Leitsatz (amtlich)

1. Zum Umfang der Bindungswirkung von Bewilligungsbescheiden.

2. Es ist nicht Sinn des Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB 10, dem Antragsteller mehr zu gewähren, als ihm nach materiellem Recht zusteht.

 

Orientierungssatz

Umfang der Überprüfung nach § 44 SGB 10:

1. § 44 Abs 1 S 1 SGB 10 knüpft die Pflicht zur Rücknahme an die Voraussetzung, daß der Verwaltungsakt, der zur Überprüfung gestellt und dessen Rücknahme begehrt wird, je nach dem Umfang des Rücknahmebegehrens ganz oder teilweise objektiv rechtswidrig sein und dem Betroffenen hierdurch ein rechtlicher Nachteil in Form des unrechtmäßigen Vorenthaltens einer Sozialleistung entstanden sein muß. Außerdem ist erforderlich, wie sich aus der Formulierung des Gesetzes "und soweit deshalb" ergibt, daß ein Kausalzusammenhang zwischen der Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Verwaltungsaktes und dem Nichterbringen der an sich zustehenden Sozialleistung besteht. Das läßt sich nur anhand der materiellen Rechtslage beurteilen, so daß § 44 Abs 1 S 1 SGB 10 dahin zu verstehen ist, daß die vorenthaltenen Sozialleistungen materiell zu Unrecht nicht erbracht worden sind.

2. Sinn und Zweck des § 44 SGB 10 besteht darin, dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns Geltung zu verschaffen und der Verwaltungsbehörde zur Herstellung materieller Gerechtigkeit die Möglichkeit zu eröffnen, Fehler, die im Zusammenhang mit dem Erlaß eines Verwaltungsaktes unterlaufen sind, zu berichtigen. Hierbei soll nach dem Willen des Gesetzgebers deren Aufhebung nur dann in Betracht kommen, soweit sich bei der erneuten Überprüfung der Sach- und Rechtslage ergibt, daß die Behörde zu Ungunsten des Antragstellers falsch gehandelt hat. Ansonsten soll der Verwaltungsakt bestehen bleiben.

 

Normenkette

SGG § 77; SGB 10 § 44 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 06.10.1987; Aktenzeichen L 7 Ar 286/86)

SG Osnabrück (Entscheidung vom 12.08.1986; Aktenzeichen S 6 Ar 243/85)

 

Tatbestand

Im Revisionsverfahren ist noch streitig, ob der Kläger im Wege eines Zugunstenbescheids höhere Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom 1. bis 26. Juli 1985 begehren kann.

Der 1947 geborene Kläger, der geschieden ist und drei Kinder hat, war bis Mai 1983 Bundesbahnbeamter. Er wurde aufgrund eines Urteils des Bundesdisziplinargerichts aus dem Dienst entfernt und erhielt zunächst bis 31. Mai 1983 die vollen Dienstbezüge eines Obertriebwagenführers und danach monatlich einen laufenden Unterhaltsbeitrag in Höhe von 1.530,91 DM.

Am 1. Juni 1983 beantragte er Alhi, die ihm mit Bescheid vom 8. August 1983 unter Zugrundelegung der Leistungsgruppe D nach Ablauf einer Sperrzeit ab 27. Juli 1983 bewilligt wurde. Mit Bescheid vom 9. Juli 1984 wurde die Leistung für die Zeit vom 27. Juli 1984 bis 26. Juli 1985 weiterbewilligt, wobei wiederum die Leistungsgruppe D zugrunde gelegt wurde. Danach gingen bei der Beklagten die Lohnsteuerkarten 1984 und 1985 des Klägers ein, auf denen jeweils die Steuerklasse II/3 eingetragen war. Daraufhin änderte die Beklagte mit Bescheid vom 23. Juli 1984 ihre Leistungsbewilligung für die Zeit vom 2. Januar bis 26. Juli 1984 ab und bewilligte dem Kläger Alhi unter Zugrundelegung der Leistungsgruppe B. Für die Zeit ab 27. Juli 1984 wurde weiterhin die Alhi unter Zugrundelegung der Leistungsgruppe D gezahlt.

