Entscheidungsstichwort (Thema)

Keine Zurückweisung bei absolutem Revisionsgrund. Abwägung der Schwere der kassenärztlichen Pflichtwidrigkeit. Vorwerfbarkeit. Glaubwürdigkeitsbeurteilung durch Berufungsgericht

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Geschäftsführer eines Landesverbandes von RVO-Kassen ist in einem Rechtsstreit um die Entziehung der Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung (für den Bereich der Ersatzkassen) als ehrenamtlicher Richter ausgeschlossen, wenn im Bereich der RVO-Kassen ein Entziehungsverfahren auf dieselben Pflichtverstöße gestützt wird.

2. Zur Frage anderweitiger Glaubwürdigkeitsbeurteilung durch das zweitinstanzliche Gericht gegenüber dem erstinstanzlichen.

3. Zur Abwägung der Schwere der kassenärztlichen Pflichtwidrigkeit und zu deren Vorwerfbarkeit.

 

Leitsatz (redaktionell)

Zur Ausschließung eines ehrenamtlichen Richters von der Ausübung des Richteramtes nach § 60 Abs 1 SGG iVm § 41 Nr 4 ZPO.

 

Orientierungssatz

1. § 170 Abs 1 S 2 SGG, wonach die Revision zurückzuweisen ist, wenn die Entscheidungsgründe zwar eine Gesetzesverletzung ergeben, die Entscheidung sich aber aus anderen Gründen als richtig darstellt, ist nicht anwendbar, wenn ein unbedingter Revisionsgrund des § 551 ZPO vorliegt (vgl BSG vom 14.2.1957 8 RV 691/55 = BSGE 4, 281).

2. Bei der Abwägung der Schwere der Pflichtwidrigkeit ist darauf abzustellen, in welchem Grade durch die (ganz konkrete) pflichtverletzende Verhaltensweise des Arztes (möglicherweise auch unter Berücksichtigung positiven Pflichtverhaltens) die Grundstruktur des Systems der kassen- bzw vertragsärztlichen Versorgung gefährdet wird. Diese Pflichtwidrigkeit ist dem (approbierten und zugelassenen) Arzt regelmäßig iS der Vorwerfbarkeit auch zuzurechnen. In Ausnahmefällen, wo auch ohne diese Vorwerfbarkeit eine Fortsetzung der systemgefährdenden Pflichtverletzung droht, mag eine Entziehung auch ohne diese Vorwerfbarkeit gerechtfertigt sein.

3. Liegt es im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts, ob es eine erstinstanzliche Beweisaufnahme wiederholen will oder nicht, so kann dieses Ermessen aber auch in dem Sinne "auf Null schrumpfen", daß das Berufungsgericht zur Wiederholung der Beweisaufnahme verpflichtet ist. Es kommt auf die jeweilige Sachlage an, wann dies der Fall ist. Das Berufungsgericht darf sich jedenfalls nicht ohne weiteres über die Glaubwürdigkeitsbeurteilung des Erstgerichts hinwegsetzen, ohne den Zeugen selbst gesehen und gehört zu haben.

 

Normenkette

SGG § 60 Abs. 1; ZPO § 41 Nr. 4; RVO § 368a Abs. 6; ZPO § 551 Nr. 1; SGG § 170 Abs. 1 S. 2; EKV-Ä § 7 Nr. 2; ZPO § 398 Abs. 1; EKV-Ä § 5 Nr. 7; ZO-Ärzte § 32 Abs. 1; BMV-Ä § 4 Abs. 1; SGG § 202

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 24.09.1986; Aktenzeichen L 12 Ka 50/86)

SG München (Entscheidung vom 25.10.1983; Aktenzeichen S 31 Ka 453/83)

 

Tatbestand

In diesem Rechtsstreit wendet sich der in A. (A.) als Internist niedergelassene Kläger gegen die Entziehung seiner Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung (für den Bereich der Ersatzkassen). Die Zulassungsinstanzen stützen die Entziehung auf das Verhalten des Klägers im Zusammenhang mit der Tätigkeit des von ihm zu Dienstleistungen herangezogenen Dr. N. (Dr. N.), welcher nicht zur kassen- bzw vertragsärztlichen Versorgung zugelassen war. Der auf demselben Sachverhalt beruhende Widerruf der Zulassung des Klägers an der kassenärztlichen Versorgung (für den Bereich der RVO-Kassen) ist Gegenstand des Rechtsstreits 6 RKa 23/87 (s Urteil vom selben Tage).

Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) übte Dr. N. ab Dezember 1981 außerhalb seines Dienstes als Oberarzt bei der Bundeswehr eine privatärztliche Tätigkeit aus. Die Praxisräume befanden sich in seinem Wohnhaus in V. (V.), das etwa 30 km von A. entfernt liegt. Bis November 1981 waren diese Räume durch einen Kassenarzt genutzt worden. Seit Anfang 1981 hatte Dr. N. an Wochenenden die Rufbereitschaft für die Praxis des Klägers übernommen. Für die Zeit ab Januar 1982 war eine mithelfende Tätigkeit in der Praxis des Klägers für mindestens 25 Stunden im Monat bei einem Entgelt von 1.000,-- DM vereinbart worden. Der Kläger hatte Dr. N. einen Besuchskoffer zur Verfügung gestellt, in dem sich ua auch kassen- bzw vertragsärztliche Formulare für Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, Krankenhauseinweisungen und Arzneimittelverordnungen, versehen mit dem Kassenstempel des Klägers, befanden. Im Quartal I/1982 behandelte Dr. N. in seinen Praxisräumen in V. auch Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen und der Ersatzkassen aus V. und Umgebung. Im April 1982 zeigte der Kläger der Bezirksstelle Schwaben der Beigeladenen zu 1) an, daß Dr. N. bei ihm seit 1. April 1982 zum Zwecke der Fortbildung auf internistischem Gebiet eine Teilzeitbeschäftigung als Assistent ausübe. Bei einer Überprüfung der Kassenabrechnung des Klägers für das Quartal I/1982 wurden 33 Originalkrankenscheine, darunter 5 der Ersatzkrankenkassen, von Versicherten festgestellt, die nur von Dr. N. behandelt worden waren. Ferner waren 13 Überweisungsscheine, 2 Krankenhauseinweisungen und 50 Kassenrezepte mit dem Arztstempel des Klägers und der Unterschrift des Dr. N. versehen.

Auf Antrag der Beigeladenen entzog die Beteiligungskommission für Ersatzkassen dem Kläger die Kassenzulassung wegen gröblicher Verletzung vertragsärztlicher Pflichten (Beschluß vom 28. September 1982/Bescheid vom 22. Oktober 1982). Den Widerspruch des Klägers wies die beklagte Berufungskommission aus folgenden Gründen zurück: Der Kläger habe in den Fällen L. D., J. und R. V., M. B. und J. W. durch den an der vertragsärztlichen Versorgung nicht beteiligten Zeugen Krankenscheine zur Abrechnung vorgelegt und damit nicht selbst erbrachte Leistungen abgerechnet. Hinzu kämen die unrichtigen und nicht gerechtfertigten Abrechnungen auf dem Sektor der gesetzlichen Krankenversicherung, die den Kläger allgemein nicht mehr vertrauenswürdig erscheinen ließen. Der Kläger habe selbst zugestanden, von dem Zeugen erbrachte Leistungen abgerechnet zu haben. Seine aufgestellte Behauptung, es habe sich um Notfallbehandlungen gehandelt, müsse unbeachtet bleiben, weil es sich - wie die Eintragung auf den Krankenscheinen bewiesen - nicht um Notfälle gehandelt habe; diese hätte der Zeuge im übrigen selbst abrechnen können. Der Kläger habe zumindestens grob fahrlässig gehandelt, indem er dem Zeugen den Besuchskoffer mit den seinen Arztstempel tragenden Vordrucken und Formularen überlassen habe. Der Kläger habe dem Zeugen die Möglichkeit eröffnet, sich als Kassenarzt zu gerieren. Er habe objektiv - wie zugestanden - und auch subjektiv für nicht von ihm erbrachte Leistungen ein Honorar gefordert, das ihm nicht zugestanden habe. Die Abrechnung solcher Leistungen für nichtgeleistete Tätigkeit sei eine gröbliche Pflichtverletzung. Der Verstoß des Klägers gegen die vertragsärztlichen Pflichten sei nach Auffassung der Berufungskommission schwerwiegend (Beschluß vom 29. Juli 1983/Bescheid vom 12. August 1983).

