Entscheidungsstichwort (Thema)

Altersruhegeld. Falschauskunft. Verjährung. rückwirkende Leistungsgewährung. Ermessen. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch

 

Leitsatz (amtlich)

1. Aus § 44 Abs 4 SGB 10 ist kein allgemeiner Rechtsgrundsatz abzuleiten, daß auch im Falle der Verjährung (§ 45 SGB 1) keine rückwirkende Gewährung von Leistungen für über vier Jahre zurückliegende Zeiträume möglich ist (Abgrenzung zu BSG vom 9.9.1986 - 11a RA 28/85 = BSGE 60, 245 = SozR 1300 § 44 Nr 24 und BSG vom 21.1.1987 - 1 RA 27/86 = SozR 1300 § 44 Nr 25).

2. Unzureichende Beratung des Leistungsberechtigten durch die zuständige oder eine andere Behörde ist im Rahmen der Prüfung, ob die Erhebung der Verjährungseinrede nach Treu und Glauben unzulässig ist sowie bei der nach § 45 Abs 1 SGB 1 erforderlichen Ermessensabwägung zu berücksichtigen; für einen Herstellungsanspruch ist in diesem Fall kein Raum.

 

Normenkette

SGB I § 45 Abs. 1, § 14; SGB X § 44 Abs. 4; BGB § 242; RVO § 1248 Abs. 5

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 30.05.1995; Aktenzeichen L 6 Ar 444/93)

SG München (Entscheidung vom 18.02.1993; Aktenzeichen S 8 Ar 838/92)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über den Beginn des Altersruhegeldes (ARG) wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Hierbei geht es vor allem um die Frage, ob das ARG auch für Zeiten zu zahlen ist, die länger als vier Jahre vor dem Jahr der Antragstellung liegen.

Der Kläger ist am 16. Februar 1912 geboren. Er vollendete das 65. Lebensjahr im Februar 1977. Einen Antrag auf ARG hat er jedoch erst am 24. Juli 1991 gestellt.

Mit Bescheid vom 12. Dezember 1991 bewilligte die Beklagte ARG wegen Vollendung des 65. Lebensjahres ab dem 1. Januar 1987. Sie stellte hierbei den Eintritt des Versicherungsfalls am 15. Februar 1977 fest, führte jedoch aus, die Rente werde erst ab 1. Januar 1987 gezahlt, weil für die Zeit davor der Leistungsanspruch verjährt sei. Der Rentenberechnung legte die Beklagte 210 Monate berücksichtigungsfähige Versicherungszeiten (= 263 Wochen Pflichtbeiträge, 319 Wochen Ersatzzeit - militärischer Dienst, nochmals 71 Monate Pflichtbeiträge und 18 Wochen freiwillige Beiträge) zugrunde. Für die Zeit vom 1. Januar 1987 bis 31. Januar 1992 stellte sie einen Nachzahlungsbetrag von 36.339,78 DM fest und begann ab 1. Februar 1992 mit der laufenden Zahlung in Höhe von 649,98 DM monatlich.

Gegen diesen Rentenbescheid erhob der Kläger Widerspruch und trug hierin ua vor, er sei 1980 als 68jähriger bei der für die Entgegennahme von Rentenanträgen zuständigen Gemeinde S. gewesen und habe sich dort bezüglich einer Rentenantragstellung erkundigt. Ihm sei dort erklärt worden, er habe keinen Rentenanspruch, weil er keine 15 Jahre Versicherungszeit vorweisen könne. Von der Angestellten der Gemeinde, Frau H., seien ihm lediglich die Beratungstage der Beklagten in der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) Rosenheim aufgeschrieben worden. Aus dieser Verhaltensweise der Gemeinde erwachse ihm ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch, aufgrund dessen er so zu stellen sei, als habe er 1980 bereits den Rentenantrag gestellt. Der Grundsatz von Treu und Glauben verwehre der Beklagten eine Berufung auf die Verjährung des Rentenanspruchs.

Mit Widerspruchsbescheid vom 22. Juli 1992 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Es verbleibe beim 1. Januar 1987 als Rentenbeginn. Die Berufung auf die Verjährung verstoße nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. Außerdem gelte auch im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs die Ausschlußfrist nach § 44 Abs 4 des Sozialgesetzbuches - Zehntes Buch (SGB X), wonach eine Rente längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Antragstellung gezahlt werden könne.