Mit Bescheid vom 8. Juli 1985 hob die Beklagte ihre Entscheidung über die Bewilligung von Alhi vom 9. Juli 1984 mit Wirkung ab 27. Juli 1985 auf, da die Voraussetzungen für die Leistungen nicht vorgelegen hätten bzw weggefallen seien. Das anzurechnende Einkommen (Unterhaltsbeiträge in Höhe von 353,29 DM pro Woche) übersteige den Leistungssatz von 210,60 DM (wöchentliches Arbeitsentgelt 515,-- DM - Leistungsgruppe B/1). Dieser Bescheid wurde ebenso wie die vorherigen Bescheide nicht angefochten.

Mit Schreiben vom 14. Juni 1985, eingegangen bei der Beklagten am 18. Juni 1985, beantragte der Kläger die Korrektur der Alhi-Bewilligungsbescheide der letzten drei Jahre mit der Begründung, daß der ihm zu bewilligenden Alhi die Leistungsgruppe B statt D zugrunde zu legen sei. Die Bewilligungsbescheide der Beklagten seien rechtswidrig, da sie entgegen der Eintragung in den Lohnsteuerkarten nicht von der Lohnsteuerklasse II ausgegangen sei.

Mit Bescheid vom 26. Juni 1985 - abgesandt am 27. Juni 1985 - lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, über ihn sei gemäß § 44 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) im Wege der Ermessensausübung zu entscheiden und hierbei die von Anfang an bestehende Unrechtmäßigkeit der Leistungsgewährung zu berücksichtigen. Widerspruch und Klage hiergegen sind ohne Erfolg geblieben (Widerspruchsbescheid vom 17. Juli 1985; Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 12. August 1986). Das SG hat die Berufung zugelassen.

Auf die Berufung des Klägers hat das LSG das Urteil des SG und die angefochtenen Bescheide abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Abänderung des Bescheides vom 9. Juli 1984 Alhi für die Zeit vom 1. bis 26. Juli 1985 unter Zugrundelegung der Leistungsgruppe B zu bewilligen; im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 6. Oktober 1987).

Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt, das Begehren des Klägers auf teilweise Rücknahme der Bewilligungsbescheide vom 8. August 1983 und vom 9. Juli 1984 sowie auf Zahlung höherer Alhi für die streitigen Zeiträume sei nur insoweit begründet, als es den Zeitraum vom 1. bis 26. Juli 1985 betreffe. In diesem Umfang sei die Beklagte nach § 152 Abs 1 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) iVm § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 verpflichtet, den Bewilligungsbescheid vom 9. Juli 1984 zurückzunehmen und dem Kläger höhere Alhi unter Zugrundelegung der Leistungsgruppe B zu gewähren. Der Anwendbarkeit des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 stehe hier nicht entgegen, daß diese Vorschrift ihrem Wortlaut nach die Rücknahme rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakte regele, während Bewilligungsbescheide grundsätzlich begünstigende Verwaltungsakte iS des § 45 SGB 10 seien. Es genüge, wenn, wie hier, dieser Bescheid teilweise für den Betroffenen nicht begünstigenden Charakter habe und gerade dieser Teil angefochten sei. Der Kläger habe eine Korrektur der Bewilligungsbescheide nur hinsichtlich der fehlerhaft berechneten Höhe erreichen wollen. Im übrigen habe er aber, soweit das Vorliegen der für die Gewährung von Alhi erforderlichen Anspruchsvoraussetzungen bejaht worden sei, an der Bestandskraft der Bewilligungsbescheide festhalten wollen. Daß eine teilweise Rücknahme in diesem Sinne möglich sei, ergebe sich bereits durch die Verwendung des Wortes "soweit" in § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10, das sich sowohl auf die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen als auch auf die Rechtsfolge beziehe. Voraussetzung hierfür sei jedoch die Teilbarkeit des Verwaltungsakts. Diese sei dann zu bejahen, wenn ein Verwaltungsakt mehrere selbständige Regelungen enthalte.

