzelnen geht. Dagegen ist die Befugnis des Gesetzgebers zur Inhalts- und Schrankenbestimmung umso weiter, je mehr das Eigentumsobjekt in einem sozialen Bezug und einer sozialen Funktion steht. Rentenversicherungsansprüche und Rentenanwartschaften stehen, auch wenn sie einen personalen Bezug aufweisen, als Bestandteile eines Leistungssystems, dem eine besonders bedeutsame soziale Funktion zukommt, zugleich in einem ausgeprägten sozialen Bezug. Deswegen kommt dem Gesetzgeber bei der Bestimmung des Inhalts und der Schranken rentenversicherungsrechtlicher Positionen grundsätzlich eine weite Gestaltungsfreiheit zu. Das gilt insbesondere für Regelungen, die dazu dienen, die Funktions- und Leistungsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherungen im Interesse aller zu erhalten, zu verbessern oder veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen. Insoweit umfaßt Art 14 Abs 1 Satz 2 GG auch die Befugnis, Rentenansprüche und -anwartschaften zu beschränken; sofern dies einem Zweck des Gemeinwohls dient und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, ist es dem Gesetzgeber grundsätzlich nicht verwehrt, Leistungen zu kürzen, den Umfang von Ansprüchen oder Anwartschaften zu vermindern oder diese umzugestalten. Allerdings verengt sich seine Gestaltungsfreiheit in dem Maße, in dem Rentenansprüche oder -anwartschaften durch den personalen Bezug des Anteils eigener Leistung des Versicherten geprägt sind (so grundlegend BVerfGE 53, 257, 289 ff; daran anschließend BVerfGE 58, 81, 109 f; 69, 272, 298; 70, 101, 110 f).

Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung muß die Festlegung einer vierjährigen Ausschlußfrist für nachträglich zu erbringende Sozialleistungen in § 44 Abs 4 SGB 10 als zulässige Bestimmung des Inhalts und der Schranken des Eigentums iS des Art 14 Abs 1 Satz 2 GG angesehen werden. Der Gesetzgeber hat mit der Regelung einen Konflikt zwischen dem Interesse einerseits des Versicherten an einer vollständigen Erbringung der ihm zu Unrecht vorenthaltenen Sozialleistung und andererseits der Solidargemeinschaft aller Versicherten an einer Erhaltung der Leistungsfähigkeit des in Anspruch genommenen Versicherungsträgers und damit einhergehend an einer möglichst geringen Belastung mit Ausgaben für Leistungen für zurückliegende Zeiträume lösen müssen. Bei der Lösung dieses Interessenkonfliktes hat er den ausgeprägten sozialen Bezug und die bedeutsame soziale Funktion von Rentenansprüchen aus der gesetzlichen Rentenversicherung berücksichtigen dürfen und müssen. Das schließt es aus, einseitig das Interesse des Versicherten an der Erfüllung seiner Rentenansprüche auch für weiter zurückliegende Zeiträume als ausschlaggebend zu bewerten und darüber die Interessen der Versichertengemeinschaft daran zu vernachlässigen, daß die Ausgaben des Leistungsträgers zur Erfüllung rückständiger Leistungen in vertretbarem Umfang gering gehalten werden und dadurch annähernd kalkulierbar bleiben. Zur Verjährungsvorschrift des § 29 Abs 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in ihrer bis zum 31. Dezember 1975 geltenden Fassung hat bereits der GS des BSG in seinem Beschluß vom 21. Dezember 1971 (BSGE 34, 1, 11 f = SozR Nr 24 zu § 29 RVO) ausgeführt, auch in einem sozialen Rechtsstaat sei die Verjährung, die insbesondere der Rechtssicherheit diene, durchaus notwendig und auch bei öffentlich-rechtlichen Ansprüchen vermögensrechtlicher Art grundsätzlich anzuerkennen. Der gesetzgeberische Grund dafür sei darin zu erblicken, daß Renten im wesentlichen dem laufenden Unterhalt des Berechtigten dienten. Auch auf dem Gebiet der Sozialversicherung solle durch Verjährungsvorschriften verhütet werden, daß die Versicherungsträger durch Nachzahlungen für weit zurückliegende Zeiträume eine dem System der Rentenversicherung und ihren Finanzierungsmethoden schädliche unvorhergesehene und unzumutbare Belastung erführen. Es entspreche dem Zweck der Verjährung von Rentenansprüchen, den Versicherungsträger davor zu bewahren, daß er für eine praktisch unbegrenzte Zeit noch mit verspäteten Anmeldungen rechnen müsse. Diese Erwägungen müssen in gleicher Weise bei der verfassungsrechtlichen Prüfung des § 44 Abs 4 SGB 10, wenngleich es sich dabei nicht um eine Verjährungsvorschrift handelt, am Maßstab des Art 14 GG gelten. Insofern ist § 44 Abs 4 SGB 10 außerdem im Kontext mit § 45 SGB 1 und mit § 25 des Sozialgesetzbuchs, Viertes Buch, Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (SGB 4) vom 23. Dezember 1976 (BGBl I S 3845) zu sehen. Danach verjähren Ansprüche sowohl auf Sozialleistungen als auch auf Beiträge im allgemeinen in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres ihrer Entstehung bzw ihrer Fälligkeit. Der Gesetzgeber hat durch die Wahl eines einheitlichen Vierjahreszeitraums zum Ausdruck gebracht, daß gleichermaßen zu Lasten wie aber auch zu Gunsten des Versicherten Rechte und Pflichten aus dem Sozialleistungsverhältnis nach Ablauf einer solchen Zeitspanne nicht mehr sollen geltend gemacht werden können. Das stellt eine in sich ausgewogene Gesamtregelung dar, innerhalb derer die Regelung des § 44 Abs 4 SGB 10 eine den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrende und damit zulässige Bestimmung des Inhalts und der Schranken des Eigentums iS des Art 14 Abs 1 Satz 2 GG ist.