In seiner hiergegen erhobenen Klage hat der Kläger nochmals die Vorsprache bei der Gemeinde S. geschildert. Zur Unterstützung seines Vorbringens hat er eine Aufstellung der auf ihn ausgestellten Versicherungskarten vorgelegt, auf der auch auf Kriegsdienst und Gefangenschaft hingewiesen wird. Handschriftlich sind dort die Sprechtage der Beklagten bei der AOK Rosenheim für das Jahr 1980 vermerkt. Der Kläger hat angegeben, der handschriftliche Vermerk stamme von der Gemeindebediensteten H. Durch Urteil vom 18. Februar 1993 hat das Sozialgericht München (SG) unter Zulassung der Berufung die Klage abgewiesen.

Mit der hiergegen eingelegten Berufung hat der Kläger neben seinem bisherigen Vorbringen ergänzend vorgetragen, bei ihm habe ein wirtschaftlicher Notstand vorgelegen. Er habe von einer geringen Unfallrente aufgrund eines 1953 erlittenen Arbeitsunfalls und von der Substanz seines landwirtschaftlichen Betriebs gelebt. Dies zeige sich an der Überschuldung des Hofes. Erst nach Verpachtung des Betriebs habe er seit 1987 eine sog Bauernrente erhalten. Des weiteren hat der Kläger vorgetragen, eine Fahrt zu den Sprechtagen in Rosenheim sei ihm nicht zumutbar gewesen, denn er sei seit dem schweren Unfall von 1953 gesundheitlich angeschlagen und hätte auch mit Rücksicht auf seinen Bauernhof keine diesbezügliche Tagesreise unternehmen können.

Nach Beiladung der Gemeinde S. hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 30. Mai 1995 die Berufung als unbegründet zurückgewiesen. Hierzu hat es ausgeführt: Der Kläger habe zwar die Voraussetzung für das ARG wegen Vollendung des 65. Lebensjahres mit Ablauf des 15. Februar 1977 erfüllt (Zurücklegung einer Versicherungszeit von 180 Kalendermonaten sowie Vollendung des 65. Lebensjahres) und hätte deswegen grundsätzlich Anspruch auf ARG seit dem 1. März 1977; dennoch sei die Beklagte erst ab 1. Januar 1987 zur Zahlung verpflichtet gewesen. Für die Zeit davor habe sie sich zu Recht auf Verjährung des Anspruchs nach § 45 Abs 1 des Sozialgesetzbuches - Erstes Buch (SGB I) berufen können. Obwohl eine Verjährungseinrede, die von einer Behörde erhoben werde, in deren Ermessen stehe und die Beklagte vorliegend keine Ermessensgründe für ihre Leistungsverweigerung angeführt habe, liege kein Ermessensfehler vor, denn es sei ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null gegeben. Die Einrede der Verjährung sei grundsätzlich zu erheben; Raum für eine Ermessensausübung bleibe nur, wenn die Erhebung der Verjährungseinrede im Einzelfall zu grober Unbilligkeit oder zu besonderen Härten führen würde. Eine grobe Unbilligkeit sei vorliegend nicht festzustellen. Weder die Unkenntnis des Klägers über den ihm zustehenden Rentenanspruch noch die jedenfalls nicht optimale Beratung durch die Beigeladene begründeten eine grobe Unbilligkeit. Dies gelte selbst dann, wenn man das Verhalten der Beigeladenen als ausgesprochene Falschberatung einstufen wolle; da diese in keinem organisatorischen Zusammenhang mit der Beklagten stehe, sei ihr Verhalten letzterer nicht zuzurechnen. Demgegenüber sei hier zu berücksichtigen, daß die Beklagte keinerlei Verschulden an der verspäteten Antragstellung habe, sondern dem Kläger selbst nachlässiges Verhalten vorzuwerfen sei, denn er hätte sich angesichts der Bedeutung der zu klärenden Frage nicht mit einer einzigen Auskunft zufrieden geben dürfen und zumindest einen der ihm genannten Beratungstermine wahrnehmen müssen. Eine besondere Härte sei nicht zu bejahen, weil durch die Verjährungseinrede kein wirtschaftlicher Notstand ausgelöst, sondern angesichts der erheblichen Nachzahlung die wirtschaftliche Situation des Klägers verbessert worden sei.

Auch unter Berücksichtigung eines möglicherweise bestehenden sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs aufgrund des Verhaltens der Beigeladenen könne der Kläger keine Rentenzahlung vor dem 1. Januar 1987 beanspruchen, denn im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sei die Regelung des § 44 Abs 4 SGB X analog anzuwenden, nach der Leistungen längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rentenantragstellung erbracht werden könnten.

