Leitsatz (amtlich)

Eine chiropraktische Behandlung durch einen Nichtarzt, die nicht von einem approbierten Arzt angeordnet und geleitet oder überwacht wird, ist keine "ärztliche Behandlung" und deshalb grundsätzlich keine Versicherungsleistung.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Eine vom Kassenarzt "angeordnete" Hilfeleistung anderer Heilpersonen gehört nur dann zur ärztlichen Behandlung iS von RVO § 122 Abs 1 S 2, RVO § 182 Abs 1 Nr 1, RVO § 368e, wenn der Arzt - abgesehen von dringenden Fällen, in denen ein approbierter Arzt nicht rechtzeitig hinzugezogen werden kann - je nach Lage des Falles eine mehr oder weniger intensive persönliche Anleitung oder Beaufsichtigung der Hilfspersonen übernimmt.

2. Die von einem Chiropraktiker "eigenverantwortlich" ausgeführte Tätigkeit gehört nicht zur ärztlichen Behandlung; die "Überweisung" an einen Chiropraktiker durch einen Kassenarzt ist nach der Art der Leistung auch nicht als Verordnung eines Heilmittels anzusehen.

 

Normenkette

RVO § 122 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1911-07-19, § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1911-07-19, § 368e Fassung: 1955-08-17

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 2. Mai 1966 und das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 16. November 1964 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin ist bei der beklagten Ersatzkasse (EK) gegen Krankheit versichert. Sie litt u. a. an Kreuzschmerzen. Im Oktober 1962 begab sie sich in die Behandlung des Heilpraktikers und Chiropraktikers A I (L.) in S. Dieser nahm in ein- oder mehrwöchigen Abständen Extensionsbehandlungen mit der Glissonschlinge und andere chiropraktische Maßnahmen an der Wirbelsäule vor. Für die Behandlung stellte L. eine Rechnung in Höhe von 624,- DM aus. Die EK weigerte sich, den Betrag ganz oder teilweise zu bezahlen. Den Widerspruch der Klägerin wies die EK mit Bescheid vom 15. August 1963 zurück. Darin führte sie aus: L. sei weder Arzt noch Hilfsperson i. S. des § 122 der Reichsversicherungsordnung (RVO), so daß seine Rechnungen nicht bezahlt werden könnten, unabhängig davon, ob die chiropraktische Behandlung von einem Arzt angeordnet sei.

Im August 1963 begab sich die Klägerin in die Behandlung des Facharztes für Urologie und Kassenarztes Dr. R in S. Am 12. August 1963 stellte dieser ein EK-Verordnungsblatt mit folgendem Inhalt aus: "Überweisung an Herrn Chiropraktiker A. L wegen Osteochondrose der Wirbelsäule". Eine ähnliche Überweisung, nur auf einem gewöhnlichen Rezeptformular, nahm er am 19. Oktober 1963 vor. Am 5. Dezember 1963 stellte L. einen Behandlungsnachweis über neun Behandlungen in der Zeit vom 6. Juni bis 10. August und 14 Behandlungen in der Zeit vom 24. August bis 5. Dezember 1963 aus.

Am 7. Februar 1964 überwies Dr. R die Klägerin erneut an L. Am 10. April 1964 nahm der Facharzt für innere Krankheiten Dr. H in S auf einem EK-"Überweisungsschein" die Überweisung vor.

Eine Überwachung der chiropraktischen Behandlung nahmen Dr. R und Dr. H nicht vor.

Bereits am 23. August 1963 erhob die Klägerin Klage mit dem Antrag,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 15. August 1963 zu verurteilen, ihr diejenigen Kosten zu erstatten, die ihr durch die chiropraktische Behandlung durch Herrn L. entstanden sind.

Mit Urteil vom 16. November 1964 wurde die EK unter Aufhebung ihres ablehnenden Bescheides in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. August 1963 verurteilt, der Klägerin die durch die Inanspruchnahme des Chiropraktikers L. seit dem 1. Oktober 1963 entstandenen Kosten zu erstatten. Im übrigen wurde die Klage abgewiesen.

