Leitsatz (amtlich)

Auch bei einem Versicherten, der im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit eine mit Strafe bedrohte Handlung begangen hat und deswegen durch strafgerichtliche Anordnung in einer Heil- oder Pflegeanstalt untergebracht worden ist (StGB § 42b), hat die KK die Kosten der in der Anstalt gewährten Krankenhauspflege zu übernehmen, soweit diese medizinisch notwendig ist; die Leistungspflicht der Kasse entfällt nur, wenn und solange die Unterbringung ausschließlich durch Sicherheitsgründe bedingt ist (Fortführung von BSG 1970-05-26 3 RK 45/69 = SozR Nr 28 zu § 184 RVO und BSG 1972-05-24 3 RK 1/70 = SozR Nr 35 zu § 184 RVO).

 

Normenkette

RVO § 184 Fassung: 1911-07-19, § 216 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1933-11-24, Nr. 4 Fassung: 1956-06-12; StGB § 42b Abs. 1

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Mai 1971 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Kläger, der an Schizophrenie leidet und als Empfänger einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit Mitglied der beklagten Krankenkasse ist, fordert von ihr die Übernahme der Kosten seiner Unterbringung im Nervenkrankenhaus Haar bei München. Er befindet sich dort seit dem 21. April 1966 aufgrund eines strafgerichtlichen Urteils, das ihn wegen Unzurechnungsfähigkeit von der Anklage eines Verbrechens freigesprochen, zugleich aber seine Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt nach § 42 b des Strafgesetzbuches (StGB) angeordnet hat (rechtskräftiges Urteil des Schöffengerichts München vom 19. April 1966). Die Unterbringungskosten trägt der beigeladene Freistaat Bayern, dem dafür die Rente des Klägers ausgezahlt wird.

Die Beklagte hat den Antrag des Klägers, die Unterbringungskosten seit Beginn seiner Kassenmitgliedschaft zu übernehmen, abgelehnt, weil die Unterbringung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit erfolgt sei (Bescheid vom 12. Juli 1968 und Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 1968).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage als unbegründet abgewiesen: Zwar bestehe auch bei einer zwangsweisen Unterbringung aus Sicherheitsgründen ein Anspruch auf Krankenhauspflege, wenn gleichzeitig eine Krankheit vorliege, die stationäre Behandlung erfordere. Hier gebe es jedoch keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Krankheit des Klägers Krankenhauspflege notwendig mache (Urteil vom 24. Juni 1969).

Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat ausgeführt, für die Unterbringung des Klägers sei nicht seine Krankheit, sondern die von ihm ausgehende Gemeingefahr ursächlich gewesen. Die Unterbringung sei eine Vollstreckungsmaßnahme, bei der der Sicherungszweck im Vordergrund stehe, eine Heilbehandlung sei nur Nebenziel. Die Vollstreckungskosten trage wie bei Freiheitsstrafen der Staat. Im Rahmen der Unterbringung erhalte der Kläger auch die notwendige Gesundheitsfürsorge. Einen darüber hinausgehenden Anspruch auf Krankenhilfe habe er nicht, auch wenn es insoweit an einer ausdrücklichen Ruhensbestimmung in § 216 der Reichsversicherungsordnung (RVO) fehle. Mit der zwangsweisen Unterbringung von Trunksüchtigen oder Geisteskranken außerhalb strafgerichtlicher Verfahren sei der Fall des Klägers nicht vergleichbar (Urteil vom 19. Mai 1971).