In seiner Revision trägt der Kläger im wesentlichen vor: Die vierjährige Frist nach § 45 SGB I habe erst 1991 zu laufen begonnen, weil er vorher noch keine Kenntnis von seinem Rentenanspruch gehabt habe. Im übrigen verstoße § 45 SGB I gegen Art 14 Abs 1 Grundgesetz (GG) und das darin enthaltene Übermaßverbot, denn es komme hier zu erheblichen Verlusten von auf eigenen Beiträgen basierenden Rentenansprüchen, während es demgegenüber keine durchgreifenden für eine Verjährung sprechenden Gründe gebe. Dies gelte insbesondere deswegen, weil anders als nach dem ab 1. Januar 1992 geltenden Recht sich die Nichtinanspruchnahme der Rente nicht bei der Rentenhöhe steigernd auswirken könne.

Zu Unrecht sei das LSG davon ausgegangen, es sei eine Ermessensreduzierung auf Null hinsichtlich der Einrede der Verjährung gegeben. Gerade die Unkenntnis über einen bestehenden Anspruch solle nach der amtlichen Begründung zu § 45 SGB I die Möglichkeit eröffnen, im Ermessenswege von der Einrede der Verjährung abzusehen. Vorliegend sei die Erhebung der Einrede der Verjährung unbillig gewesen. Die Beigeladene hätte ihm im Rahmen der pflichtgemäßen Beratung die Stellung eines Rentenantrags nahelegen müssen. Ihr Fehlverhalten müsse sich die Beklagte zurechnen lassen, denn die Beigeladene sei hier als Auskunfts- und Beratungsstelle tätig und sogar zur Entgegennahme von Rentenanträgen befugt gewesen, so daß sie arbeitsteilig im Sinne einer Funktionseinheit ins Verwaltungsverfahren eingeschaltet sei. Neben der Pflichtverletzung der Beigeladenen hätte die Beklagte auch ein Fehlverhalten der Berufsgenossenschaft, von der er seit 1953 wegen eines Arbeitsunfalls Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 % beziehe und die deswegen verpflichtet gewesen wäre, ihn auf einen Erwerbsunfähigkeitsrentenanspruch hinzuweisen, in ihre Ermessensabwägung mit einbeziehen müssen. Auch die Berufsgenossenschaft sei hier im Sinne einer Funktionseinheit tätig geworden. Ihm als Rechtsunkundigen könne demgegenüber nicht angelastet werden, daß er keinen Beratungstermin bei der Beklagten wahrgenommen habe, denn er hätte sich auf die Auskünfte einer kompetenten Person verlassen dürfen.

Es liege auch ein besonderer Härtefall vor, der die Verjährungseinrede unbillig mache, weil durch diese Einrede bei ihm ein wirtschaftlicher Notstand ausgelöst worden sei. Der Auffassung des LSG, im Falle einer Rentennachzahlung liege ein wirtschaftlicher Notstand generell nie vor, könne nicht gefolgt werden. Schließlich sei auch seine offensichtliche Erwerbsunfähigkeit zu berücksichtigen.

Als weiteren Ermessensgesichtspunkt hätte die Beklagte nicht außer acht lassen dürfen, daß die gesetzliche Neuregelung ab 1. Januar 1992, wonach eine Rente wegen Zeiten ihrer Nichtinanspruchnahme erhöht werde, auf ihn keine Anwendung habe finden können. Dieser letzte Gesichtspunkt führe sogar zu einer Ermessensreduzierung auf Null zu seinen Gunsten.

Der Kläger rügt desweiteren eine Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und macht hierzu geltend: Das LSG hätte sowohl seinen Beweisanträgen bezüglich des Vorliegens eines wirtschaftlichen Notstands in den Jahren 1977 bis 1987 als auch hinsichtlich der fehlerhaften Beratung durch die Beigeladene nachgehen müssen. Insoweit habe das LSG den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt.

Der Kläger beantragt dem Sinne nach,

die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 30. Mai 1995 und des Sozialgerichts München vom 18. Februar 1993 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 12. Dezember 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juli 1992 zu verurteilen, ihm Altersruhegeld auch für den Zeitraum 1. März 1977 bis 31. Dezember 1986 zu zahlen, hilfsweise diese zu verpflichten, ihn unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Die Beklagte und die Beigeladene stellen den Antrag,

die Revision zurückzuweisen.