Das Sozialgericht (SG) hat die Bescheide der Zulassungsinstanzen aufgehoben. Es ist nach Anhörung des Klägers und eidlicher Zeugenvernehmung des Dr. N. zu dem Ergebnis gelangt, daß die Voraussetzungen für die Entziehung der Kassenzulassung nicht erfüllt seien. Es stehe lediglich fest, daß der Kläger in fahrlässiger Weise 33 Behandlungsausweise des Dr. N. zur Abrechnung vorgelegt habe. Dem Kläger könne aber nicht angelastet werden, daß sich Dr. N. im Rahmen seiner Privatpraxis wie ein Kassenarzt benommen habe. Nicht zu beanstanden sei, daß der Kläger Dr. N. ab Januar 1982 als Assistenz im weitesten Sinne beschäftigt habe. Die Vertretung eines Kassenarztes bei den vom Kläger genannten Fällen - eigene Erkrankung bzw Abwesenheit wegen Kongreßbesuchs oder wissenschaftlicher Tätigkeit - könne jeder approbierte Arzt übernehmen. Sowohl die Anzahl der Stunden (25 im Monat) als auch die Entgeltzahlung (1.000,-- DM) würden darauf hindeuten, daß lediglich der seit 1981 ausgeübte Bereitschaftsdienst weitergeführt worden sei. Die Fahrlässigkeit des Klägers könne eine Disziplinarmaßnahme, nicht jedoch einen unbefristeten Entzug der Kassenzulassung nach sich ziehen. Da Dr. N. unter Eid mehrfach bekräftigt habe, daß der Kläger von seinem Verhalten keine Ahnung gehabt habe, müsse das Gericht davon ausgehen, daß ein bewußtes und gewolltes Zusammenwirken des Klägers und des Dr. N. nicht gegeben gewesen sei (Urteil vom 25. Oktober 1983).

Auf die Berufungen der Beigeladenen hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es bestätigt die Auffassung des Beklagten, daß der Kläger durch die Abrechnung nicht selber erbrachter Leistungen und die Duldung der illegalen Kassenarzttätigkeit des Dr. N. seine kassenärztlichen Pflichten gröblich verletzt habe und deshalb zur Fortführung der kassenärztlichen Tätigkeit nicht mehr geeignet sei. Er habe sich einer ungenehmigten Beschäftigung eines Assistenten schuldig gemacht. Durch die Überlassung des Besuchskoffers an Dr. N. habe er eine unrichtige Abrechnungsweise unterstützt. Die Aushändigung eines Besuchskoffers an einen Nichtkassenarzt verpflichte den Kassenarzt zu peinlich genauer Kontrolle. Diese Verpflichtung habe der Kläger fahrlässig verletzt. Spätestens zum Zeitpunkt der Abrechnung hätte sich der Kläger darüber im klaren sein müssen, daß Dr. N. von einem anderen Notfallbegriff ausgegangen sei; er hätte deshalb den von Dr. N. hereingegebenen "Notfallscheinen" besondere Aufmerksamkeit schenken müssen. Mit seinem Verhalten habe der Kläger das Einreichen fremder Scheine und die Abrechnung nicht selber erbrachter Leistungen begünstigt. Zumindest aus 33 Krankenscheinen des Quartals I/1982 ergebe sich, daß Dr. N. Bewohner von V. behandelt habe. Dr. N. selber habe eingeräumt, ca 150 Krankenscheine in der Praxis des Klägers abgegeben zu haben. Der Kläger könne sich nicht auf Unkenntnis berufen, denn nach seinen eigenen Einlassungen habe er bei stichprobenartiger Durchsicht der Scheine festgestellt und dabei die nicht einen Notfall betreffenden Scheine aussortiert. Vorwerfbar sei auch, daß er Notfallbehandlungen durch Dr. N. über seine Praxis zur Abrechnung eingereicht habe. Das Inrechnungstellen von Honoraren für nicht selber durchgeführte Leistungen zähle zu den schwersten Störungen des Abrechnungssystems. Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KÄV) und die Krankenkassen müßten sich unbedingt auf die Ehrlichkeit und Sorgfalt des Kassenarztes verlassen können. Unerheblich sei, ob der Kassenarzt den Abrechnungsfehler schuldhaft verursacht habe. Es sei auch nicht entscheidend, daß die festgestellten Verfehlungen nur wenige Abrechnungsfälle beträfen. Das Verhalten des Klägers sei als grob fahrlässig zu erachten, da er trotz Kenntnis einer unrichtigen Abrechnung nichts unternommen habe, diesen Fehler zu beseitigen. Mit seinem Verhalten hinsichtlich der Notfallbehandlungen durch Dr. N. habe er bewiesen, daß er einer ordnungsgemäßen und peinlich genauen Abrechnung keine Aufmerksamkeit zu schenken beabsichtige. Darüber hinaus habe er die Einreichung der fremden Notfallscheine noch während des Klage- und Berufungsverfahrens als nicht übermäßig schwerwiegend dargestellt. Er habe damit seine unveränderte Haltung gegenüber den Verfehlungen bis zuletzt dokumentiert. Bei der Schwere der Pflichtverletzung und der unveränderten Einstellung des Klägers könne mit der Einleitung einer Disziplinarmaßnahme nicht der erstrebte Zweck erreicht werden. Ob die "Bewährung" des Kassenarztes im Laufe des Rechtsstreits zur Erteilung einer neuen Zulassung ausreiche, sei Sache der Zulassungsinstanzen. Nach den Gesamtumständen habe die Beklagte mit der Entziehung der Kassenzulassung im Rahmen der ihm übertragenen Entscheidungskompetenz gehandelt.