§ 44 Abs 4 SGB 10 ist nach alledem gültiges Recht und schließt einen Anspruch des Klägers auf Zahlung des höheren Altersruhegeldes für eine Zeit vor dem 1. Januar 1978 aus. Eine derartige Zahlung kann er auch nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs verlangen. Dabei braucht der Senat nicht der in Rechtsprechung und Schrifttum weithin bejahten Frage nachzugehen, ob die vierjährige Ausschlußfrist des § 44 Abs 4 SGB 10 auch für den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch gilt (bejahend BSG SozR 1300 § 44 Nr 17 S 38; Zweng/Scheerer/Buschmann, aaO; Kommentar zum Recht der Gesetzlichen Rentenversicherung, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Stand: 1. Juli 1985, § 44 SGB 10, Rdn 20; verneinend Geschwinder, ZfS 1985, 70, 74; für Anwendbarkeit lediglich in Ausnahmefällen Bühler Mitt LVA Württemberg 1984, 201, 206). Diese Frage stellt sich hier nicht. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch ist schon seinen tatbestandsmäßigen Voraussetzungen nach nicht gegeben.

Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist nicht gesetzlich geregelt. Er ist als richterrechtliches Institut von der ständigen Rechtsprechung des BSG für den Fall entwickelt worden, daß der Versicherungsträger eine ihm gegenüber dem Versicherten obliegende Nebenpflicht (hierzu näher im folgenden) aus dem Sozialrechtsverhältnis - insbesondere zur Auskunft, Beratung und Betreuung - verletzt und dem Versicherten dadurch sozialrechtlich ein Schaden zugefügt wird. Daraus kann dem Versicherten ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch erwachsen. Er ist auf die Vornahme einer Amtshandlung zur Herbeiführung derjenigen Rechtsfolgen gerichtet, welche eingetreten wären, wenn der Versicherungsträger die ihm obliegenden Pflichten ordnungsgemäß wahrgenommen hätte, wobei die Pflichtverletzung ursächlich für den sozialrechtlichen Schaden gewesen sein muß (vgl Urteile des erkennenden Senats in BSGE 50, 88, 91 = SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 39 S 74 f und in SozR 1200 § 14 Nr 8 S 5 f und Nr 9 S 9; ferner BSGE 56, 61, 62 = SozR 2200 § 313 Nr 7 S 10 f; vgl auch die umfangreichen Rechtsprechungshinweise in BSG SozR 5070 § 10 Nr 25 S 55).

Nach Auffassung des Senats schließt die Anwendbarkeit des § 44 SGB 10 die Herleitung weitergehender Rechtsfolgen auf der Grundlage des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs aus.