Sie beziehen sich im wesentlichen auf das angefochtene Urteil.

Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG.

Ob der Kläger auch für die Zeit vom 1. März 1977 bis 31. Dezember 1986 Anspruch auf ARG hat, kann noch nicht abschließend entschieden werden. Es bedarf weiterer Feststellungen, ob die Erhebung der Verjährungseinrede ausgeschlossen war.

Der geltend gemachte Anspruch auf ARG richtet sich noch nach dem Recht der Reichsversicherungsordnung (RVO), weil der Rentenantrag vor dem 1. April 1992 gestellt wurde und die Leistung vor dem 1. Januar 1992 beginnt (§ 300 Abs 2 des Sozialgesetzbuches - Sechstes Buch - ≪SGB VI≫). Der Rentenanspruch des Klägers ab 1. März 1977 folgt aus § 1248 Abs 5 RVO in der ab 1. Januar 1973 geltenden Fassung (Rentenreformgesetz ≪RRG≫ vom 16. Dezember 1972; BGBl I, 1965).

Am 15. Februar 1977 vollendete der Kläger das 65. Lebensjahr. Der 1. März 1977 als Rentenbeginn ergibt sich aus § 1290 Abs 1 Satz 1 RVO in der ab 1. Januar 1968 geltenden Fassung (Art 1 § 1 Nr 25 Buchst b des Finanzierungsänderungsgesetzes 1967 vom 21. Dezember 1967, BGBl I, 1259). Die erforderliche Wartezeit von 180 Kalendermonaten (§ 1248 Abs 5 iVm Abs 7 Satz 2 RVO in der angegebenen Fassung; auf 60 Kalendermonate herabgesetzt erst mit Wirkung vom 31. Dezember 1983 durch Art 1 Nr 34, Art 39 Nr 7 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983, BGBl I, 1532) hatte der Kläger bereits vor dem 1. März 1977 erfüllt.

Da der Kläger seinen Rentenantrag erst am 24. Juli 1991 gestellt hat, waren die Ansprüche auf ARG für die Zeit bis zum 31. Dezember 1986 verjährt (§ 45 Abs 1 SGB I). Anhaltspunkte für eine Unterbrechung oder Hemmung der Verjährung (gemäß § 45 Abs 2 SGB I iVm den §§ 202ff des Bürgerlichen Gesetzbuches ≪BGB≫ und § 45 Abs 3 SGB I) in der Zeit vor der Antragstellung (Juli 1991) sind nicht ersichtlich.

Gemäß § 45 Abs 1 SGB I verjähren Ansprüche auf Sozialleistungen in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden sind. Dabei verjährt nicht das Stammrecht, sondern der einzelne auf eine zurückliegende Zeit entfallende Leistungsanspruch (vgl BSGE 34, 1, 11 = SozR Nr 4 zu § 29 RVO und SozR Nr 2 zu § 40 SGG), der mit der Erfüllung aller Voraussetzungen des Rentenanspruches entsteht (BSGE 34, 1, 15). Entgegen der Auffassung des Klägers kommt es für den Beginn der Verjährung damit nicht darauf an, wann er von dem Rentenanspruch erfahren hat. Auch beginnt die Verjährung nicht erst ab Antragstellung zu laufen; denn der Antrag stellt beim Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres keine Anspruchsvoraussetzung dar (vgl § 1248 Abs 5 RVO sowie Lilge in Bley ua, Gesamtkommentar Sozialversicherung, Anm 6 zu § 1248 RVO; vgl auch Casselmann in Koch/Hartmann ua, Die Rentenversicherung im SGB, Rz 7 zu § 45 SGB I; Jahn, SGB für die Praxis, Rz 6 zu § 45 SGB I sowie Bochumer Kommentar zum SGB-Allgemeiner Teil, Rz 5 zu § 45 SGB I).