Dagegen hat der Kläger Revision eingelegt. Seine beiden Prozeßbevollmächtigten rügen die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Dazu wurde vortragen: Das LSG stütze sich auf die Zeugenaussage des Dr. N. vor dem Zulassungsausschuß, er sei 5 bis 6 Stunden wöchentlich bei einem monatlichen Entgelt von 3.000,-- DM tätig gewesen. Der Berücksichtigung dieser Aussage stehe ein Verwertungsverbot entgegen, denn die Beteiligten hätten an der Vernehmung nicht teilnehmen dürfen. Bei den Zahlungen an Dr. N. in Höhe von 4.500,-- DM und 3.000,-- DM habe es sich nicht um Monatsbeträge gehandelt. Dr. N. habe von ihm für gelegentliche Tätigkeiten in einem Umfang von 20 bis 25 Monatsstunden eine Pauschalvergütung von 1.000,-- DM erhalten. Die Tätigkeit in den genannten Fällen (Erkrankung bzw Abwesenheit wegen Kongreßbesuchs oder wissenschaftlicher Tätigkeit) könne nicht als eine unzulässige Assistenz angesehen werden. Auch die Überlassung des Notfallkoffers könne ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden. Nach herrschender Übung in der Ärzteschaft werde die Materialverwaltung auf das nichtärztliche Hilfspersonal delegiert. Es werde vom Arzt nicht gefordert, den Bestand seiner Vordrucke auf Vollständigkeit zu überprüfen. Es sei dann aber nicht ersichtlich, warum solche Anforderungen im Verhältnis eines Arztes zu seinem Berufskollegen gestellt werden sollten. Zwischen Ärzten gelte im kurativen Bereich der sogenannte Vertrauensschutz, wonach sich jeder Arzt darauf verlassen könne, daß der andere in seinem Verantwortungsbereich ordnungsgemäß, sorgfältig und zuverlässig untersucht und behandelt. Es sei nicht ersichtlich, warum dieser Vertrauensgrundsatz im Bereich der Vordruckverwendung keine Anwendung finden sollte. Soweit das LSG eine Kontrollpflicht damit begründet, daß ihm - dem Kläger - nicht habe verborgen bleiben können, daß Dr. N. bestrebt gewesen sei, seine Tätigkeit auszuweiten, handele es sich um eine nicht belegte Vermutung. Die vom LSG hinsichtlich der Abrechnung nicht selbst erbrachter Leistungen festgestellte Fahrlässigkeit begründe für sich allein noch keine gröbliche Verletzung kassenärztlicher Pflichten. Das gelte auch insoweit, als er rechtsirrig angenommen habe, die Notfalleistungen des Dr. N. könnten über seine Praxis abgerechnet werden. Er habe zu keiner Zeit versucht, seine Fehler zu bagatellisieren, sondern lediglich, seine Abrechnungsfehler gegenüber der klassischen Falschabrechnung abzugrenzen. Er habe sofort, nachdem ihm die Sachlage bekannt geworden sei, die Zusammenarbeit mit Dr. N. beendet. Das LSG hätte deshalb zu dem Ergebnis gelangen müssen, daß er auch weiterhin zur Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung geeignet sei. Im übrigen sei das Urteil schon deswegen fehlerhaft, weil der ehrenamtliche Richter H. als Geschäftsführer des Landesverbandes der Innungskrankenkassen und damit als gesetzlicher Vertreter eines Sozialversicherungsträgers den Antrag auf Zulassungsentziehung gestellt habe.

