Leitsatz (amtlich)

1. Eine förmliche Feststellung (RVO § 1569a) ist erforderlich, wenn sich der Verwaltungsakt eines Unfallversicherungsträgers auf die Feststellung beschränkt, daß eine bestimmte Erkrankung die Folge eines Arbeitsunfalls ist.

2. Ein mit einem schwerwiegenden Mangel behafteter Verwaltungsakt ist nichtig, wenn dieser Mangel einem aufmerksamen und verständigen Staatsbürger ohne weiteres erkennbar ist.

3. Soweit die Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung schon vor Inkrafttreten des Art 56 des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut vom 1959-08-03, der mit Wirkung vom 1963-07-01 ihre Zuständigkeit als Unfallversicherungsträger für die bei den ausländischen Streitkräften im Bundesgebiet beschäftigten Arbeitnehmer begründet hat, diese früher von den Ländern durchgeführte Aufgabe übernommen hat, sind die von ihnen begründeten Verbindlichkeiten aus einzelnen weiterbestehenden Rechtsverhältnissen im Wege der Funktionsnachfolge selbst dann auf die Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung übergegangen, wenn sie auf Fehlentscheidungen beruhen.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Zur Auslegung eines nach Inkrafttreten des SGG ergangenen Verwaltungsaktes können auch Unterlagen aus den Verwaltungsakten herangezogen werden.

2. Auch die Regelung eines Einzelfalles durch eine unzuständige Stelle ist ein - wenn auch wegen Rechtswidrigkeit möglicherweise aufhebbarer - Verwaltungsakt.

3. Der Annahme, daß es sich bei einem Bescheid um einen Verwaltungsakt handelt, steht nicht entgegen, daß der Bescheid keine Rechtsbehelfsbelehrung enthält.

4. Grundsätze für die Beurteilung der Frage der Nichtigkeit, wenn eine Einzelperson an Stelle eines zuständigen Kollegiums den Verwaltungsakt erlassen hat.

 

Normenkette

RVO § 1569a Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1925-07-14, Nr. 3 Fassung: 1925-07-14; SGG § 77 Fassung: 1958-08-23; BAfUÜberfV BrZ § 2 Fassung: 1951-03-14; NATOTrStatZAbk Art. 56 Fassung: 1959-08-03

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. Februar 1963 wird zurückgewiesen.

Die Beigeladene hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin war von August 1954 bis März 1959 als kartografische Zeichnerin bei den amerikanischen Streitkräften in Schwetzingen beschäftigt. Nach der Unfallanzeige vom 29. Juni 1956 erlitt sie im Dezember 1955 durch einen frischen Farbanstrich auf die heiße Zentralheizung im Büro und die davon ausströmenden Dämpfe eine Vergiftung, die einen Leberzellschaden zur Folge hatte; die Malerarbeiten hätten sich über einen Zeitraum von mehreren Tagen erstreckt.

Oberarzt Dr. M von der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg kam in seinem Gutachten vom 17. Oktober 1956 zu dem Ergebnis, daß die im Dezember 1955 aufgetretene Leber- und Knochenmarkschädigung auf eine längerdauernde Einatmung ziemlich konzentrierter Terpentinöldämpfe zurückzuführen sei.

Der Staatliche Gewerbearzt Dr. M verneinte am 29. Oktober 1956 das Vorliegen einer Berufskrankheit (BK), da kein Listenstoff Anlaß zur Leberzellschädigung gegeben hätte; er bejahte jedoch ein Unfallgeschehen und den Zusammenhang der Erkrankung und ihrer Folgen mit dem Unfall.

Die Beklagte schrieb am 16. November 1956 der Klägerin:

"Wir beziehen uns auf Ihr Schreiben vom 5.11.1956 und teilen Ihnen mit, daß ein entschädigungspflichtiger Arbeitsunfall aus Anlaß Ihrer Erkrankung vom 20.12.1955 anerkannt wird. Wir haben das Amt für Verteidigungslasten, Heidelberg, bereits hiervon unterrichtet und nehmen an, daß nunmehr einer tarifmäßigen Fortzahlung Ihrer Gehaltsbezüge nichts mehr im Wege steht. Ob und inwieweit Ihnen von unserer Seite aus noch Entschädigungsleistungen zustehen, werden wir Ihnen noch mitteilen.

Zunächst möchten wir Sie noch um Ausfüllung, amtliche Beglaubigung und alsbaldige Rückgabe des beigefügten Fragebogens über den Familienstand bitten.