Die Verjährungsregelung wird nicht durch die Ausschlußfrist des § 44 Abs 4 SGB X verdrängt; denn diese Vorschrift ist vorliegend nicht anwendbar. Eine direkte Anwendung kommt nicht in Betracht, weil es für die Zeit vor dem 1. Januar 1987 keinen die Leistung rechtswidrig ablehnenden Bescheid gibt, der iS des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X zurückzunehmen wäre. Eine entsprechende Anwendung, die das BSG im Falle der aufgrund sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zugelassenen Beitragsnachentrichtung angenommen hat (vgl BSGE 60, 245, 246f = SozR 1300 § 44 Nr 24; BSG SozR 1300 § 44 Nr 25 sowie BSG Urteil vom 9. September 1986 - 11a RA 10/86 -), ist hier ebenfalls ausgeschlossen. Das Gesetz enthält zwei verschiedene Regelungen zur Begrenzung der rückwirkenden Leistungserbringung, die sich auf unterschiedliche Bereiche beziehen und unterschiedliche Auswirkungen haben. Eine Ausschlußfrist ist vorgesehen, wo bereits ein Bescheid vorliegt, der rückwirkend zu korrigieren ist (vgl § 44 Abs 4 und § 48 Abs 4 SGB X). Ursprünglich war eine Ausschlußfrist sogar nur in § 44 Abs 4 SGB X vorgesehen für die Fälle also, in denen ein Bescheid von Anfang an falsch war und an sich hätte angefochten werden können. Erst durch Gesetz vom 13. Juni 1994 (BGBl I, 1229; in Kraft ab 18. August 1994) wurde die Beschränkung auf Fälle, in denen dem Fehler durch Anfechtung hätte begegnet werden können, beseitigt und auch die Fälle einbezogen, in denen spätere Änderungen eingetreten sind. Es kann hier dahinstehen, wodurch auch in diesen Fällen eine Ausschlußfrist zu rechtfertigen wäre. Jedenfalls ist auch insoweit eine klare Begrenzung auf die Fälle des § 48 SGB X erfolgt. Die Anwendung des § 45 Abs 1 SGB I über die Verjährung ist in diesem Bereich ausgeschlossen (BSG SozR 1300 § 44 Nr 15 S 26). Wo jedoch die §§ 44 Abs 4 und 48 Abs 4 SGB X tatbestandsmäßig nicht hinreichen, gilt nach wie vor § 45 SGB I, der die Verjährung regelt. Insoweit gibt es keine gesetzliche Ausschlußfrist; die Verjährung tritt nur ein, wenn eine entsprechende Einrede erhoben wird. Dies liegt im Ermessen des Sozialleistungsträgers.

Hieran ändert sich auch nichts, wenn die verzögerte Geltendmachung eines Leistungsanspruchs auf ein Verhalten der Behörde (zB unrichtige Beratung) zurückgeht, das an einen Herstellungsanspruch denken läßt; denn für dieses Rechtsinstitut ist kein Raum, wenn einer rückwirkenden Leistungserbringung nicht die verspätete Antragstellung (als materielle Anspruchsvoraussetzung), sondern allein die Verjährung entgegensteht. Etwaige Behördenfehler sind bei der Zulässigkeit der Verjährungseinrede unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben und im übrigen im Rahmen der Ermessenausübung zu berücksichtigen. Dies gilt uU auch im Hinblick auf das Fehlverhalten einer Behörde, die nicht unmittelbar zu dem zuständigen Leistungsträger gehört. Die frühere gegenteilige Auffassung (vgl zB BSGE 40, 279, 281) ist durch die spätere Rechtsprechung zum Herstellungsanspruch überholt. Nachdem anerkannt ist, daß der Rentenversicherungsträger im Rahmen des Herstellungsanspruchs auch Fehlern einer anderen Behörde Rechnung tragen muß, ua wenn diese in das Verfahren eingeschaltet ist (ua BSGE 51, 89; BSGE 57, 288), können solche Fehler auch bei der Beurteilung, ob die Einrede der Verjährung zu erheben ist, nicht unbeachtet bleiben; denn die dabei vorzunehmende Ermessensabwägung erfüllt - sofern nicht ohnehin eine unzulässige Rechtsausübung vorliegt - zugleich die Ausgleichsfunktion, die auch dem Herstellungsanspruch zugrunde liegt.

Es gibt auch keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz, daß Leistungen für die Vergangenheit im Sinne einer Ausschlußfrist generell auf die nicht von der Verjährung erfaßten vier Jahre vor dem Jahr der Geltendmachung beschränkt sind. Allerdings könnte dies aus einigen Formulierungen der BSG-Rechtsprechung zum Herstellungsanspruch entnommen werden (vgl BSGE 60, 245, 247 = SozR 1300 § 44 Nr 24; BSG SozR 1300 § 44 Nr 25 S 67). Hierzu ist jedoch darauf hinzuweisen, daß diese Urteile ausdrücklich die Verjährung nach § 45 SGB I neben der Ausschlußfrist des § 44 Abs 4 SGB X erwähnen. Dies spricht dafür, daß mit dieser Formulierung der Wirkungsbereich des § 45 SGB I nicht weiter eingeschränkt werden sollte, als sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt (so auch BSGE 74, 267, 269 = SozR 3-1200 § 45 Nr 4 S 11f; BSG SozR 2200 § 1254 Nr 7; BSG SozR 2200 § 182 Nr 113 S 254).