Der Kläger hat die zugelassene Revision eingelegt und vor allem geltend gemacht, die Beklagte habe nur zu prüfen, ob Art und Schwere seiner Krankheit Krankenhilfe in Form von Krankenhauspflege erfordere. Aus welchem Grund er in das Krankenhaus verbracht worden sei, sei unerheblich. Die von der Beklagten für den Fall ihrer Verurteilung angekündigte Überleitung der Rente verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz, da sie bei anderen als nach § 42 b StGB untergebrachten Geisteskranken nicht stattfinde. Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung aller Vorentscheidungen zu verurteilen, die Kosten seines Aufenthalts im Nervenkrankenhaus H im gesetzlichen Umfange zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält das angefochtene Urteil jedenfalls im Ergebnis für zutreffend. Es könne nicht Sache der gesetzlichen Krankenversicherung sein, für die Kosten der Vollstreckung von gerichtlichen Maßnahmen der Sicherung und Besserung aufzukommen, selbst wenn der Versicherte im Rahmen der Unterbringung mehr oder weniger zufällig Heilbehandlung erhalte. Es bestehe auch kein Anlaß, einer Person, die bereits auf Staatskosten in einem Gefängnis oder in einer ähnlichen Anstalt im Krankheitsfalle verpflegt werde, daneben noch Krankenfürsorge aus öffentlich-rechtlichen Mitteln zukommen zu lassen; die Ruhensvorschriften in § 216 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4 RVO seien entsprechend auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Im übrigen sei hier eine Verweigerung der Krankenhauspflege nach den besonderen Umständen des Falles nicht ermessenswidrig. Schließlich sei bisher nicht festgestellt, ob und in welchem Umfang der Kläger einer stationären Behandlung bedurft habe. Die Beklagte hat ihre vor dem LSG hilfsweise erhobene Widerklage auf Feststellung, daß die Rente des Klägers für die Dauer ihrer Leistungspflicht auf sie übergehe, in der Revisionsinstanz nicht wiederholt.

Die beigeladene LVA hat auf das angefochtene Urteil verwiesen. Der beigeladene Freistaat Bayern hat den gleichen Antrag wie der Kläger gestellt und dessen Ausführungen noch rechtlich ergänzt.

II

Die Revision des Klägers hat Erfolg. Die vom LSG bestätigte Abweisung der Klage kann mit der dafür gegebenen Begründung nicht aufrechterhalten bleiben.

Wie der Senat schon wiederholt entschieden hat, ist bei einem Versicherten, der zur Behandlung einer geistigen Erkrankung der Krankenhauspflege bedarf, die Leistungspflicht der Krankenkasse nicht deswegen ausgeschlossen, weil er aus Gründen der öffentlichen Sicherheit in ein Krankenhaus eingewiesen worden ist (SozR Nr. 28 und Nr. 35 zu § 184 RVO = SGb 1972, 437 mit Anm. von Krob; ähnlich für Trunksuchtsfälle SozR Nr. 23 zu § 184 RVO unter Hinweis auf BSG 28, 114, 117). Das Urteil vom 24. Mai 1972 (aaO Nr. 35 zu § 184 RVO) hat dabei ausdrücklich die frühere Auffassung aufgegeben, daß die Krankenkasse Krankenhauspflege verweigern dürfe, wenn zweifelhaft sei, ob die Unterbringung im Krankenhaus aus Sicherheitsgründen oder zum Zwecke der Krankenbehandlung erfolgt sei (so noch BSG 16, 84, 90). Die Krankenkasse und im Streitfall das Gericht müsse vielmehr den Sachverhalt aufklären; nur wenn sich dabei ergebe, daß der Versicherte ausschließlich aus Gründen der öffentlichen Sicherheit im Krankenhaus untergebracht sei und dort lediglich verwahrt, nicht behandelt werde, entfalle eine Leistungspflicht der Krankenkasse. Im übrigen, d. h. in der wohl weitaus überwiegenden Zahl der Fälle, in denen ein geisteskranker Versicherter nicht allein zum Schutze der Öffentlichkeit oder seiner eigenen Person, sondern zugleich zur Behandlung seiner Krankheit in das Krankenhaus aufgenommen worden sei, könne ihm eine medizinisch notwendige Krankenhauspflege nicht versagt werden.

Diese Grundsätze gelten nicht nur für die - bisher entschiedenen - Fälle, in denen geisteskranke Versicherte außerhalb eines strafgerichtlichen Verfahrens, vor allem aus den in den landesrechtlichen Unterbringungsgesetzen genannten Gründen, einem Krankenhaus zugeführt werden, sondern auch für den hier vorliegenden Fall, daß der Versicherte aufgrund einer strafgerichtlichen Anordnung nach § 42 b StGB in einer Heil- oder Pflegeanstalt untergebracht wird. Entgegen der Auffassung des LSG unterscheidet sich dieser Fall nicht prinzipiell von den früher entschiedenen, auch wenn die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit sich hier schon in der Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung konkretisiert hat und, je nach der Schwere des objektiv verletzten Straftatbestandes, ein gesteigertes Schutzbedürfnis der Öffentlichkeit besteht. Diese Besonderheiten ändern nichts daran, daß auch ein Geisteskranker, der wegen seiner Gefährlichkeit in einer geschlossenen Anstalt untergebracht werden muß, ein Kranker ist, der, wenn seine Krankheit durch eine stationäre Behandlung und nur durch sie beeinflußt werden kann, der Krankenhauspflege bedarf.