Mit vorzüglicher Hochachtung Die Geschäftsführung".

In einem weiteren Schreiben vom 16. November 1956 teilte die Beklagte dem Amt für Verteidigungslasten auf dessen Anfrage mit, daß sie ihre Entschädigungspflicht in der "Unfallsache" der Klägerin anerkannt habe.

Beide Schreiben unterzeichnete der Geschäftsführer der Beklagten.

Durch Bescheid vom 25. Januar 1957, dem ein Beschluß ihres Rentenausschusses zugrunde lag, lehnte die Beklagte einen Entschädigungsanspruch der Klägerin ab; es liege nicht nur keine entschädigungspflichtige BK, sondern auch kein Arbeitsunfall vor, da die Einwirkung der Farbstofflösungsmitteldämpfe auf einen Zeitraum von etwa 2 Wochen ausgedehnt gewesen sei.

Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Klage erhoben.

Das Sozialgericht (SG) Mannheim hat durch Urteil vom 7. Februar 1961 die Klage abgewiesen: Das Schreiben des Geschäftsführers der Beklagten vom 16. November 1956 sei kein einen Anspruch auf Entschädigung feststellender Bescheid und die Erkrankung der Klägerin nicht auf das Einatmen der Dämpfe des Farblösungsmittels, sondern auf eine interkurrente Hepatitis oder einen Rückfall einer im Jahre 1942 erlittenen Leberschädigung zurückzuführen.

Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat auf die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 27. Februar 1963 das Urteil des SG Mannheim sowie den Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 1957 aufgehoben und die Beigeladene "dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin für die bei ihr im Dezember 1955 festgestellte Leber- und Knochenmarkschädigung Schadensersatz aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu leisten."

Das LSG hat zur Begründung ausgeführt: Das Schreiben der Beklagten vom 16. November 1956 sei als verbindliche Feststellung des Rentenanspruchs der Klägerin in Form eines schriftlichen Bescheides zu werten, der nicht nichtig sei; denn das Schreiben vom 16. November 1956 zeige keinen offensichtlichen Mangel, wenn es wegen Nichtbeteiligung des Rentenausschusses auch an einem schweren Mangel leiden möge. Anstelle der Beklagten sei jedoch die Beigeladene zur Entschädigungsleistung zu verurteilen, weil die Wahrnehmung der Aufgaben in der gesetzlichen Unfallversicherung im Wege der Funktionsnachfolge auf die Bundesausführungsbehörde übergegangen sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das ihr am 24. April 1963 zugestellte Urteil hat die Beigeladene am 13. Mai 1963 Revision eingelegt und diese am 24. Mai 1963 begründet.

Ihr Prozeßbevollmächtigter führt aus: Das Urteil des LSG sei schon deshalb aufzuheben, weil dem Urteilstenor nicht zu entnehmen sei, ob die Beigeladene die Klägerin wegen eines Arbeitsunfalls oder wegen einer Berufskrankheit zu entschädigen habe. In beiden Fällen sei die Rechtsgrundlage gänzlich verschieden, so daß jetzt nicht ersichtlich sei, wie die Rente berechnet werden solle.

Es liege aber weder ein Arbeitsunfall noch eine Berufskrankheit vor. Das Schreiben vom 16. November 1956 sei formlos gewesen und habe keine Bindungswirkung. Der Geschäftsführer sei nicht befugt gewesen, für die Beklagte eine Entschädigungspflicht anzuerkennen. Um so weniger sei die Beigeladene durch eine rechtlich nicht zutreffende Erklärung der Beklagten gebunden. Die Beklagte sei schon im Zeitpunkt der Absendung des Schreibens vom 16. November 1956 gegenüber dem Anspruch der Klägerin nicht passiv legitimiert gewesen. Jedenfalls sei die Beigeladene berechtigt, die gegen sie erhobenen Ansprüche sachlich nachzuprüfen.

Die Beigeladene beantragt,

unter insoweitiger Aufhebung des angefochtenen Urteils und in insoweitiger Zurückweisung der Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 7.2.1961 die Klage zumindest gegen die beigeladene Bundesrepublik Deutschland abzuweisen,

hilfsweise,

die angefochtene Entscheidung mit den ihr zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beklagte hat sich im Revisionsverfahren zur Sache nicht geäußert und keine Anträge gestellt.

II

Die durch Zulassung statthafte (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), form- und fristgerecht eingelegte Revision ist nicht begründet.