Die Rechtmäßigkeit der Leistungsbeschränkung auf die Zeit ab 1. Januar 1987 hängt mithin davon ab, ob die Beklagte nach § 45 SGB I berechtigt war, die Einrede der Verjährung zu erheben.

Die Verjährungseinrede ist im vorliegenden Fall nicht von vornherein wegen unzulässiger Rechtsausübung (Verstoß gegen Treu und Glauben) ausgeschlossen (vgl zur Unzulässigkeit der Verjährungseinrede BSG SozR 3100 § 81b Nr 6; BSGE 62, 10, 11 und 16 = SozR 2200 § 1254 Nr 7; BSG SozR 2200 § 182 Nr 113; BSGE 62, 96, 98 = SozR 2200 § 14 Nr 26; BSGE 69, 158, 165 = SozR 3-1300 § 113 Nr 1). Ein solcher Ausschluß könnte sich auf eine Pflichtverletzung nur dann stützen, wenn diese sich aus dem Verhalten der Beklagten selbst ergibt und nicht aus dem Verhalten Dritter (BSGE 40, 279, 281 = SozR 2200 § 29 Nr 4; vgl auch BSGE 62, 96, 98 = SozR 2200 § 14 Nr 26 sowie BSGE 62, 10, 16 = SozR 2200 § 1254 Nr 7). Es müßte sich außerdem um eine besonders krasse Pflichtverletzung handeln (BSGE 62, 10, 16f = SozR 2200 § 1254 Nr 7; BSGE 62, 96, 98 = SozR 2200 § 14 Nr 26; BSGE 42, 219, 222f = SozR 2200 § 29 Nr 6). Eine Pflichtverletzung der Beklagten selbst, die zur Verzögerung der Antragstellung des Klägers geführt haben könnte, ist aber nicht ersichtlich.

Inwieweit auch die Auslösung eines wirtschaftlichen Notstandes die Erhebung der Einrede ausschließen könnte, kann hier dahinstehen, da ein solcher Tatbestand nicht festgestellt ist. Zwar mag die Nichtgewährung der Rente zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Klägers beigetragen haben; eine Notlage wird jedoch durch die Verweigerung eines Teils der Nachzahlung nicht ausgelöst, denn der Kläger erhält immerhin einen größeren Nachzahlungsbetrag und nunmehr monatlich laufend die ihm zustehende Rente. Daß der Kläger diese Beträge nicht erhielte, weil sie sofort in andere Hände flössen (zB durch Übergang auf andere Sozialleistungsträger oder Pfändung), und er nur bei Bewilligung einer weitergehenden Nachzahlung vor einer Notlage bewahrt würde, ist weder vorgetragen noch festgestellt worden. Allein der Umstand, daß der Kläger sich in der Vergangenheit hat stärker verschulden müssen, weil er kein ARG bezog, und deshalb jetzt höhere Zinsen zu tragen hat, begründet noch keine Notlage.

Die demnach grundsätzlich zulässige Erhebung der Verjährungseinrede durch die Beklagte setzt regelmäßig die Ausübung von Ermessen voraus (ständige Rechtsprechung, BSG SozR 3-1200 § 45 Nr 2 mwN). Die Gründe hierfür sind in dem Bescheid, mit dem die Leistungen für zurückliegende Zeit versagt werden, zu nennen (vgl § 35 Abs 2 SGB X; dazu BSG aaO S 7).

Der Kläger macht allerdings geltend, daß im vorliegenden Fall das Ermessen der Beklagten zu seinen Gunsten auf Null reduziert war. Ein solcher Fall kann eintreten, wenn die Gesamtheit der Umstände das Absehen von der Verjährungseinrede gebietet. Diese Prüfung ist auch dann erforderlich, wenn kein Fall der unzulässigen Rechtsausübung iS des BGB vorliegt. Allerdings ist in der Rechtsprechung des BSG die Unzulässigkeit der Einrede gelegentlich nur unter dem Gesichtspunkt des Verstoßes gegen Treu und Glauben geprüft worden (vgl zB BSG SozR 2200 § 182 Nr 113 S 247). Insgesamt hat das BSG aber eine solche Einengung nicht vorgenommen und die Ermessensreduzierung auf Null nach Feststellung der Zulässigkeit der Einrede unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben gesondert behandelt (vgl BSG SozR 2200 § 29 Nr 10; SozR 3-1200 § 45 Nr 2).

