Leitsatz (amtlich)

Hat ein Senat des Bundessozialgerichts eine nicht zugelassene Revision ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß ohne Zuziehung der Bundessozialrichter als unzulässig verworfen (SGG § 169 S 3), weil er der Überzeugung gewesen ist, der mit der Revision gerügte Mangel in dem Verfahren des LSG liege nicht vor, die Revision sei deshalb nicht nach SGG § 162 Abs 1 Nr 2 statthaft, so ist die Nichtigkeitsklage, mit der Wiederaufnahme des Verfahrens wegen nicht vorschriftsmäßiger Besetzung des Gerichts begehrt wird (SGG § 179 Abs 1, ZPO § 579 Abs 1 Nr 1), nicht begründet.

 

Normenkette

SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 169 S. 3 Fassung: 1953-09-03, § 179 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 579 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1950-09-12

 

Tenor

Die Nichtigkeitsklage der Klägerin gegen den Beschluß des Bundessozialgerichts vom 10. August 1964 wird abgewiesen.

Kosten sind der Klägerin nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Durch Beschluß vom 10. August 1964 verwarf der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) ohne Zuziehung der Bundessozialrichter die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Berlin vom 24. Januar 1964 als unzulässig (§ 169 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); er hielt die Revision, die vom LSG nicht zugelassen war (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), nicht für statthaft, weil die Klägerin nicht "mit Erfolg" gerügt habe, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150). Der Beschluß wurde der Klägerin zu Händen ihres Prozeßbevollmächtigten am 27. August 1964 zugestellt.

Am 25. September 1964 erhob die Klägerin gegen den Beschluß Nichtigkeitsklage nach § 179 SGG, § 579 Abs. 1 Nr. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO). Zur Begründung führte sie aus, das BSG habe zu Unrecht die Revision deshalb nicht für statthaft gehalten, weil ein wesentlicher Mangel des Verfahrens des LSG nicht "mit Erfolg" gerügt worden sei; nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG sei die Revision durch die in der Revisionsbegründung erhobene und sachgerecht begründete Rüge eines Verfahrensmangels statthaft geworden, das BSG habe daher über die Revision sachlich entscheiden müssen. Wenn es die wirksam erhobene Rüge nicht für begründet angesehen habe, habe es die Revision durch Urteil als unbegründet zurückweisen müssen, diese Entscheidung habe der Senat nur in voller Besetzung, also unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter, treffen dürfen; die Unrichtigkeit der Rechtsauffassung des Senats ergebe sich auch aus der verschiedenen Regelung der Zulässigkeitsvoraussetzungen für nicht zugelassene Revisionen in § 162 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 SGG, nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG sei die Revision nur statthaft, wenn in Angelegenheiten der Unfallversicherung oder der Kriegsopferversorgung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs das Gesetz verletzt "ist", die Rüge der Verletzung des Gesetzes genüge hier nicht, wohl aber in den Fällen des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; die Rechtsauffassung des Senats stehe ferner im Widerspruch zu der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 41 p Abs. 3 Nr. 1 bis 5 des Patentgesetzes und zu § 73 Abs. 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, obwohl diese Vorschriften über die zulassungsfreie Rechtsbeschwerde, ebenso wie die Regelung in § 133 der Verwaltungsgerichtsordnung für die zulassungsfreie Revision, für den Fall der Rüge eines wesentlichen Verfahrensmangels der Vorschrift des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG entsprächen; schließlich enthielten auch die Rechtsmittelbelehrungen der Urteile der Landessozialgerichte keinen Hinweis darauf, daß zur Statthaftigkeit der Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG das Vorliegen des gerügten Verfahrensmangels gehöre. Infolge seines Rechtsirrtums bei der Anwendung des § 162 SGG sei der Senat daher bei dem angefochtenen Beschluß nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen.

Die Beklagte beantragte,

die Nichtigkeitsklage als unzulässig zu verwerfen.

Die Beigeladene stellte keinen Antrag.

II

Die Nichtigkeitsklage ist statthaft. Nach § 179 Abs. 1 SGG kann "ein rechtskräftig beendetes Verfahren" entsprechend den §§ 578 ff ZPO wieder aufgenommen werden. Der Beschluß des BSG vom 10. August 1964 hat das erste Verfahren der Klägerin (den Hauptprozeß) rechtskräftig beendet; § 179 SGG beschränkt schon seinem Wortlaut nach die Wiederaufnahme nicht auf ein "durch rechtskräftiges End urteil geschlossenes Verfahren" (§ 578 Abs. 1 ZPO); im übrigen sind auch nach der ZPO die §§ 578 ff auf rechtskräftige Beschlüsse , die das Verfahren beenden, entsprechend anzuwenden (Stein/Jonas, ZPO, 18. Aufl., Anm. V 1 vor § 578; Baumbach/Lauterbach, ZPO, Anm. 2 vor § 578; Rosenberg, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 8. Aufl., § 154 III, 2, 772). Die Nichtigkeitsklage ist auch fristgerecht (§ 586 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO), in gehöriger Form (§ 587 ZPO, § 166 SGG) und bei dem zuständigen Gericht (§ 584 Abs. 1 ZPO, letzter Halbsatz) erhoben. Sie ist damit zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet; der Anfechtungsgrund - nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts - liegt nicht vor.