Das LSG habe auch gegen die §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen, indem es die eidliche Zeugenaussage des Dr. N., auf die es hier entscheidend ankomme, abweichend von der Würdigung des SG interpretiert habe, ohne sich einen eigenen Eindruck von der Persönlichkeit und Glaubwürdigkeit des Zeugen zu verschaffen. Das Berufungsurteil enthalte hinsichtlich der Annahme, der Kläger habe zuletzt an seiner die Schwere der Pflichtverletzung bagatellisierenden Einstellung festgehalten, keine tatsächlichen Feststellungen. Das LSG habe den Begriff der gröblichen Verletzung kassenärztlicher Pflichten iS des § 368a Abs 6 der Reichsversicherungsordnung (RVO) fehlerhaft angewandt. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dürfe von der Entziehung der Kassenzulassung, dem schwersten Eingriff in das Recht der freien Berufsausübung, erst dann Gebrauch gemacht werden, wenn nicht mehr zu erwarten sei, daß der Arzt auf andere Weise (durch mildere Maßnahmen) zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner kassenärztlichen Pflichten angehalten werden könne. Das LSG habe der gröblichen Pflichtverletzung die grob fahrlässige Pflichtverletzung gleichgesetzt. Es habe keine Abwägung zwischen der Schwere des Grundrechtseingriffs und den mit dem Grundrechtseingriff verfolgten öffentlichen Interessen vorgenommen. Auf die seit dem 1. Juli 1983 im Bezirk der KÄV Bayerns bestehende Möglichkeit, das Ruhen der Zulassung bis zur Dauer von 6 Monaten anzuordnen, sei das LSG nicht eingegangen. Gesichtspunkte, die zu Gunsten des Klägers sprächen, habe es nicht berücksichtigt, insbesondere den Umstand, daß es sich um einmalige Fehlleistungen gehandelt habe, die nach rechtlicher Aufklärung sofort eingestellt worden seien.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. September 1986 - L 12 Ka 50/86 - aufzuheben und die Berufungen der Beigeladenen Ziffer 1 und 2 gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 25. Oktober 1983 - S 31 Ka 453/83 - zurückzuweisen, soweit durch dieses der Bescheid der Beteiligungskommission vom 22. Oktober 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Berufungskommission vom 12. August 1983 aufgehoben worden ist; hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte und die Beigeladenen beantragen, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen ist.