Hier ergebe die Auslegung der Verfügungssätze der Bewilligungsbescheide, daß die Beklagte darin mehrere selbständige Regelungen getroffen habe. Zunächst habe sie das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Alhi an den Kläger und damit das Bestehen seines Anspruchs dem Grunde nach anerkannt. Sodann habe sie die Höhe des ihm zustehenden Alhi-Anspruchs auf den bewilligten Betrag festgelegt und danach stillschweigend die weitere Regelung getroffen, daß ihm ein höherer Alhi-Anspruch nicht zustehe. Die Feststellung und rechtliche Wertung, daß ein Anspruch des Klägers auf Alhi dem Grunde nach bestehe, habe den Charakter eines selbständigen Verfügungssatzes. Dies habe zur Folge, daß der Beklagten im Rahmen des Verfahrens nach §§ 152 Abs 1 AFG, 44 Abs 1 SGB 10 die nochmalige Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen des § 134 AFG verwehrt sei, da sie deren Vorliegen bereits bestandskräftig bejaht habe. Aus diesem Grunde komme es nicht darauf an, daß der Bewilligungsbescheid vom 9. Juli 1984 nicht der materiellen Rechtslage entsprochen habe, weil er mangels Bedürftigkeit des Klägers von Anfang an rechtswidrig gewesen sei. Erheblich sei allein die Frage, ob die Beklagte die Höhe der Alhi richtig berechnet habe. Dies sei zu verneinen, da sie in Verkennung der auf den Lohnsteuerkarten des Klägers für die Jahre 1984 und 1985 eingetragenen Steuerklasse II/3 zu Unrecht die Leistungsgruppe D statt B zugrunde gelegt und daher dessen Alhi zu niedrig bemessen habe. Da die Fehlerhaftigkeit der Berechnung in den Verantwortungsbereich der Beklagten falle, seien die Rücknahmevoraussetzungen nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 erfüllt. Infolgedessen sei die Beklagte nach § 152 Abs 1 AFG zur teilweisen Rücknahme des Bewilligungsbescheides vom 9. Juli 1984 für die Zukunft und dementsprechend für diesen Zeitraum zur Zahlung höherer Alhi unter Zugrundelegung der zutreffenden Leistungsgruppe verpflichtet.

Der Kläger handele auch nicht rechtsmißbräuchlich, wenn er sich darauf berufe, daß seine Anspruchsberechtigung dem Grunde nach rechtsverbindlich festgestellt sei, obwohl ihm nach materiellem Recht ein Anspruch auf Alhi mangels Bedürftigkeit nicht zustehe.

Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 44 Abs 1 SGB 10, des § 152 Abs 1 AFG sowie des § 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) und trägt hierzu vor: Entgegen der Auffassung des LSG könne eine Rechtspflicht der Beklagten zur teilweisen Rücknahme des unanfechtbar gewordenen Bewilligungsbescheides vom 9. Juli 1984 für den noch streitigen Zeitraum nicht aus § 44 Abs 1 SGB 10 iVm § 152 Abs 1 AFG hergeleitet werden. Zwar könne § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 auch dann Anwendung finden, wenn durch Verwaltungsakt den Betroffenen Leistungen nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Höhe bewilligt worden seien. § 44 Abs 1 SGB 10 setze jedoch neben der Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides eine belastende Wirkung für den Adressaten voraus. Daran fehle es hier. Dem Kläger sei durch die Bewilligungsbescheide Alhi gewährt worden, obwohl ihm diese Leistung mangels Bedürftigkeit bereits vom Zeitpunkt der Bewilligung an nicht zugestanden habe. Daher könne der Kläger selbst dann, wenn der Bewilligungsbescheid wegen zu geringer Bemessung der Leistungshöhe als rechtswidrig anzusehen sei, hierdurch nicht nachteilig betroffen sein. Er habe in jedem Fall mehr erhalten, als ihm rechtlich zustehe. Mithin habe der Bewilligungsbescheid für den Kläger ausschließlich begünstigenden Charakter gehabt, so daß es am Erfordernis eines nicht begünstigenden Verwaltungsaktes iS des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 fehle.