Das Verhältnis des § 44 SGB 10 zum Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs wird nicht einheitlich beurteilt. In der Rechtsprechung des BSG ist diese Frage bisher weitgehend offen geblieben (vgl BSGE 54, 223, 232; BSG SozR 1300 § 44 Nr 17 S 37 f; Nr 19 S 45). Lediglich der 5a Senat des BSG (BSG SozR 1300 § 44 Nr 18 S 41) hat ausgesprochen, durch die in § 44 SGB 10 getroffene Regelung werde ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch nicht von vornherein ausgeschlossen. Dabei seien die objektiv unrichtigen rechtlichen Ausführungen in einem Bescheid einer falschen Belehrung oder Auskunft gleichzuerachten. Im sozialrechtlichen Schrifttum wird zum Teil die Ansicht vertreten, nach Rücknahme eines nicht begünstigenden Verwaltungsakts seien die leistungsrechtlichen Folgen ausschließlich über den Herstellungs- oder einen Folgenbeseitigungsanspruch zu korrigieren. So meint Vöcking (in Hauck/Haines, Sozialgesetzbuch, SGB X 1, 2, Stand: 1. Januar 1986, K § 44 Rdz 30 und 34), der Betroffene habe nach Aufhebung eines Verwaltungsaktes einen verschuldensunabhängigen Folgenbeseitigungs- oder Herstellungsanspruch auf Herstellung eines Zustandes, der ohne das rechtswidrige Verhalten der Behörde bestanden hätte, soweit dies mit hoheitlichen Mitteln möglich sei (ähnlich Benz WzS 1986, 161, 168). Durch § 44 Abs 4 Satz 1 SGB 10 habe der Gesetzgeber hinsichtlich zu Unrecht nicht erbrachter Sozialleistungen den Folgenbeseitigungsanspruch auf das nach Sinn und Zweck der materiellen Vorschriften der besonderen Teile Machbare beschränkt. Auf der anderen Seite wird - mit unterschiedlichen Rechtsfolgerungen - die Meinung vertreten, ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch könne neben einem Anspruch aus § 44 SGB 10 bestehen. Insofern ist einerseits Geschwinder (aaO, S 74) der Ansicht, der Herstellungsanspruch sei, falls sowohl dessen als auch die Voraussetzungen des § 44 SGB 10 erfüllt seien, gegenüber dieser Vorschrift lex specialis. Andererseits meint v. Einem (Amtl Mitt der LVA Rheinprovinz 1981, 477, 478 und SozVers 1982, 1, 2), in bestimmten Fällen könnten die Voraussetzungen des § 44 SGB 10 und des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs gleichzeitig vorliegen. Dann gehe § 44 SGB 10 als speziellere gesetzliche Regelung stets dem von der Rechtsprechung entwickelten Herstellungsanspruch vor, sofern die unrichtige oder unvollständige Beratung des Antragstellers in einer unrichtigen Rechtsanwendung oder einer Zugrundelegung eines falschen Sachverhaltes ihren Niederschlag gefunden habe. § 44 SGB 10 stelle insoweit einen gesetzlich geregelten Anwendungsfall des Herstellungsanspruchs dar. Ähnlich führt Diener (Mitt der LVA Oberfranken 1981, 439, 450) aus, es seien Fälle denkbar, in denen der Versicherte aufgrund einer unrichtigen Beratung in bezug auf sein Versicherungsverhältnis eine ungünstige Gestaltungsmöglichkeit gewählt habe, aufgrund derer dann ein Bescheid des Versicherungsträgers ergangen sei. Stelle sich später dessen Unrichtigkeit zum Nachteil des Versicherten heraus, und mache dieser einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch geltend, so gehe es um die Aufhebung dieses rechtswidrigen, nicht begünstigenden Verwaltungsaktes, die sich nach § 44 SGB 10 richte. Speziell für den Fall, daß nicht eine Betreuungs-, Beratungs- oder Auskunftspflicht im engeren Sinne, sondern bei Erlaß des rechtswidrigen Bescheides das materielle Leistungsrecht selbst verletzt worden sei, hält es Hofe (SGb 1986, 11, 15 f) für zweifelhaft, ob der sozialrechtliche Herstellungsanspruch auch bei einer Verletzung der Hauptleistungspflicht bestehe. Nach dem Urteil des BSG vom 12. Dezember 1984 (BSG SozR 4100 § 56 Nr 18 S 49) bleibe für den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch kein Raum, wenn der Leistungsträger aufgrund gesetzlicher Vorschriften "ohnehin verpflichtet" sei, die Leistung zu erbringen. Nicht anders verhalte es sich, wenn die Behörde nach Rücknahme eines bindenden Bescheides mit Wirkung ex tunc wegen ihrer gesetzlich geregelten Leistungspflicht ohnehin verpflichtet sei zu leisten. Dann bestehe kein rechtliches Bedürfnis, neben einer bestehenden gesetzlichen Leistungspflicht einen konkurrierenden Anspruch aus dem Gesichtspunkt des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs anzuerkennen.