In diesem Sinne ist schon nach geltendem Recht die Unterbringung eines Geisteskranken in einer Heil- oder Pflegeanstalt eine Maßregel nicht nur der Sicherung, sondern zugleich der Besserung (§ 42 a Nr. 1 StGB), mag der Sicherungszweck z. Zt. auch noch im Vordergrund stehen (so Dreher, StGB, § 42 b Anm. 1, andererseits das schon verkündete Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts - 2. StrG - vom 4. Juli 1969, BGBl I 717, das in §§ 61 ff für Fälle wie den des Klägers als Maßregeln der "Besserung und Sicherung" - in dieser Reihenfolge - eine Unterbringung in einer psychiatrischen Krankenanstalt oder in einer sozialtherapeutischen Anstalt vorsieht; vgl. dazu Bundestags-Drucks. V/4095, S. 26, wonach das Bundesjustizministerium der Ansicht ist, daß für die Trennung der in psychiatrischen Krankenhäusern Untergebrachten in erster Linie medizinische Gesichtspunkte entscheidend sein müßten, nicht aber die Art der Rechtsentscheidung, aufgrund deren der betreffende Patient untergebracht sei; die Behandlungserfordernisse etwa für einen Schizophrenen könnten nicht danach differenziert werden, ob er in der Freiheit bereits einen Menschen getötet habe oder ob seine Gefährlichkeit schon vor der Begehung seiner Tat erkannt worden sei und man ihn außerhalb eines Strafverfahrens untergebracht habe).

Zuzugeben ist dem LSG allerdings, daß "ursächlich" für die gerichtliche Unterbringung des Klägers nicht seine Krankheit, sondern allein seine Gefährlichkeit gewesen ist. Für den Strafrichter kann in der Tat Motiv und Voraussetzung für eine Unterbringungsanordnung nur Art und Schwere der von dem Kranken ausgehenden Gemeingefahr sein (§ 42 b Abs. 1 StGB: "... wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert"; ähnlich § 63 Abs. 1 des 2. StrG). Eine ärztliche Behandlung des Kranken mit dem Ziel seiner Heilung als Selbstzweck liegt außerhalb des vom Strafrichter wahrzunehmenden öffentlichen Interesses. Das schließt indessen nicht aus, daß auch eine Behandlung ein geeignetes, vielleicht sogar ein besseres Mittel zur Verminderung oder Beseitigung der Gefährlichkeit des Kranken ist als die bloße "Unschädlichmachung" durch Verwahrung. Insofern, d. h. als eines der möglichen Mittel zur Erreichung des erstrebten Zweckes, dient daher auch eine gerichtliche Unterbringung nach § 42 b StGB der Heilung ("Zwangsheilung") des Untergebrachten, nicht nur seiner Verwahrung.

Daß die Unterbringung nach der genannten Vorschrift eine Vollstreckungsmaßnahme im Sinne der Strafprozeßordnung (StPO) ist, deren Kosten vom Staat getragen werden (vgl. § 463 a StPO und für Bayern Gesetz zur Ausführung des Bundessozialhilfegesetzes vom 26. Oktober 1962, Bayer. GVOBl 1962, 272, § 29 Abs. 3), steht einer Leistungspflicht der Krankenkasse nicht entgegen. Die Kostenträgerschaft des Staates ist - wie die für sonstige Vollstreckungsmaßnahmen - nur vorläufig. Auch die Kosten einer gerichtlich angeordneten Maßnahme der Sicherung und Besserung hat dem Grundsatz nach letztlich derjenige zu tragen, gegen den die Maßregel angeordnet ist (§§ 464 a Abs. 1 Satz 2, 465 Abs. 1 Satz 1 StPO; Kleinknecht, StPO 1971, § 465 Anm. 1). Schon deswegen hat ein nach § 42 b StGB untergebrachter Versicherter ein Interesse an der Übernahme der Unterbringungskosten durch seine Krankenkasse. Ob er darüber hinaus bei einer Kostenübernahme der Krankenkasse auch insofern besser steht, als zwar der Staat als Kostenträger einer Unterbringungsmaßnahme auf eine Rente des Untergebrachten zurückgreifen kann (§ 119 a RVO, seit dem 1. September 1970 idF von Art. 10 Nr. 1 des Kostenermächtigungs-Änderungsgesetzes vom 23. Juni 1970, BGBl I 805), der Krankenkasse aber ein solcher Rückgriff verwehrt ist, wie der Kläger meint, braucht hier nicht entschieden zu werden. Diese Frage ist nicht mehr Gegenstand des Rechtsstreits, nachdem die Beklagte ihren im Wege der Widerklage erhobenen Antrag auf Feststellung, daß die Rente des Klägers für die Dauer ihrer Leistungspflicht auf sie übergehe, in der Revisionsinstanz nicht wiederholt hat.