Auf die Berufung der EK wurde das Urteil des Sozialgerichts (SG) aufgehoben, soweit sie verurteilt worden war, über den 30. Juni 1964 hinaus Leistungen zu gewähren. Außerdem wurde das Urteil des SG dahin klargestellt, daß die Beklagte die Klägerin von den durch die Inanspruchnahme des Chiropraktikers A L in S entstandenen Kosten in Höhe von 12,- DM je Behandlung zu befreien hat. Im übrigen wurde die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung führte das Urteil aus: Die tatsächlich erfolgte Überwachung sei nicht Voraussetzung für die Einordnung als ärztliche Behandlung i. S. des § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO. Die Einordnung von Krankenpflegemaßnahmen müsse nach objektiven Gesichtspunkten erfolgen und könne nicht von der jeweilig richtigen oder falschen Handhabung der Beteiligten abhängen. Die Voraussetzungen für eine zur ärztlichen Behandlung rechnenden Hilfeleistung i. S. des § 122 Abs. 1 Satz 2 RVO hätten bei den von L. vorgenommenen chiropraktischen Maßnahmen vorgelegen, und diese Behandlung sei vom Kassenarzt angeordnet worden, so daß sie von diesem hätte ärztlich überwacht werden müssen. Wenn eine solche Überwachung von den beiden Kassenärzten versäumt worden sei, so werde dadurch der Charakter der Maßnahmen als Teil der ärztlichen Behandlung nicht berührt. Der Krankenversicherte sei nach der Krankenordnung verpflichtet, den Anordnungen seines behandelnden Arztes zu folgen und dürfe sich in aller Regel auf die Zweckmäßigkeit und Zulässigkeit der vom Arzt getroffenen Maßnahmen verlassen. Soweit das SG die Beklagte auch zur Kostenerstattung für die Zeit vom 1. Juli 1964 an verurteilt habe, sei das Urteil aufzuheben gewesen; denn kassenärztliche Anordnungen lägen nur für das letzte Vierteljahr 1963 und die beiden ersten Vierteljahre 1964 vor.

Gegen dieses Urteil hat die beklagte EK die zugelassene Revision eingelegt mit dem Antrag,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Zur Begründung macht sie geltend: Die Behandlung durch einen Heilpraktiker sei keine ärztliche Behandlung und begründe somit auch keinen Anspruch auf Kassenleistungen. Es liege keine ärztliche Behandlung vor, wenn der Arzt die Tätigkeit einer Hilfsperson zwar anordne, zu einer Überwachung aber überhaupt nicht gewillt sei. Auf den Grundsatz von Treu und Glauben könne sich die Klägerin nicht berufen; denn die Kasse habe sie vom ersten Antrag auf Kostenübernahme an nicht darüber im unklaren gelassen, daß eine Kostenerstattung hinsichtlich einer Behandlung durch L. nicht vorgenommen werden könne.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) für zutreffend.

II

Die Revision der beklagten EK ist begründet.