Die Frage, ob die Beklagte von der Verjährungseinrede hätte gänzlich absehen müssen, kann indes aufgrund der bisherigen Feststellungen des LSG nicht abschließend entschieden werden. Zwar kann sich der Kläger auch insoweit nicht auf eine Notlage berufen. Ebensowenig führt der Umstand, daß der spätere Rentenbeginn zu keinem Vorteil bei der Rentenberechnung führt, wie dies heute in § 77 Abs 2 Ziff 2 SGB VI geregelt ist, zu einer Ermessensreduzierung auf Null; denn erstens traf das bei allen Fällen zu, auf die das Recht der RVO anzuwenden war, und zweitens wird der Kläger dadurch nicht so schwer beeinträchtigt, daß im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens auch unter Berücksichtigung der sonstigen Umstände nur die vollständige rückwirkende Bewilligung der Rente möglich erscheinen würde.

Eine Ermessensreduzierung auf Null könnte sich aber aus dem Inhalt des Beratungsgesprächs ergeben, von dem bisher keine Einzelheiten bekannt und festgestellt sind; auch der Kläger gibt letztlich nur das Ergebnis wieder und nicht den genauen Verlauf. Hier könnte sich ergeben, daß die Gemeindebedienstete H. nicht nur fahrlässig die vorgelegte Aufstellung überflogen und unrichtig interpretiert hat, sondern dem Kläger im einzelnen erklärt hat, daß und wieso keine Rentenansprüche bestünden. Bei einer so deutlichen und eindringlichen Fehlinformation, die - wie oben dargelegt wurde - von der Beklagten im Rahmen ihres Ermessens zu berücksichtigen wäre, wären im Rahmen der bisherigen Feststellungen keine Umstände ersichtlich, die eine Verweigerung der Leistung für die zurückliegende Zeit ganz oder teilweise rechtfertigen könnten. Vor allem könnte dem Kläger kein Mitverschulden angelastet werden, wenn er sich auf eine detaillierte Auskunft der für die Entgegennahme von Anträgen zuständigen Behörde verlassen hat. Insoweit muß die Sache deshalb zur Nachholung der erforderlichen Feststellungen an das LSG zurückverwiesen werden.

Die Zurückverweisung ist auch nicht deshalb entbehrlich, weil umgekehrt das Ermessen der Beklagten zu Lasten des Klägers auf Null reduziert wäre. Der erkennende Senat kann dem LSG auf der Grundlage der bisherigen berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht dahin folgen, daß ein solcher Fall vorliegt. Das LSG kommt zu diesem Ergebnis nur deshalb, weil es annimmt, daß die unzureichende oder fehlerhafte Beratung durch die Gemeindebedienstete H. im Rahmen des Ermessens nicht zu berücksichtigen sei, sondern lediglich im Rahmen eines Herstellungsanspruchs. Dabei wird indes verkannt, daß - wie dargelegt - dort, wo es um Verjährung geht, für den Herstellungsanspruch kein Raum ist und die Umstände, die anderenfalls einen Herstellungsanspruch begründen könnten, bei der Prüfung, ob unzulässige Rechtsausübung vorliegt, und im übrigen im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen sind. Geht man von dieser rechtlichen Grundlage aus, so kommt eine Ermessensreduzierung auf Null zu Lasten des Klägers allein schon wegen der vom LSG festgestellten erheblichen Fehlberatung nicht in Betracht.

Sollte sich ergeben, daß die Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung auf Null zugunsten des Klägers nicht vorlagen, hat das LSG noch über den Hilfsantrag des Klägers zu entscheiden.