Der Senat hat im vorliegenden Rechtsstreit nicht darüber zu befinden, ob in einem Fall der von v. Einem und Diener (aaO) geschilderten Art ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch gegeben sein kann. Dieser Fall ist dadurch charakterisiert, daß dem eigentlichen Leistungsfeststellungsverfahren eine unrichtige Auskunft oder Beratung des Versicherten vorausgegangen ist, der Versicherte daraufhin eine ihm günstige Gestaltungsmöglichkeit nicht wahrgenommen oder eine ungünstige Gestaltungsmöglichkeit ergriffen hat und deswegen der nachfolgend erteilte Verwaltungsakt rechtswidrig ist. Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben. Die Beklagte hat den Kläger vor Erlaß des Bescheides vom 1. Juli 1975 nicht beraten. Demzufolge beruht die Rechtswidrigkeit des Bescheides nicht auf der Ausübung einer ungünstigen oder der Unterlassung einer günstigen Gestaltungsmöglichkeit seitens des Klägers infolge einer unrichtigen Auskunft oder Beratung. Sie beruht vielmehr darauf, daß die Beklagte von sich aus im Rahmen des mit dem Bescheid vom 1. Juli 1975 abgeschlossenen Leistungsfeststellungsverfahrens bei der Ermittlung der pauschalen Ausfallzeit den Charakter der nach dem WGSVG entrichteten Beiträge als Pflichtbeiträge außer acht gelassen und deswegen fälschlicherweise eine zu geringe Ausfallzeit errechnet hat.

In einem derartigen Fall rechtswidrigen Verwaltungshandelns im Rahmen eines mit der Erteilung eines (positiven oder negativen) Leistungsbescheides abgeschlossenen Leistungsfeststellungsverfahrens kommt in Übereinstimmung mit Hofe (aaO) eine Korrektur des rechtswidrigen Verwaltungsaktes und eine Erbringung der zu Unrecht vorenthaltenen (höheren) Leistung auf der Grundlage des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht in Betracht. Das ergibt sich einmal unmittelbar aus § 44 SGB 10 und folgt zum anderen aus dem Wesen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs.

Die Korrektur eines zu Lasten des Versicherten von Anbeginn an rechtswidrigen Leistungsbescheides ist durch eine Rücknahme dieses Bescheides und durch Erbringung der dem Versicherten bisher zu Unrecht vorenthaltenen Leistung vorzunehmen. Beide Rechtsfolgen sind schon durch § 44 SGB 10 zwingend vorgeschrieben. Er verpflichtet die zuständige Behörde nicht nur zur Rücknahme des Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit (Abs 1), sondern zugleich (Abs 4) zur Erbringung der (bisher vorenthaltenen) Sozialleistung nach den Vorschriften der besonderen Teile des SGB (vgl Art II § 1 SGB 1) und somit nach Maßgabe des jeweiligen Leistungsgesetzes. Der Leistungsträger ist demnach zur rückwirkenden Rücknahme des rechtswidrigen Bescheides und zur nachträglichen Gewährung der bisher vorenthaltenen Leistungen aufgrund ausdrücklicher Regelungen des geschriebenen Rechts und damit im Sinne des Urteils des BSG vom 12. Dezember 1984 (aaO) "ohnehin" verpflichtet. Angesichts dessen ist eine Heranziehung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zur Erreichung desselben Zieles weder erforderlich noch auch nur zulässig. Letzteres folgt daraus, daß im Falle eines Fehlverhaltens des Versicherungsträgers eine hierfür getroffene Sonderregelung dem allgemeinen Herstellungsanspruch vorgeht (BSGE 56, 266, 270 = SozR 2200 § 1418 Nr 8 S 18; vgl auch BSG SozR 1200 § 44 Nr 11 S 40). § 44 SGB 10 muß - zumindest für den hier allein entscheidungserheblichen Fall, daß der Leistungsträger sich innerhalb des Verfahrens zur Feststellung einer Sozialleistung rechtswidrig verhalten hat - als eine für diesen Fall geltende Sonderregelung angesehen werden (vgl auch LSG Berlin SGb 1985, 376).