Die Nichtigkeitsklage ist dazu bestimmt, unter den im Gesetz genannten Voraussetzungen die Wiederaufnahme eines durch eine rechtskräftige Entscheidung beendeten Verfahrens, des Hauptprozesses, zu ermöglichen, wenn der Hauptprozeß mit den in § 579 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 ZPO aufgeführten besonders schweren prozessualen Fehlern behaftet ist; sie ermöglicht es einem Beteiligten, trotz Rechtskraft der Entscheidung im Hauptprozeß eine neue Entscheidung im "Folgeprozeß" unter Beachtung der vom Gericht im Hauptprozeß nicht berücksichtigten Verfahrensvorschriften zu erzwingen. Die Nichtigkeitsklage ist aber nicht gegeben, wenn der behauptete Nichtigkeitsgrund im Hauptprozeß nicht übersehen worden ist, das Gericht ihn vielmehr geprüft und in einem Zwischenurteil oder in der den Hauptprozeß abschließenden Entscheidung dazu Stellung genommen hat, gleich, ob diese Stellungnahme zutreffend gewesen ist oder nicht. Das zeigt vor allem die Vorschrift des § 579 Abs. 1 Nr. 2 ZPO; danach ist eine Nichtigkeitsklage wegen Mitwirkung eines ausgeschlossenen Richters nicht statthaft, wenn dieses Hindernis schon im Hauptprozeß "ohne Erfolg geltend gemacht" worden ist; es kommt hier nicht darauf an, ob das Gesuch im Hauptprozeß zu Recht oder zu Unrecht abgelehnt worden ist. Gleiches gilt aber auch für die anderen Nichtigkeitsgründe des § 579 Abs. 1 ZPO, also auch für die Entscheidung über die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts, die im Hauptprozeß getroffen worden ist (ebenso Rosenberg aaO, § 155 I 3, 774; Wieczorek, ZPO, 1957 Anm. A II zu § 579 ZPO); hat das Gericht die prozessuale Vorschrift, die für seine Besetzung maßgebend gewesen ist, geprüft und eine Entscheidung hierüber getroffen, so ist die Nichtigkeitsklage nicht gegeben; diese Klage dient nicht dazu, die Entscheidung, die das Gericht im Hauptprozeß hinsichtlich einer Verfahrensfrage getroffen hat, erneut zur Entscheidung zu stellen; sie ist nicht ein Rechtsmittel, das die Nachprüfung der Richtigkeit einer rechtskräftigen Entscheidung prozessualen Inhalts ermöglichen soll.

Ist aber die Nichtigkeitsklage nach § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO selbst dann nicht gegeben, wenn das Gericht über seine Besetzung im Hauptprozeß ausdrücklich entschieden hat und seine Entscheidung hierüber unrichtig gewesen ist, so gilt dies um so mehr dann, wenn die Besetzung des Gerichts eine mit dem Gesetz im Einklang stehende Folge der Stellungnahme des Gerichts zu einer anderen prozessualen Frage im Hauptprozeß gewesen ist. Im vorliegenden Fall ist der Senat der Überzeugung gewesen, daß die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG unzulässig und deshalb zu verwerfen sei. Die Entscheidung, die hiernach geboten gewesen ist, hat der Senat nach § 169 Satz 3 SGG durch Beschluß ohne Zuziehung der Bundessozialrichter treffen dürfen, er ist für diese Entscheidung somit vorschriftsmäßig besetzt gewesen. Die Besetzung des Gerichts für die von ihm getroffene Entscheidung ist nicht deshalb vorschriftswidrig, weil es, wenn es die Revision für zulässig gehalten, also eine andere Entscheidung für geboten gehalten hätte, über die Revision in "voller Besetzung" durch Urteil hätte entscheiden müssen. Im vorliegenden Falle wendet sich die Klägerin mit ihrer Nichtigkeitsklage in Wirklichkeit nicht gegen die Besetzung des Gerichts, sondern gegen die Entscheidung des Gerichts über die Unzulässigkeit der Revision. Da der von der Klägerin behauptete Nichtigkeitsgrund nicht vorliegt, hat diese Entscheidung aber das Verfahren rechtskräftig beendet. Ebenso wie in jedem anderen Falle, in dem eine Entscheidung rechtskräftig geworden ist, hat der Senat auch hier keine Möglichkeit mehr, nachzuprüfen, ob diese Entscheidung richtig ist. Auch wenn der Beschluß des Senats vom 10. August 1964 - der mit der ständigen Rechtsprechung des BSG zu § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG (vgl. dazu zuletzt Henckel, ZZP, Bd. 77, 1964, S. 321, 359) übereinstimmt - auf einer unrichtigen Auslegung des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG beruhen würde, so wäre er doch nicht von einem vorschriftswidrig besetzten Gericht erlassen worden.

Die Nichtigkeitsklage ist deshalb abzuweisen. Es erübrigt sich damit, auf die weiteren Ausführungen der Klägerin zu § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG einzugehen; immerhin erscheint es angezeigt, darauf hinzuweisen, daß entgegen der Auffassung der Klägerin die Voraussetzungen für die "zulassungsfreie Verfahrensrevision" nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG anders geregelt sind als die Voraussetzungen für die "zulassungsfreie Verfahrensrevision" nach § 133 der Verwaltungsgerichtsordnung und für die "zulassungsfreie" Rechtsbeschwerde nach § 41 p des Patentgesetzes, § 73 Abs. 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen und daß es deshalb mindestens fraglich ist, ob sich aus diesen anderen Verfahrensordnungen Schlüsse auf die Auslegung des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG ziehen ließen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2380068

BSGE, 30

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