Das Begehren des Klägers lasse sich auch nicht auf die Bindungswirkung des Bewilligungsbescheides stützen, selbst wenn darin eine verbindliche Entscheidung über das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde nach getroffen worden sein sollte; denn schutzwürdig sei sein Vertrauen auf den Fortbestand des Bewilligungsbescheides nur insoweit, als ihm die rechtswidrig gewährte Leistung in voller Höhe verbleiben müsse. Die Tatsache, daß dem Leistungsempfänger durch bestandskräftigen Bescheid eine materiell-rechtlich nicht zustehende Leistung gewährt worden sei, könne nicht dazu führen, diesem rückwirkend eine noch höhere Leistung zuzubilligen, als sie ihm aufgrund der Bindungswirkung des Bewilligungsbescheides zustehe. Hierdurch würde ein Vertrauensschutz "contra legem" gewährt und dadurch der Grad des materiellen Unrechts zu Lasten der Solidargemeinschaft noch weiter erhöht. Die Bindungswirkung eines Bewilligungsbescheides müsse dort ihre Grenze finden, wo dies zu Ergebnissen führe, die erkennbar den Zielvorstellungen des Gesetzgebers zuwiderliefen, wie dies hier der Fall sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 6. Oktober 1987 insoweit aufzuheben, als es der Berufung des Klägers stattgegeben hat und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 12. August 1986 in vollem Umfang zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt ergänzend aus: Zwar treffe es zu, daß die Bewilligung zu Unrecht erfolgt sei. Da jedoch die Bindungswirkung des Bewilligungsbescheides auch die Feststellung umfasse, daß der Alhi-Anspruch aufgrund bestimmter Tatsachen dem Grunde nach gegeben sei, müsse auch im Rahmen des Verfahrens nach § 44 SGB 10 davon ausgegangen werden, daß dieser Anspruch zu Recht bestanden habe. Hieraus folge, daß der Kläger aufgrund der Bindungswirkung des ihn begünstigenden Teils des Bewilligungsbescheides vom 9. Juli 1984 Alhi in der gesetzlich vorgeschriebenen Höhe für den hier streitbefangenen Zeitraum beanspruchen und damit eine korrekte Berechnung der ihm zustehenden Leistung verlangen könne.

Der Vorwurf unzulässiger Rechtsausübung sei unbegründet, da der Kläger nur ein Handeln der Beklagten verlange, zu dem diese bereits kraft Gesetzes verpflichtet sei und darüber hinaus die Ursache für die Fehlerhaftigkeit der Bewilligung nicht ihm, sondern der Beklagten anzulasten sei. Fehl gehe auch der Hinweis der Beklagten auf § 48 Abs 3 SGB 10, da hierdurch verhindert werden solle, daß ein Antragsteller eine höhere als die ihm gesetzlich zustehende Leistung erhalte, während hier der Kläger nur die ihm nach den gesetzlichen Vorschriften zustehende Leistung beanspruche, die ihm bisher rechtswidrig vorenthalten worden sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet.

Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 26. Juni 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 1985 nur noch insoweit, als die Beklagte es darin auch abgelehnt hat, den Bewilligungsbescheid vom 9. Juli 1984 teilweise, nämlich soweit er den Zeitraum vom 1. bis 26. Juli 1985 betrifft, zurückzunehmen und dem Kläger für diesen Zeitraum unter Zugrundelegung der Leistungsgruppe B höhere Alhi zu gewähren. Die Ablehnung ist zu Recht erfolgt. Entgegen der Auffassung des LSG steht dem Kläger keine höhere Alhi zu als die, die ihm durch Bescheid vom 9. Juli 1984 für den hier noch streitigen Zeitraum bewilligt worden ist.

Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 44 SGB 10 vom 18. August 1980 (BGBl I 1469) iVm § 152 Abs 1 AFG idF von Art II § 2 Nr 18 des SGB 10. Hiernach ist ein rechtswidriger, nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen und durch eine neue zutreffende Entscheidung zu ersetzen, soweit sich im Einzelfall ergibt, daß bei seinem Erlaß das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb ua Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Der rechtsverbindliche Bescheid vom 9. Juli 1984, dessen Änderung der Kläger begehrt, ist insoweit ein begünstigender Verwaltungsakt, als dem Kläger darin eine Leistung zuerkannt worden ist. Der Bescheid erweist sich aber auch als nicht begünstigender Verwaltungsakt, soweit die bewilligte Leistung der Höhe nach niedriger ist als die, die dem Kläger zusteht. Soweit der Kläger also begehrt, die nach seiner Auffassung zu niedrig festgestellte Alhi zu erhöhen, verlangt er die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts, durch den - teilweise - Sozialleistungen iS von § 44 Abs 1 SGB 10 zu Unrecht nicht erbracht worden sind (BSGE 55, 87, 88 = SozR 1300 § 44 Nr 4; BVerwG in NVwZ 1985, 655, 656).