Dem LSG ist insoweit nicht zu folgen, wenn es annimmt, Ermessen sei nur auszuüben, sofern eine grobe Unbilligkeit vorläge oder die Einrede zu besonderen Härten führen würde. Das LSG interpretiert hier die Rechtsprechung des BSG unrichtig. Das BSG hat zwar in mehreren Entscheidungen die Tatbestände "grobe Unbilligkeit" und "besondere Härte" erwähnt, dazu aber gerade im Gegenteil entschieden, daß der Versicherungsträger in diesen Fällen von der Erhebung der Einrede abzusehen hat, das Ermessen also zu Gunsten des Versicherten auf Null reduziert ist (vgl BSGE 40, 279 = SozR 2200 § 29 Nr 4; BSG SozR 2200 § 29 Nr 10). Grobe Unbilligkeit und besondere Härte markieren mithin gerade eine Grenze des Ermessensspielraums; daraus folgt, daß innerhalb dieser Grenze Ermessen auszuüben ist (so ua schon Beschluß des Großen Senats des BSG, BSGE 34, 1, 14), das dann auch begründet werden muß und der Kontrolle der Gerichte unterliegt.

Richtig ist lediglich, daß der Versicherungsträger im Rahmen seines Ermessens regelmäßig - dh wenn keine besonderen Umstände vorliegen - gehalten ist, die Verjährungseinrede zu erheben. In den Materialien zu § 45 SGB I ist ausgeführt, die Verjährung lehne sich an zivilrechtliche Regelungen an. Es sei davon auszugehen, daß im Interesse des Rechtsfriedens und der Überschaubarkeit der öffentlichen Haushalte Ansprüche auf Sozialleistungen innerhalb einer angemessenen Frist geltend gemacht werden müßten. In der Regel werde der mit der Leistung verfolgte sozialpolitische Zweck später nicht mehr erreicht. Nach Ablauf der Verjährungsfrist könne der Sozialversicherungsträger die Leistung verweigern, aber auch den Anspruch noch erfüllen, wenn er in pflichtgemäßer Ausübung seines Ermessens davon absehe, sich auf den Zeitablauf zu berufen. Das könne zB dann der Fall sein, wenn der Leistungsberechtigte glaubhaft mache, daß er vom Vorliegen der Voraussetzung des Anspruchs keine Kenntnis gehabt habe (vgl BT-Drucks-7/868, Begründung, S 30 zu § 45 SGB I). Zugleich kommt aber gerade in dieser Gesetzesbegründung zum Ausdruck, daß der Versicherungsträger jeweils prüfen muß, ob Gründe dafür sprechen, ganz oder für einen Teil des Zeitraums von der Verjährungseinrede abzusehen. Es handelt sich erkennbar nicht um eine Sollvorschrift, die nur in atypischen Fällen eine Ermessenausübung verlangt.

Aus der Gesetzesbegründung folgt ferner, daß auch eine Unkenntnis des Betroffenen sowie die Gründe, die dazu geführt haben, zu berücksichtigen sind (BSG SozR 3-2200 § 45 Nr 2; BSG SozR 2200 § 29 Nr 12 S 32). Dabei kann nicht ohne weiteres auf die Rechtsprechung zum Zivilrecht zurückgegriffen werden, weil das Verhältnis zwischen dem Versicherungsträger und dem Versicherten ein anderes ist als zwischen Zivilpersonen. Dem Versicherungsträger ist es nicht gestattet, Ansprüche allein unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten durchzusetzen (so sehr deutlich BSG SozR 2100 § 76 Nr 2 zur Durchsetzung übergegangener Schadensersatzforderungen). Allgemein läßt sich nur soviel sagen, daß der Versicherungsträger allein im Hinblick auf eine damalige Unkenntnis des Versicherten von den ihm zustehenden Ansprüchen regelmäßig nicht verpflichtet ist, auf die Einrede der Verjährung zu verzichten (vgl BSGE 34, 1, 13; 47, 131, 133; 58, 154, 159).

Das LSG wird deshalb im einzelnen prüfen müssen, ob der Beklagten bei der Ermessensausübung formelle oder materielle Fehler unterlaufen sind.

Hierzu ist darauf hinzuweisen, daß eine Ermessensausübung bei Erhebung der Einrede der Verjährung weder im Rentenbescheid vom 12. Dezember 1991 noch in dem nachfolgenden Widerspruchsbescheid vom 22. Juli 1992 zum Ausdruck gekommen ist; erst recht fehlt eine iS von § 35 Abs 1 Satz 3 SGB X ausreichende Begründung. Bereits dies rechtfertigt die Aufhebung des Bescheides, soweit die Rente für die Zeit vor dem 1. Januar 1987 versagt worden ist (BSGE 61, 226, 229; BSG SozR 3-1200 § 45 Nr 2 S 7).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 177

MDR 1997, 661

Breith. 1997, 436

SozSi 1997, 239

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