Nach gängiger Terminologie setzt der sozialrechtliche Herstellungsanspruch seinem Wesen nach auf der Tatbestandsseite eine Verletzung von "Nebenpflichten" des Sozialleistungsträgers voraus. Demgegenüber haben der 12. Senat des BSG (BSGE 49, 76, 81 = SozR 2200 § 1418 Nr 6 S 13) und der erkennende Senat (BSG SozR 1200 § 14 Nr 9 S 9 f) darauf hingewiesen, daß für den Herstellungsanspruch die Unterscheidung danach, ob eine Haupt- oder eine Nebenpflicht verletzt worden sei, nicht relevant sei. Deswegen vermöge auch eine unrichtige Beratung oder Auskunft einen Herstellungsanspruch auszulösen, obgleich jedenfalls seit dem Inkrafttreten des SGB 1 die Pflicht des Sozialleistungsträgers zur Beratung und Auskunft (§§ 14, 15 SGB 1) zu einem eigenständigen Anspruch mit zentraler Bedeutung für die Funktionsfähigkeit des Systems der sozialen Sicherung aufgewertet worden sei. Daraus kann jedoch nicht hergeleitet werden, daß die Verletzung jeglicher (Haupt- oder Neben-)Pflicht des Sozialleistungsträgers einen Herstellungsanspruch auszulösen vermag. Hierfür kommt vielmehr eine Verletzung lediglich solcher Pflichten in Betracht, deren Verletzung der Gesetzgeber nicht sanktioniert hat, hinsichtlich derer also die Rechtsfolgen einer Verletzung nicht ausdrücklich geregelt worden sind. In diesem Sinne ist der terminologisch ungenaue Begriff der "Nebenpflichten" zu verstehen, und nur für die Fälle einer Verletzung dieser Pflichten ist das richterrechtliche Institut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs überhaupt entwickelt worden. Hingegen kann es nicht Fälle erfassen, in denen die Rechtsfolgen der Verletzung einer dem Sozialleistungsträger obliegenden Pflicht vom Gesetzgeber selbst ausdrücklich geregelt worden sind. In diesen Fällen ist die Heranziehung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht nur entbehrlich. Sie würde darüber hinaus möglicherweise sogar der vom Gesetzgeber selbst getroffenen Regelung widersprechen. Das verdeutlicht der vorliegende Fall: Nach § 44 Abs 4 SGB 10 hat der Leistungsträger nach Rücknahme eines nicht begünstigenden Verwaltungsaktes die zu Unrecht vorenthaltenen Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme zu erbringen. Der in dieser Regelung manifestierte Wille des Gesetzgebers würde mißachtet, wenn unter denselben Voraussetzungen durch Zuhilfenahme des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs eine Erbringung der vorenthaltenen Leistungen für einen weiter als vier Jahre zurückliegenden Zeitraum erreicht werden könnte.

Der Senat gelangt zu dem Ergebnis, daß die Rechtsfolgen einer fehlerhaften Rechtsanwendung oder der Zugrundelegung eines unrichtigen Sachverhaltes im Rahmen eines mit der Erteilung eines Bescheides abgeschlossenen Leistungsfeststellungsverfahrens in § 44 Abs 1 und 4 SGB 10 erschöpfend geregelt worden sind und neben dieser Regelung ein - eventuell auf weitergehende Rechtsfolgen gerichteter - sozialrechtlicher Herstellungsanspruch nicht in Betracht kommt. Mit dieser Entscheidung weicht der Senat nicht von dem Urteil des 5a Senats vom 14. Mai 1985 (BSG SozR 1300 § 44 Nr 18) ab. Der jenem Urteil zugrundeliegende Sachverhalt weist die Besonderheit auf, daß nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz die Klägerin infolge objektiver unrichtiger rechtlicher Ausführungen in einem früheren Bescheid davon abgehalten worden ist, schon zu einem früheren Zeitpunkt einen erneuten Rentenantrag zu stellen (aaO S 41). Über einen solchen Sachverhalt ist im vorliegenden Rechtsstreit nicht zu entscheiden. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG bieten keinen Anhalt dafür, daß der Kläger durch die unzutreffende Berechnung der pauschalen Ausfallzeit im Bescheid vom 1. Juli 1975 zu einem ihm nachteiligen Handeln oder Unterlassen veranlaßt worden ist.

Der Kläger kann nach alledem unter keinem der erörterten rechtlichen Gesichtspunkte eine Zahlung des höheren Altersruhegeldes für die Zeit vor dem 1. Januar 1978 beanspruchen. Dies führt zur Zurückweisung seiner Revision.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1664171

BSGE, 158

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