Leitsatz (redaktionell)

Auch wenn sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt haben, müssen in Anwendung des SGG § 107 Auskünfte, die auf Grund eines Beweisbeschlusses des Gerichts eingeholt worden sind, den Beteiligten in Abschrift oder durch Bekanntgabe ihres Inhalts so rechtzeitig mitgeteilt werden, daß sie dazu noch Stellung nehmen können.

 

Normenkette

SGG § 124 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 107 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 21. März 1962 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts (LSG) vom 21. März 1962, in dem die Revision nicht zugelassen ist, hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt außer unrichtiger Anwendung der §§ 1247, 1249 der Reichsversicherungsordnung (RVO) als wesentlichen Mangel des Verfahrens, der die Revision statthaft machen soll, ua eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör und damit einen Verstoß gegen die §§ 62, 107 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Das Berufungsgericht habe auf Grund eines Beweisbeschlusses vom 10. Januar 1962 Auskünfte von der Stadtverwaltung H, der Gemeindeverwaltung Z und der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) H eingeholt. Diese Auskünfte seien ihr, der Beklagten, vor Erlaß des angefochtenen Urteils nicht mitgeteilt worden, so daß sie zu ihnen nicht habe Stellung nehmen können. Das Berufungsgericht habe diese Auskünfte aber seiner Entscheidung zugrunde gelegt und dadurch auch gegen § 128 Abs. 2 SGG verstoßen. Außerdem rügt die Beklagte eine Verletzung des Rechts der freien Beweiswürdigung nach § 128 Abs. 1 SGG, weil das Berufungsgericht bei der Beweiswürdigung allgemeine Erfahrungssätze außer acht gelassen und gegen die Denkgesetze verstoßen habe. Die Revision meint, die Möglichkeit sei gegeben, daß das Berufungsgericht sich ihrem Standpunkt angeschlossen hätte, wenn die Vorschriften der §§ 62, 107 und 128 Abs. 2 SGG beachtet worden wären und sie zu den eingeholten Auskünften ausführlich hätte Stellung nehmen können.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 21. März 1962 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das die Klage abweisende Urteil des Sozialgerichts Schleswig zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen, sie zu verurteilen, der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten, sowie äußerstenfalls die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Sie ist der Auffassung, daß das Revisionsgericht in der Sache selbst nicht im Sinne der Beklagten werde entscheiden können, sondern äußerstenfalls unter Aufhebung des Berufungsurteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG werde zurückverweisen müssen. Zwar sei die Rüge der Revision, das Berufungsgericht habe das Recht der freien Beweiswürdigung verletzt, unbegründet, jedoch könne eine gewisse Berechtigung der von der Revision erhobenen Rüge nicht bestritten werden, daß die auf Grund des Beweisbeschlusses vom 10. Januar 1962 von der Stadtverwaltung H, der Gemeindeverwaltung Z und der AOK H eingeholten Auskünfte den Beteiligten vor der Entscheidung nicht durch Abschriften zur Kenntnisnahme gebracht worden seien und dieser Mangel auch nicht durch eine Einlassung der Beklagten im Berufungsverfahren habe geheilt werden können, da das LSG sein Urteil ohne mündliche Verhandlung gefällt habe.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Die Revision ist zulässig und insoweit von Erfolg, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision der Beklagten ist, obgleich sie von dem Berufungsgericht nicht zugelassen ist, nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, weil die Revision einen wesentlichen Mangel des Verfahrens des Berufungsgerichts rügt, der auch vorliegt. Das LSG hat bei seinem Verfahren die Vorschriften der §§ 62, 107, 128 Abs. 2 SGG nicht beachtet.

Auf Grund des in der mündlichen Verhandlung am 10. Januar 1962 erlassenen Beweisbeschlusses hat das Berufungsgericht außer einem ärztlichen Sachverständigengutachten von der Kreisstadt H und von der AOK H Auskünfte eingeholt. In dieser mündlichen Verhandlung haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt. Die Auskünfte der Kreisstadt H und der AOK H sowie eine von dem Bürgermeisteramt der Kreisstadt H veranlaßte weitere Auskunft des Bürgermeisteramts Z sind am 6., 7. und 10. Februar 1962 beim LSG eingegangen. Nachdem auch das medizinische Sachverständigengutachten am 6. März 1962 dem Berufungsgericht erstattet worden war, hat es in der Sitzung am 21. März 1962 den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden, ohne jedoch den Beteiligten vorher von den eingegangenen Auskünften Kenntnis und ihnen Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Mit Recht rügt die Beklagte, daß dieses Verfahren mit den Vorschriften der §§ 62, 107, 128 Abs. 2 SGG nicht in Einklang steht.