§ 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 knüpft die Pflicht zur Rücknahme an die Voraussetzung, daß der Verwaltungsakt, der zur Überprüfung gestellt und dessen Rücknahme begehrt wird, je nach dem Umfang des Rücknahmebegehrens ganz oder teilweise objektiv rechtswidrig sein und dem Betroffenen hierdurch ein rechtlicher Nachteil in Form des unrechtmäßigen Vorenthaltens einer Sozialleistung entstanden sein muß. Zwar sind nach den vom LSG getroffenen Feststellungen die Rücknahmevoraussetzungen hier insoweit erfüllt, als der Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 9. Juli 1984 hinsichtlich der darin ausgewiesenen Leistungshöhe sich als unrichtig erweist. Wie aus den unangegriffenen Feststellungen des LSG folgt und auch unter den Beteiligten nicht streitig ist, hat die Beklagte bei der Berechnung der Leistungshöhe gemäß § 111 Abs 2 AFG in Verkennung der auf der Lohnsteuerkarte des Klägers für das Jahr 1985 eingetragenen Steuerklasse II fälschlicherweise die Leistungsgruppe D statt B zugrunde gelegt und daher die Höhe der Alhi zu niedrig bemessen. Dies allein genügt jedoch nicht, um eine Rechtspflicht der Beklagten zur Rücknahme dieses Bescheides und zur Gewährung von Alhi in der gesetzlich zulässigen Höhe begründen zu können.

Erforderlich ist vielmehr außerdem, wie sich aus der Formulierung des Gesetzes "und soweit deshalb" ergibt, daß ein Kausalzusammenhang zwischen der Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Verwaltungsaktes und dem Nichterbringen der an sich zustehenden Sozialleistung besteht. Das läßt sich nur anhand der materiellen Rechtslage beurteilen, so daß § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 dahin zu verstehen ist, daß die vorenthaltenen Sozialleistungen materiell zu Unrecht nicht erbracht worden sind (vgl Schmeiduch, Mitt LVA Rheinprovinz 1981, 283, 285; Schneider-Danwitz, Gesamtkommentar SGB - Sozialversicherung, Stand Dezember 1985, § 44 Anm 18).

Daß § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 in diesem Sinne verstanden werden muß, ist nicht nur seinem Wortlaut zu entnehmen, sondern ergibt sich auch aus seinem Sinn und Zweck. Dieser besteht darin, dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns Geltung zu verschaffen und der Verwaltungsbehörde zur Herstellung materieller Gerechtigkeit die Möglichkeit zu eröffnen, Fehler, die im Zusammenhang mit dem Erlaß eines Verwaltungsaktes unterlaufen sind, zu berichtigen. Hierbei soll nach dem Willen des Gesetzgebers deren Aufhebung nur dann in Betracht kommen, soweit sich bei der erneuten Überprüfung der Sach- und Rechtslage ergibt, daß die Behörde zu Ungunsten des Antragstellers falsch gehandelt hat. Ansonsten soll der Verwaltungsakt bestehen bleiben. Dies wollte der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß) mit der von ihm vorgenommenen Einfügung des Wortes "soweit" am Anfang von § 42 Abs 1 Satz 1 des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sozialgesetzbuches -Verwaltungsverfahren-, der als § 44 Abs 1 SGB 10 Gesetz geworden ist, ausdrücklich klarstellen (vgl BT-Drucks 8/4022 S 82 zu § 42 RegEntwurf; Hauck/Haines aaO § 44 RdNr 17). Nicht Sinn und Zweck des Zugunstenverfahrens kann es daher sein, dem Antragsteller mehr zu gewähren, als ihm nach materiellem Recht zusteht. Dieser Rechtsgedanke liegt auch der Regelung des § 48 Abs 3 SGB 10 zugrunde, die verhindern soll, daß die zu hohe Leistung, die durch irgendeinen Fehler entstanden ist, durch irgendeine Veränderung zugunsten des Betroffenen immer noch höher wird; dh, materielles Unrecht soll nicht weiter wachsen (vgl BSG 9. Senat Urteile vom 22. Juni 1988 - 9 RV 41/86 und vom 15. September 1988 - 9/4b RV 15/87). Daher können nur bei Verletzung des materiellen Rechts Leistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sein. Deshalb hat die Beklagte im Rahmen eines von ihr durchzuführenden Verfahrens nach § 44 SGB 10 den Streitstoff in vollem Umfang erneut zu prüfen. Dies führt dazu, daß hier über das Vorliegen sämtlicher Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Alhi erneut zu entscheiden ist.