Daß schließlich die Bestimmungen über das Ruhen der Krankenhilfe in § 216 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4 RVO die Gewährung von Krankenhauspflege an einen nach § 42 b StGB untergebrachten Versicherten nicht hindern, ergibt schon der Wortlaut dieser - eng auszulegenden - Sondervorschriften. Nach Nr. 1 aaO ist ein Ruhen der Krankenhilfe nur vorgesehen, solange der Berechtigte eine Freiheitsstrafe verbüßt oder sich in Untersuchungshaft befindet oder in einem Arbeitshaus oder einem Asyl, in Sicherungsverwahrung oder in einer Fürsorgeerziehungsanstalt untergebracht ist. Daß hier der Begriff der Sicherungsverwahrung entgegen der Ansicht der Beklagten in dem (rechtstechnischen) Sinn des § 42 e StGB zu verstehen ist, also den Fall der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt nicht mitumfaßt, zeigt die Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Das Ausführungsgesetz zu dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933 (RGBl I 1000), das dem § 216 Abs. 1 Nr. 1 seine hier anzuwendende Fassung gegeben hat, hat in die RVO auch den § 119 a eingefügt (Art. 8 Nr. 1 und Nr. 3 des genannten Gesetzes). Wenn dabei in § 119 a RVO die Heil- oder Pflegeanstalt ausdrücklich erwähnt, die Sicherungsverwahrung dagegen unerwähnt gelassen worden ist, während in § 216 Abs. 1 Nr. 1 RVO nur letztere genannt ist, so kann dies nur bedeuten, daß § 216 Abs. 1 Nr. 1 RVO und das dort vorgesehene Ruhen der Krankenhilfe für den Fall der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt nicht gilt. Daran hat das Zweite Krankenversicherungsänderungsgesetz vom 21. Dezember 1970 (BGBl I 1770), das den § 216 Abs. 1 RVO ergänzt hat (Art. 1 Nr. 16), nichts geändert. Auch der in § 216 Abs. 1 Nr. 4 RVO geregelte Ruhenstatbestand (Anstaltsdauerpflege von Rentnern und ihren anspruchsberechtigten Familienangehörigen) ist mit dem vorliegenden Sachverhalt nicht vergleichbar, soweit es sich um Geisteskranke handelt, die nicht (nur) "zur Pflege", sondern (auch) zur Behandlung in der Anstalt untergebracht werden.

Eine Gewährung von Krankenhauspflege an einen nach § 42 b StGB untergebrachten Versicherten kommt allerdings nur in Betracht, wenn und solange gerade sein Krankheitszustand die Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt erfordert, diese also nicht allein auf seiner Gefährlichkeit und der damit verbundenen Notwendigkeit der Verwahrung beruht. Zu prüfen ist mithin in jedem Fall, ob und wie lange eine stationäre Behandlung in der Heil- oder Pflegeanstalt aus medizinischen Gründen erforderlich war, insbesondere ob etwa eine zunächst (auch) aus medizinischen Gründen notwendige stationäre Unterbringung später allein wegen der fortbestehenden Gefährlichkeit des Untergebrachten aufrechterhalten worden ist und die Behandlung als solche auch ambulant hätte erfolgen können. Da im angefochtenen Urteil insoweit tatsächliche Feststellungen fehlen, hat der Senat den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen. Dieses wird im Falle der Verurteilung der Beklagten auch den genauen Zeitraum ihrer Leistungspflicht festlegen müssen.

 

Fundstellen

BSGE, 133

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