1. Nach § 60 Abs 1 SGG, § 41 Nr 4 der Zivilprozeßordnung (ZPO) ist ein Richter von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen in Sachen, in denen er als gesetzlicher Vertreter einer Partei aufzutreten berechtigt ist oder gewesen ist. Unstreitig ist der ehrenamtliche Richter H., der als solcher bei dem angefochtenen Urteil mitgewirkt hat, Geschäftsführer des Landesverbandes der Innungskrankenkassen in Bayern und damit deren gesetzlicher Vertreter (§ 36 Abs 1 Sozialgesetzbuch, Viertes Buch). Der genannte Verband ist im obengenannten Parallelverfahren - wegen Widerrufs der Zulassung des Klägers an der kassenärztlichen Versorgung - Verfahrensbeteiligter (Beigeladener Ziffer 3). § 41 Nr 4 ZPO ist auch dann anzuwenden, wenn die in ihm genannten Ausschließungsgründe in einem Rechtsstreit über dieselbe streitgegenständliche Frage vorliegen (Meyer-Ladewig, Komm SGG, 3. Aufl 1987, RdNr 4 zu § 60; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Komm ZPO, 46. Aufl 1988, Anm 2 D zu § 41; RGZ 152, 9, 11). Das ist hier der Fall; es handelt sich in diesem Sinne um dieselbe Rechtsangelegenheit, nämlich um die Frage des Widerrufs der kassen- bzw vertragsärztlichen Zulassung aus denselben Gründen; die Entziehungsgründe betreffen beide Kassenbereiche und sind insoweit tatsächlich und rechtlich (vgl § 525c RVO) auf das engste miteinander verbunden, nämlich derart, daß die Entziehung in jedem Bereich sich auch auf Pflichtverstöße im anderen Bereich stützt. Das erkennende Gericht war demnach nicht vorschriftsmäßig besetzt (§ 202 SGG, § 551 Nr 1 ZPO). Der Kläger hat die unvorschriftsmäßige Besetzung gerügt; auch absolute Revisionsgründe sind zu rügen (BSGE 56, 222, 224; Baumbach ..., aa0, Anm 4 E zu § 554). Da nach § 551 ZPO die Entscheidung "stets auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen" ist, die Ursächlichkeit der Gesetzesverletzung also unwiderleglich vermutet wird, bedurfte es in der Revisionsbegründung keiner Ausführungen darüber, daß das angefochtene Urteil auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruhen kann. Das angefochtene Urteil war daher schon aus diesem Grunde aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen; § 170 Abs 1 Satz 2 SGG, wonach die Revision zurückzuweisen ist, wenn die Entscheidungsgründe zwar eine Gesetzesverletzung ergeben, die Entscheidung sich aber aus anderen Gründen als richtig darstellt, ist nicht anwendbar, wenn ein unbedingter Revisionsgrund des § 551 ZPO vorliegt (BSGE 4, 281, 288; Meyer-Ladewig, aa0, RdNr 6 zu § 170 mwH; Baumbach ..., aa0, Anm 1 C zu § 563 unter Hinweis auf die für § 551 Ziff 4 und 7 von Bettermann - ZZP 88, 378 - vertretene differenzierende Ansicht).

2. Gemäß § 7 Nr 2 des Arzt/Ersatzkassenvertrags (EKV) ist die Beteiligung des Vertragsarztes zu widerrufen, wenn er seine Pflichten (aus dem Vertrag) gröblich verletzt (vgl § 368a Abs 6 RVO). Dem Kläger wird zum Vorwurf gemacht, er habe im Quartal I/1982 entgegen der Verpflichtung, seine kassen- bzw vertragsärztliche Tätigkeit persönlich auszuüben (§ 5 Nr 7 EKV; § 32 Abs 1 Satz 1 und 2 der Zulassungsordnung für Kassenärzte -ZO-Ärzte-; § 4 Abs 1 des Bundesmantelvertrags-Ärzte -BMV-Ä-) und dementsprechend richtig abzurechnen, im bewußten und gewollten Zusammenwirken mit dem zur kassen- und vertragsärztlichen Versorgung nicht zugelassenen Arzt Dr. N. bewirkt und geduldet, daß dieser (kassen- bzw) vertragsärztliche Tätigkeiten, die über einen (nach § 5 Nr 10 EKV zulässigen) bloßen Bereitschaftsdienst hinausgingen, verrichtete. Der dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrundeliegende Vorwurf stellt daher eine Gesamthandlung dar, die sich als solche erst durch ihre einzelnen Teile konstituiert, wozu auch die (unstreitigen) Tatsachen gehören, daß der Kläger keine Genehmigung zur Anstellung eines Assistenten hatte (vgl § 5 Nr 8 EKV; § 4 Abs 1 Satz 2 BMV-Ä), daß er dem Dr. N. einen Besuchskoffer mit gestempelten Rezeptformularen und anderen Praxisvordrucken überlassen hat, daß außer 50 Kassenrezepten auch 13 Überweisungsscheine und zwei Krankenhauseinweisungen mit dem Arztstempel des Klägers versehen wurden und daß er schließlich 33 Krankenscheine der bezeichneten Art (darunter 5 der Ersatzkassen) zur Abrechnung einreichte.