Nach § 182 Abs. 1 RVO haben die Versicherten Anspruch darauf, daß ihnen die Krankenkasse im Krankheitsfalle Krankenpflege gewährt; diese "umfaßt ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei sowie Brillen, Bruchbändern und anderen kleineren Heilmitteln". Den Begriff der ärztlichen Behandlung im Sinne des Versicherungsrechts erläutert § 122 Abs. 1 RVO. Danach wird die ärztliche Behandlung durch approbierte Ärzte (bei Zahnkrankheiten auch durch approbierte Zahnärzte) gewährt, die - worauf hier nicht näher einzugehen ist - außerdem zur Kassenpraxis zugelassen sein müssen (§§ 368 a Abs. 4, 368 d Abs. 1 RVO). Das bedeutet allerdings nicht, daß auf dem Gebiet der gesetzlichen Krankenversicherung die gesamte Krankenbehandlung, d. h. jede auf Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden gerichtete Maßnahme (vgl. § 1 Abs. 2 des Heilpraktikergesetzes vom 17. Februar 1939, RGBl I 251), nur von einem approbierten Arzt persönlich ausgeführt werden darf. Der Arzt kann sich vielmehr, wie § 122 Abs. 1 Satz 2 RVO zeigt, auch der Hilfe anderer Personen, "wie Bader, Hebammen, Heildiener, Heilgehilfen, Krankenwärter, Masseure und dgl." bedienen, sofern er - abgesehen von dringenden Fällen, in denen ein approbierter Arzt nicht rechtzeitig hinzugezogen werden kann - die Behandlungsmaßnahme selbst "anordnet" (vgl. auch § 368 Abs. 2 RVO, wonach zur ärztlichen Behandlung "die Anordnung der Hilfeleistung anderer Personen, die Verordnung von Arznei und Heilmitteln ..." gehören). Daß die "anordnende" Tätigkeit des Arztes sich dabei nicht auf eine bloße "Verordnung" der Drittleistungen (wie bei Heilmitteln) beschränken darf, sondern wegen der mit jeder Krankenbehandlung verbundenen Risiken je nach Lage des Falles eine mehr oder weniger intensive persönliche Anleitung oder Beaufsichtigung der Hilfsperson einschließt, ist in der Rechtsprechung wiederholt betont worden (vgl. BSG in SozR Nr. 1 zu § 122 RVO mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts). Nur wenn der Arzt in dieser Weise verantwortlich mitwirkt, gehört die Hilfeleistung des Dritten noch zur ärztlichen Behandlung "nach den Regeln der ärztlichen Kunst", auf die der Versicherte Anspruch hat (§ 368 e RVO). Außerhalb des Bereichs der ärztlichen Behandlung liegt deshalb jede Behandlungstätigkeit eines Dritten, die nicht durch einen approbierten Arzt in der genannten Weise geleitet oder überwacht, sondern "eigenverantwortlich" ausgeübt wird. Mit der Gewährung einer solchen "selbständigen" Hilfe durch Dritte erfüllt die Krankenkasse deshalb grundsätzlich nicht ihre aus § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO folgende Verpflichtung zur Gewährung von Krankenpflege in Gestalt ärztlicher Behandlung (vgl. aber die Ausnahmeregelungen in §§ 122 Abs. 2 und 123 RVO). Andererseits kann auch der Versicherte solche Hilfe in der Regel nicht zu Lasten der Krankenkasse in Anspruch nehmen. Das gleiche gilt für die versicherungspflichtigen Mitglieder der Ersatzkassen (§ 507 RVO).

Im vorliegenden Fall ist die Klägerin, ein Mitglied der beklagten Ersatzkasse, zwar wiederholt von Kassenärzten - anscheinend auf ihr Verlangen - an den Chiropraktiker L. "überwiesen" worden. Irgendeine Verantwortung für dessen Tätigkeit, geschweige eine Leitung oder nachträgliche Kontrolle seiner Behandlung haben die "überweisenden" Kassenärzte dabei jedoch erkennbar nicht übernommen, Ärztliche Behandlung als Versicherungsleistung i. S. der §§ 122, 182 RVO hat die Klägerin deshalb bei L. nicht erfahren. Da in der Überweisung an ihn nach Art der von ihm erbrachten Leistungen auch keine Verordnung eines Heilmittels zu sehen ist, steht der Klägerin ein Anspruch auf Erstattung der Behandlungskosten gegen die Beklagte nicht zu (vgl. DOK 1967, 148).

Auch der Umstand, daß die Klägerin von Kassenärzten an L. "überwiesen" worden ist, vermag ihren Klaganspruch nicht zu begründen. Dabei kann dahinstehen, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Krankenkasse im Verhältnis zu ihren Mitgliedern die Anordnungen und Verordnungen der Kassenärzte auch dann gegen sich gelten lassen muß, wenn diese nicht den darüber bestehenden Bestimmungen entsprechen, wenn insbesondere die Hilfe eines - nicht zu den ärztlichen Hilfspersonen i. S. des § 122 RVO gehörenden - Dritten angeordnet wird (vgl. dazu RVA in AN 1930, IV 163). Ein Vertrauensschutz der Klägerin kommt hier schon deswegen nicht in Betracht, weil sie durch den - vor Inanspruchnahme der streitigen Leistungen ergangenen - Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 15. August 1963 darüber aufgeklärt worden ist, daß die Leistungen des L. nicht zu den von der Beklagten zu gewährenden Versicherungsleistungen gehören.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2324407

BSGE, 27

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