Irrig ist die Auffassung des LSG, einer nochmaligen Prüfung der Anspruchsberechtigung des Klägers stehe die Bindungswirkung des Bewilligungsbescheides entgegen. Die Beklagte habe insoweit bereits eine verbindliche Entscheidung über das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen iS des § 134 AFG und damit über das Bestehen des Alhi-Anspruchs dem Grunde nach getroffen. Die Entscheidung sei bestandskräftig, da der Kläger sich nur gegen die Höhe der bewilligten Alhi gewendet habe. Insoweit verkennt, wie die Beklagte zu Recht geltend macht, das LSG den Umfang der Bindungswirkung. Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat, hat die materielle Bindungswirkung eines Bescheides zur Folge, daß die durch den Verwaltungsakt getroffene Regelung unabhängig von seinen rechtlichen Voraussetzungen und einem ihm anhaftenden Rechtsmangel grundsätzlich Bestand hat und ihrem materiellen Gehalt nach verbindlich ist. Die Bindungswirkung reicht so weit, wie über den Anspruch entschieden ist. Ein Verwaltungsakt, der einen geltend gemachten Anspruch bewilligt, besagt somit, daß der Anspruch aufgrund bestimmter Tatsachen von Rechts wegen begründet ist (BSG SozR 1500 § 77 Nr 20; BSGE 61, 286, 287 = SozR 4100 § 134 Nr 31). Indes bedeutet dies nicht, daß damit zugleich auch die im Bescheid enthaltenen rechtlichen Ausführungen der Verwaltungsbehörde ohne weiteres in Bindungswirkung erwachsen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG erfaßt die Bindungswirkung eines Bescheides grundsätzlich lediglich dessen Verfügungssatz bzw dessen Verfügungssätze, dh die Regelung des Einzelfalles; die Gründe, also die tatsächlichen Annahmen und die rechtlichen Erwägungen, die zu der Regelung geführt haben, entfalten hingegen keine selbständige Bindungswirkung (BSGE 32, 114, 115 = SozR Nr 75 zu § 77 SGG; BSGE 45, 236, 237 = SozR 1500 § 77 Nr 26; BSGE 46, 236, 237 = SozR 1500 § 77 Nr 29; BSGE 61, 286, 287 = SozR 4100 § 134 Nr 31; BSG SozR 1500 § 77 Nr 56; BSG SozR 4100 § 112 Nr 23; BSG SozR 4100 § 136 Nr 4). Dies hat bei der Gewährung von Leistungen grundsätzlich zur Folge, daß nur die Entscheidungen über die Art, die Dauer und die Höhe der Leistung bindend werden. Dagegen nehmen die Berechnungsfaktoren (vgl dazu die Rechtsprechung zur Rentenversicherung BSGE 45, 236, 237 = SozR 1500 § 77 Nr 26; BSG SozR 2200 § 1268 Nr 10) und insbesondere die Ausführungen der Behörde über die Voraussetzungen einer im Bescheid bewilligten Leistung grundsätzlich nicht an der Bindungswirkung teil (BSG SozR Nr 1 zu § 570 RVO; BSGE 41, 113, 115 = SozR 4100 § 41 Nr 22).

Etwas anderes gilt, wenn die Ergebnisse rechtlicher Wertungen, welche die Leistungsgewährung begründen, zusätzlich durch besondere, gesondert anfechtbare Verfügungssätze geregelt worden sind. Derartige feststellende Aussagen können an der Bindungswirkung teilnehmen, wenn sie auch für sich einen bindungsfähigen Verwaltungsakt darstellen könnten (BSGE 46, 236, 237 f = SozR 1500 § 77 Nr 29 mwN; BSG SozR 4100 § 112 Nr 23; SozR 4100 § 136 Nr 4). Dies würde jedoch voraussetzen, daß ein entsprechender Verfügungswille der Beklagten vorhanden wäre und der Kläger als Empfänger der Bescheide einen solchen gesonderten Verfügungssatz bei verständiger Würdigung erkennen könnte und müßte; denn ob eine Aussage in einem Bescheid einen selbständigen Verfügungssatz darstellt, hängt davon ab, ob in dem Bescheid ein entsprechender Regelungswille zum Ausdruck gekommen ist, was ggf nach den Grundsätzen über die Auslegung von Willenserklärungen zu ermitteln ist (BSG SozR Nr 39 zu § 54 SGG; BSGE 17, 124, 126; 49, 258, 261 = SozR 2200 § 1251 Nr 75; Buss, DOK 1979, 225, 227).