Das LSG ist mit Recht davon ausgegangen, daß das Schreiben des Geschäftsführers der Beklagten vom 16. November 1956 an die Klägerin ein Verwaltungsakt ist.

Die vom Revisionsgericht im vollen Umfang nachprüfbare Auslegung der Willenserklärung der Beklagten (vgl. BSG 7, 53, 56; 18, 84, 86; BSG Breith. 1965, 884) ergibt, daß das Schreiben vom 16. November 1956 zur Regelung eines Einzelfalles erging. Schon aus dem Wortlaut dieses Schreibens ("anerkannt wird") ist ersichtlich, daß die Erkrankung der Klägerin mit unmittelbar rechtlicher Wirkung als Folge eines Arbeitsunfalls festgestellt werden sollte. Daß die Beklagte mit ihrem Schreiben vom 16. November 1956 die Klägerin nicht nur über den Stand der Ermittlungen unterrichten wollte, ergibt sich außerdem daraus, daß sie das Schreiben erst nach Abschluß der Ermittlungen abgesandt und zugleich ihre Entscheidung auch dem Amt für Verteidigungslasten mitgeteilt hat, damit dieses nunmehr über die von dem Vorliegen eines Arbeitsunfalls abhängige Fortzahlung des Gehalts an die Klägerin um einen weiteren Monat entscheiden konnte. Der Verwaltungsakt vom 16. November 1956 ist auch hinreichend bestimmt. Die Art der als Folge eines Arbeitsunfalls anerkannten Erkrankung vom 20. Dezember 1955 ist allerdings dem Schreiben vom 16. November 1956 allein nicht zu entnehmen. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist jedoch aus den von der Beklagten eingeholten Gutachten eindeutig ersichtlich, daß die Klägerin am 20. Dezember 1955 an einer Leber- und Knochenmarkschädigung erkrankte. Auf diese in die Akten der Beklagten aufgenommenen Unterlagen, auf die sich die den Verwaltungsakt erteilende Stelle bei Erlaß ihrer Entscheidung offensichtlich gestützt hat, kann zur Auslegung des Verwaltungsakts zurückgegriffen werden (vgl. BSG 11, 57, 58; 3, 45, 48 ff; BSG SozR SGG § 77 Nr. 36; BVerwG NJW 1965, 1978). Der 5. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat allerdings in seinem Urteil vom 21. November 1958 (SozR RVO § 1585 Nr. 5) entschieden, daß bei der Auslegung eines Bescheides ebensowenig wie bei der Auslegung eines Urteils Unterlagen außerhalb des Bescheides herangezogen werden dürfen. Ob dieser Entscheidung zu folgen ist, kann jedoch dahinstehen; denn der 5. Senat hat es für seine Rechtsansicht als entscheidend angesehen, daß es sich um einen "Bescheid alter Art" - d. h. um einen vor Inkrafttreten des SGG erlassenen Bescheid - handelte und auf diesen die gleichen Grundsätze wie bei der Auslegung von Urteilen anzuwenden seien. Der in der vorliegenden Streitsache zu beurteilende Verwaltungsakt ist dagegen erst nach Inkrafttreten des SGG ergangen. Bei seiner Auslegung sind daher die für Urteile geltenden engen Auslegungsregeln nicht maßgebend (vgl. auch BSG SozR SGG § 77 Nr. 22).

Ob der Geschäftsführer der Beklagten zu der in diesem Schreiben getroffenen Entscheidung befugt war, ist für die Beurteilung der Frage, ob ein Verwaltungsakt vorliegt, rechtlich unerheblich; denn auch die Regelung eines Einzelfalles durch eine unzuständige Stelle ist ein - wenn auch wegen Rechtswidrigkeit möglicherweise aufhebbarer - Verwaltungsakt (vgl. BSG 15, 14, 15).

Der Annahme eines Verwaltungsakts in dem Schreiben vom 16. November 1956 steht schließlich nicht entgegen, daß dieses Schreiben keine Rechtsmittelbelehrung enthielt (vgl. BSG 3, 251, 254; BSG Breith. 1961, 118, 120).

Der Verwaltungsakt und damit die hierin getroffene Feststellung, daß die Erkrankung der Klägerin vom 20. Dezember 1955 die Folge eines Arbeitsunfalls sei, wurde für die Beklagte mit dessen Zugang bei der Klägerin bindend (vgl. BSG 7, 8, 11; 14, 154, 158); denn der die Klägerin begünstigende Verwaltungsakt vom 16. November 1956 ist - wie das LSG zutreffend angeführt hat - nicht nichtig, und eine Fehlerhaftigkeit allein, die bei einem belastenden Verwaltungsakt zur Aufhebung führen kann, löst hier die Bindungswirkung nicht (vgl. BSG 18, 84, 88).