Diese Tatsachen können daher nur in ihrem (sich aus der Zweckrichtung ergebenden) Gesamtzusammenhang und insoweit auch nur in ihrem unterschiedlichen Gewicht gesehen werden. Hätte der Kläger etwa die Genehmigung zur Anstellung eines Assistenten gehabt, so wäre die Übergabe des Besuchskoffers an ihn, das Abstempeln von Formularen und die Abrechnung entsprechender Krankenscheine nicht einmal als Teil einer übergreifenden Gesamthandlung zu beanstanden gewesen. Dies zeigt, daß bei der Abwägung der (Gesamt-) Schwere des Pflichtenverstoßes (und der Verhältnismäßigkeit der Entziehung) die genannten Umstände nur als Teile einer übergreifenden Gesamthandlung, nicht aber als selbständige Pflichtverstöße gesehen werden dürfen und daß dem Kläger zu dem Vorwurf nichtpersönlicher Leistungserbringung (und entsprechender Falschabrechnung) nicht zusätzlich - kumulativ im Sinne einer erschwerenden Häufung von Pflichtverstößen - vorgeworfen werden kann, einen Assistenten ohne Genehmigung beschäftigt zu haben. Das hat das LSG nicht hinreichend beachtet. Sein Urteil ist insoweit nicht frei von Rechtsfehlern. Da der Kläger vorbringt, von einer pflicht- und vertragswidrigen Tätigkeit des Dr. N. keine Kenntnis gehabt zu haben, mußte sich das LSG freilich damit auseinandersetzen, inwieweit die vorgenannten (und sonstigen) Umstände - etwa die Abrechnung der 33 Krankenscheine, deren (über einen bloßen Bereitschaftsdienst hinausgehende) Leistungen nicht vom Kläger, sondern von Dr. N. erbracht wurden - indiziell geeignet sind, eine solche Einlassung zu widerlegen und damit den Vorwurf der bewußten und gewollten Zuwiderhandlung gegen das Gebot der persönlichen Behandlung zu begründen.

3. Soweit das LSG ausführt, "aus allen diesen vertragsärztlichen Pflichtverletzungen (sei) der Schluß zu ziehen, daß das Verhalten des Klägers grob fahrlässig gewesen (sei)", sind seine Ausführungen nicht frei von rechtlichen Widersprüchen. Hätte der Kläger nicht bewußt u n d gewollt ungenehmigte, fremde (ärztliche) Leistungen als eigene Leistungen erbringen lassen und abgerechnet, sondern bloß fahrlässigerweise keine Kenntnis von der illegalen Tätigkeit des Dr. N. gehabt, dann wäre dies nicht das Verhalten, das dem entziehenden Verwaltungsakt zugrunde liegt. Das hat das LSG letztlich auch gar nicht gemeint, wie sich insbesondere aus seinen Schlußausführungen ergibt. Wird dem Kläger aber - entsprechend der Entziehungsbegründung - wissentliches und willentliches Handeln zum Vorwurf gemacht, dann genügte dafür kein vorwerfbares Nichtwissen. Soweit aber die Entziehung eine (nicht nur einfache, sondern eine) gröbliche Verletzung kassen- bzw vertragsärztlicher Pflichten voraussetzt, ist diese Erschwerung nicht einer Schuldform, sondern der Pflichtwidrigkeit zuzuordnen. Bei der Abwägung der Schwere der Pflichtwidrigkeit ist darauf abzustellen, in welchem Grade durch die (ganz konkrete) pflichtverletzende Verhaltensweise des Arztes (möglicherweise auch unter Berücksichtigung positiven Pflichtverhaltens) die Grundstruktur des Systems der kassen- bzw vertragsärztlichen Versorgung gefährdet wird. Diese Pflichtwidrigkeit ist dem (approbierten und zugelassenen) Arzt regelmäßig im Sinne der Vorwerfbarkeit auch zuzurechnen. In Ausnahmefällen, wo auch ohne diese Vorwerfbarkeit eine Fortsetzung der systemgefährdenden Pflichtverletzung droht, mag eine Entziehung auch ohne diese Vorwerfbarkeit gerechtfertigt sein.