Anhaltspunkte für einen derartigen Verfügungswillen der Beklagten sind hier nicht ersichtlich. Der Bewilligungsbescheid vom 9. Juli 1984 trifft, soweit er Aussagen über Art, Dauer, Beginn und Höhe der Leistung enthält, keine gesonderte Verfügung über das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Alhi und damit auch keine Entscheidung über das Bestehen des Anspruchs dem Grunde nach, die einer selbständigen Anfechtung zugänglich wäre. Soweit mit der Bewilligung der Alhi zugleich die Feststellung verbunden ist, daß der Kläger die hierfür erforderlichen Leistungsvoraussetzungen erfüllt hat, ist dies Teil der Begründung und nimmt daher nicht an der Bindungswirkung des Verfügungssatzes teil. Gegenteiliges läßt sich auch nicht daraus herleiten, daß die Bindungswirkung eines Aufhebungsbescheides sich nicht nur auf die formelle Beseitigung des früheren Bewilligungsbescheides erstreckt, sondern auch auf die materielle Aussage, daß die Bewilligung der Leistung zu Unrecht erfolgt ist (vgl BSG SozR 1500 § 77 Nr 20); denn letzteres hat seine Ursache darin, daß die Beklagte eine einmal getroffene Bewilligungsentscheidung nur dann aufheben darf, wenn feststeht, daß der Begünstigte die Leistung zu fordern nicht berechtigt ist.

Das bedeutet, daß es zumindest in Fällen der vorliegenden Art rechtlich nicht möglich ist, einen Bewilligungsbescheid, wie der Kläger meint, in einen bestandskräftig gewordenen "Grundlagenbescheid" (durch den über die Berechtigung des Klägers, Alhi fordern zu können, verbindlich entschieden ist) und in einen gesondert anfechtbaren "Höhenbescheid" aufzuspalten. Insoweit fehlt es an der Teilbarkeit des als einheitliche Entscheidung über den Alhi-Anspruch und dessen Höhe ergehenden Bewilligungsbescheides. Dies hat zur Folge, daß das auf Teilaufhebung des Bewilligungsbescheides gerichtete Begehren des Klägers den Bescheid in seiner Gesamtheit erfaßt, so daß die Beklagte im Rahmen der von ihr zu treffenden Entscheidung über den Antrag des Klägers zur Nachprüfung der angefochtenen Bescheide in vollem Umfange berechtigt und verpflichtet ist.

War daher die Beklagte durch den Bewilligungsbescheid vom 9. Juli 1984 nicht gehindert, das Vorliegen sämtlicher Anspruchsvoraussetzungen, von denen die Rechtmäßigkeit der Gewährung von Alhi abhängt, erneut zu prüfen, so führt dies hier zu dem Ergebnis, daß aufgrund der Vorschriften des AFG ein Anspruch des Klägers auf Alhi mangels Bedürftigkeit nicht bestanden hat und infolgedessen auch die Gewährung höherer Alhi für den hier streitigen Zeitraum nicht iS des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 zu Unrecht vorenthalten, sondern zu Recht versagt worden ist. Wie vom LSG unangegriffen festgestellt, hat der Kläger Unterhaltsbeiträge von der Deutschen Bundesbahn in Höhe von 353,29 DM wöchentlich erhalten. Diese sind Einkommen iS des § 138 AFG. Sie sind betragsmäßig höher als der dem Kläger bei Zugrundelegung der richtigen Leistungsgruppe B/1 rechnerisch zustehende wöchentliche Alhi-Leistungssatz von 210,60 DM. Das hat zur Folge, daß es an der Bedürftigkeit des Klägers iS des § 137 AFG fehlt und daher die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Alhi nicht erfüllt sind.

Daraus folgt, daß der Kläger für den hier streitigen Zeitraum weder aufgrund der Vorschriften des AFG noch aufgrund der Bindungswirkung und der Bestandskraft des Bewilligungsbescheides vom 9. Juli 1984 höhere Alhi beanspruchen kann. Somit fehlt es insoweit an den Voraussetzungen des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10, um eine Rücknahmepflicht der Beklagten bejahen zu können.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten erweist sich daher als rechtmäßig. Auf die Revision der Beklagten ist somit das Urteil des LSG aufzuheben, soweit es dem Klagebegehren des Klägers stattgegeben hat, und die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil auch in diesem Umfange zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660147

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