Der erkennende Senat schließt sich der in Rechtsprechung und Schrifttum vorherrschenden Meinung an, daß ein Verwaltungsakt nichtig ist, wenn er mit einem besonders schweren und offensichtlichen Mangel behaftet ist (vgl. u. a. BSG 9, 171, 179; BSG SozR Gesetz über SozVers der NSDAP Allg. Nr. 2; BVerwG 19, 284, 287; BGH RiA 1961, 103, 104; OVG Münster DVBl 1957, 21, 23; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-6. Aufl., S. 232 i; Bachof JZ 1962, 745, 751; Bender DÖV 1965, 441, 447; Forsthoff, Lehrbuch des Verw.Rechts, 8. Aufl., § 12 S. 208; Heike DÖV 1962, 416; Peters, Lehrb. der Verw., S. 166; Redeker/von Certzen , VwGO, 2. Aufl., § 42, Anm. 70; Klinger, VwGO, § 113 Anm. B VI 3; Ule, DVBl 1957, 26; Wolff, VerwRecht I, 6. Aufl. § 51 III b, S. 298; kritisch Thieme DÖV 1962, 686; 1963, 341, 342).

Der Verwaltungsakt vom 16. November 1956 leidet an einem erheblichen Mangel, da der Geschäftsführer der Beklagten zu der in diesem Verwaltungsakt getroffenen Feststellung nicht zuständig war.

Nach § 1569 a Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ist eine förmliche Feststellung erforderlich, wenn es sich um die Gewährung von Renten handelt, die nicht nur für die Vergangenheit gewährt werden. In dem Schreiben vom 16. November 1956 ist allerdings die Frage, ob der Klägerin Entschädigungsleistungen und damit u. a. eine Rente zustehen, ausdrücklich offengelassen. Dadurch ist aber das Erfordernis einer förmlichen Feststellung nach der oben bezeichneten Vorschrift nicht entfallen. Eine förmliche Feststellung ist vielmehr auch erforderlich, wenn sich ein Verwaltungsakt, wie das Schreiben der Beklagten vom 16. November 1956, auf die Feststellung beschränkt, daß eine bestimmte Erkrankung die Folge eines Arbeitsunfalls ist. Diese Feststellung betrifft eine wesentliche Voraussetzung für eine Rentengewährung. Würde sie ohne förmliche Feststellung getroffen werden können, wäre in den vielen Fällen, in denen die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) und der Jahresarbeitsverdienst nicht strittig sind, über die Gewährung von Rente bereits vor der förmlichen Feststellung praktisch entschieden. Ebenso wäre in all den Fällen, in denen das Vorliegen eines Arbeitsunfalls oder der ursächliche Zusammenhang zwischen einem Arbeitsunfall und einer Gesundheitsstörung verneint wird, für eine förmliche Feststellung über die Gewährung von Rente kein Raum mehr. Es ist jedoch Sinn und Zweck des § 1569 a RVO, die für den Verletzten und den Träger der Unfallversicherung weitreichenden Entscheidungen in einer förmlichen Feststellung zu treffen; dem würde es aber widersprechen, wenn über eine wesentliche Voraussetzung einer Entschädigungsleistung, die selbst nach § 1569 a RVO festzustellen ist, ohne förmliche Feststellung entschieden werden könnte.

Die in dem Schreiben vom 16. November 1956 enthaltene Entscheidung der Beklagten bezieht sich nicht nur auf einen abgeschlossen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum mit der Folge, daß eine förmliche Feststellung in entsprechender Anwendung des § 1569 a Abs. 1 Nr. 1 zweiter Halbsatz RVO ausnahmsweise entfiele. Die Erkrankung der Klägerin vom 20. Dezember 1955 ist vielmehr zeitlich unbegrenzt als Folge eines Arbeitsunfalls festgestellt. Zwar haben nach dem Gutachten des Oberarztes Dr. M vom 17. Oktober 1956 im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts vom 16. November 1956 eine unfallbedingte MdE und damit ein Rentenanspruch nicht mehr bestanden; die Art der Erkrankung der Klägerin schließt es aber nach Ansicht des Gutachters nicht aus, daß deren Folgen einmal erneut Rentengewährung oder Heilanstaltspflege (s. § 1569 a Abs. 1 Nr. 3 RVO) erfordern. Deshalb ist davon auszugehen, daß die Feststellung, die Erkrankung vom 20. Dezember 1955 sei die Folge des Arbeitsunfalls, ohne zeitliche Begrenzung getroffen worden ist.