4. Gemäß § 118 Abs 1 SGG sind, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, auf die Beweisaufnahme ua die §§ "392 bis 444 ...der Zivilprozeßordnung entsprechend anzuwenden". Nach § 398 Abs 1 ZPO kann das Prozeßgericht nach seinem Ermessen die wiederholte Vernehmung eines Zeugen anordnen. Daraus ergibt sich zugleich (vgl auch § 526 Abs 1 ZPO), daß erstinstanzliche Beweisaufnahmen auch im Berufungsrechtszug verwertet werden dürfen. Liegt es demnach im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts, ob es eine erstinstanzliche Beweisaufnahme wiederholen will oder nicht, so kann dieses Ermessen aber auch in dem Sinne "auf Null schrumpfen", daß das Berufungsgericht zur Wiederholung der Beweisaufnahme verpflichtet ist. Es kommt auf die jeweilige Sachlage an, wann dies der Fall ist (vgl Pantle, NJW 1987, 3160 und die dort zitierte Rechtsprechung des BGH). Das Berufungsgericht darf sich jedenfalls nicht ohne weiteres über die Glaubwürdigkeitsbeurteilung des Erstgerichts hinwegsetzen, ohne den Zeugen selbst gesehen und gehört zu haben (vgl Meyer-Ladewig, aaO, RdNr 2 zu § 157 und die dort angeführte Rechtsprechung und Literatur). Das LSG hat keine Ausführungen dazu gemacht, aus welchen Gründen es den Aussagen des Dr. N., auf die das erstinstanzliche Gericht sein entsprechendes Urteil entscheidend gestützt hat, der Kläger habe nämlich von seinem - des Zeugen - Verhalten nichts gewußt, nicht gefolgt ist. Es hat sein Abweichen von dem Verbot, von einer erstinstanzlichen Glaubwürdigkeitsbeurteilung ohne erneute Vernehmung abzuweichen, auch nicht sonst gerechtfertigt.

5. Dem Urteil fehlt es aber auch an notwendigen Feststellungen (§ 103 SGG). Es hätte einer genaueren Feststellung des Verhaltens des Dr. N. bedurft, insbesondere über Art und Ausmaß seiner Beschäftigung. So ist ungeklärt, inwieweit die Dienstleistungen des Dr. N. für den Kläger im Quartal I/1982 von denen im Jahre 1981 abwichen. Für den Fall, daß die Abweichungen nur gering waren, könnte es von Bedeutung sein, wie die KÄV auf den "Bereitschaftsdienst" des Dr. N. im Jahre 1981 reagiert hatte. Es liegt nahe, daß die Leistungen im Rahmen dieses Dienstes in gleicher Weise abgerechnet worden waren wie die von Dr. N. im Quartal I/1982 erbrachten Leistungen. Es fragt sich daher, ob der KÄV die von ihr später beanstandete Abrechnungsweise schon im Jahre 1981 aufgefallen war und ob sie den Kläger über die Unzulässigkeit der Beschäftigung des Dr. N. bzw der Abrechnung der von diesem Arzt durchgeführten Notfallbehandlungen - soweit sie nämlich über die Praxis des Klägers erfolgte - belehrt hatte. Da das LSG auch keine näheren Feststellungen über die vom Kläger aussortierten Scheine getroffen hat, es sich insoweit möglicherweise bloß um unterschiedliche Auffassungen über Notfallbehandlungen gehandelt hat, lassen sich hieraus keine weiteren Schlüsse auf die Kenntnis bzw Unkenntnis des Klägers ziehen; daß zulässigerweise durchgeführte Notfallbehandlungen über die Praxis des Klägers abgerechnet wurden, tritt - worauf sich der Kläger auch berufen durfte - gegenüber dem erhobenen Vorwurf, unberechtigt ärztliche Leistungen nicht persönlich erbracht zu haben, aber in den Hintergrund. Schließlich fehlen auch nähere Feststellungen darüber, ob der Kläger aufgrund welcher Hinweise die erforderlichen Konsequenzen gezogen hat, die von seiner Praxis ausgehenden Störungen umgehend zu beseitigen.

6. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

BSGE, 43

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