Nach § 62 SGG ist vor jeder Entscheidung den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren, wobei die Anhörung schriftlich geschehen kann. Um diesem Grundsatz Rechnung zu tragen, ist in § 107 SGG vorgeschrieben, daß den Beteiligten nach Anordnung des Vorsitzenden entweder eine Abschrift der Niederschrift der Beweisaufnahme oder deren Inhalt mitzuteilen ist; außerdem ist in § 128 Abs. 2 SGG bestimmt, daß das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Zwar spricht § 107 SGG ausdrücklich nur von der Niederschrift der Beweisaufnahme, die in Abschrift oder deren Inhalt den Beteiligten mitzuteilen ist. Dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift entspricht es aber, den Beteiligten das Ergebnis auch jeder anderen Art von Beweisaufnahme mitzuteilen, auch wenn es sich nicht um eine Niederschrift auf eine erfolgte Beweisaufnahme handelt, weil allein dadurch dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör Genüge getan wird. Daher erstreckt sich die Anwendung des in § 107 SGG ausgesprochenen Grundsatzes auf das Ergebnis von Beweisaufnahmen jeder Art (BSG 4 S. 60 = SozR SGG § 107 Nr. 1; SozR SGG § 106 Nr. 12, Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur SGb § 107 Anm. 1). Demnach müssen in Anwendung des § 107 SGG auch Auskünfte, die auf Grund eines Beweisbeschlusses des Gerichts eingeholt worden sind, den Beteiligten in Abschrift oder durch Bekanntgabe ihres Inhalts so mitgeteilt werden, daß sie rechtzeitig dazu Stellung nehmen können. Das Berufungsgericht hätte somit die im Februar 1962 bei ihm eingegangenen Auskünfte der Beklagten und der Klägerin mitteilen müssen, bevor es durch Urteil ohne mündliche Verhandlung den Rechtsstreit am 21. März 1962 entschied.

Zwar werden Verfahrensmängel, wenn es sich nicht um solche handelt, auf deren Befolgung ein Beteiligter wirksam nicht verzichten kann, nach § 202 SGG i. V. m. § 295 der Zivilprozeßordnung geheilt, wenn der Beteiligte auf die Befolgung der Verfahrensvorschrift verzichtet oder wenn er sie bei der nächsten mündlichen Verhandlung nicht gerügt hat, obgleich er erschienen ist und ihm der Mangel bekannt war oder bekannt sein mußte. Ein verzichtbarer Verfahrensmangel, um den es sich bei der Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör handelt, wird durch das Unterlassen der Rüge ohne Rücksicht darauf geheilt, ob der vom Mangel betroffene Beteiligte auf die Rüge verzichten wollte, falls die Voraussetzungen des § 295 Abs. 1 ZPO gegeben sind. Da in dem Berufungsverfahren nach Eingang der Auskünfte eine mündliche Verhandlung aber nicht mehr stattgefunden, sondern das LSG ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, kann die Beklagte auf den von ihr jetzt gerügten Verfahrensmangel auch nicht in einer solchen verzichtet haben. Das Einverständnis der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung am 10. Januar 1962 mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren und der den Beteiligten bekanntgegebene. Beschluß, daß nach Eingang der Auskünfte im schriftlichen Verfahren entschieden werden solle, beeinträchtigt das Recht der Beklagten auf das rechtliche Gehör nicht. Dieses Einverständnis kann nicht dahin gedeutet werden, daß die Beteiligten einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt hätten, ohne daß ihnen vorher die eingeholten Auskünfte rechtzeitig zur Stellungnahme zugesandt worden wären.

Das Sozialgericht hat auch § 128 Abs. 2 SGG nicht beachtet. Nach dieser Bestimmung darf der Entscheidung ein Sachverhalt, der den Beteiligten unbekannt ist und zu dem sie sich nicht haben äußern können, nicht zugrunde gelegt werden (BSG 8, 159). Entscheidend ist zwar nicht, ob die Beteiligten sich geäußert haben; ihnen muß aber die Gelegenheit dazu eingeräumt worden sein. Hinsichtlich der Auskünfte fehlt es an dieser Voraussetzung, so daß sie zur Urteilsfindung nicht verwendet werden durften.

Die danach zulässige Revision ist auch begründet, denn die angefochtene Entscheidung beruht auf diesem wesentlichen Verfahrensmangel. Wie sich aus den Urteilsgründen ergibt, hat das Berufungsgericht die eingeholten Auskünfte zu Zwecken des Beweises gewürdigt. Daß das Berufungsgericht bei Beachtung der in den §§ 62, 107, 128 Abs. 2 SGG aufgestellten Verfahrensgrundsätze zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre, ist nicht ausgeschlossen. Das Revisionsgericht konnte in der Sache selbst nicht entscheiden, da den Beteiligten zunächst Gelegenheit gegeben werden muß, sich zu den eingeholten Auskünften zu äußern und das Berufungsgericht die für die Entscheidung erheblichen tatsächlichen Feststellungen unter Berücksichtigung der Stellungnahme der Beteiligten zu diesen Auskünften noch zu treffen haben wird. Das angefochtene Urteil mußte daher mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2374946

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