Für die nach § 1569 a Abs. 1 RVO gebotene förmliche Feststellung war jedoch nicht der Geschäftsführer der Beklagten, sondern nach § 1569 RVO in Verbindung mit § 20 der Satzung der Beklagten der Rentenausschuß zuständig. Nur soweit keine förmliche Feststellung erforderlich ist, setzt nach der Satzung der Beklagten der Geschäftsführer die Leistung fest (§ 20 Abs. 4 der Satzung).

Die fehlende Zuständigkeit des Geschäftsführers der Beklagten zur Feststellung, daß die Erkrankung der Klägerin im Dezember 1955 die Folge eines Arbeitsunfalls sei, bedeutet einen schweren Mangel des Verwaltungsakts vom 16. November 1956, weil der Geschäftsführer als Einzelperson an Stelle des Rentenausschusses gehandelt hat. Dies gilt - wie hier - erst recht, wenn die Einzelperson nicht einmal Mitglied des zuständigen Kollegiums ist.

Dieser schwere Mangel ist jedoch nicht offensichtlich.

Diese - neben der Schwere des Mangels - für die Nichtigkeit eines Verwaltungsakts erforderliche Voraussetzung muß auch dann vorliegen, wenn eine Einzelperson an Stelle des zuständigen Kollegiums den Verwaltungsakt erlassen hat (RVA AN 1910, 494; OVG Münster DVBl 1957, 21, 22; Frey DÖV 1957, 526, 527; Klinger aaO § 113 Anm. B VII 13; Schunck/de Clerck, VwGO, § 42 Anm. 2 c ff, S. 184; Ule DVBl 1957, 26; Wolff aaO § 51 III b, S. 298; wohl auch von Hippel, Untersuchungen zum Problem des fehlerhaften Staatsakts, 2. Aufl., S. 118; s. a. RVA AN 1924, 18, 19; EuM 21, 22, 23; Handbuch der Unfallvers., 3. Aufl. § 69 GUVG Anm. 4 S. 472; Lehmann, RVO, 5. und 6. Buch, 2. Aufl. § 1568 Anm. 3, § 1583 Anm. 3 allgemein für den Fall, daß der Bescheid vom nicht zuständigen Organ erteilt wird). Soweit der Rechtsprechung und dem Schrifttum die Ansicht zu entnehmen sein sollte, daß die Entscheidung einer Einzelperson an Stelle eines Kollegiums stets nichtig sei (vgl. BGHZ 21, 294, 297; VG Sigmaringen DVBl 1963, 824, 825; Eyermann/Fröhler, VwGO, 3. Aufl., Anhang zu § 42 Anm. 6; Forsthoff aaO § 12 S. 216; Huber, Wirtsch-VerwR 2. Aufl., § 109 III 2 d, S. 727; Nebinger, VerwR, Allg. Teil, S. 209; Baierl KV 1963, 249, 251; wohl auch Jellinek, VerwR, 3. Aufl. § 11 IV 1, S. 274, auch Fußn. 6; Peters aaO S. 166 mit Ausnahme des Falles, daß der Vorsitzende entscheidet), vermag der erkennende Senat dieser Auffassung nicht zu folgen; es sind keine Gründe ersichtlich, weshalb an die Nichtigkeit eines Verwaltungsakts in diesem Fall weniger strenge Voraussetzungen zu stellen sein sollten. Auch bei der sachlichen Unzuständigkeit einer Behörde wird der Verwaltungsakt überwiegend nur als nichtig angesehen, wenn der Mangel offensichtlich ist, also "unter keinem denkbaren Gesichtspunkt eine Zuständigkeit der den Verwaltungsakt erlassenden Behörde gegeben ist" (BSG 9, 171, 178; vgl. a. u. a. BSG 15, 282, 286; BSG, Urteil vom 9. September 1965 - 4 RJ 269/64; BVerwG 1, 67, 70; BVerwG-Samml. 233 § 22 BWGÖD Nr. 9 - S. 13 -; VGH Baden-Württ. ESVGH 12, 49, 50; Brackmann aaO S. 232 i; Baierl KV 1963, 249, 250; Bank RiA 1964, 293; grundsätzlich für Nichtigkeit BAG AP § 2 SchwerBeschG Nr. 4 mit wohl zustimmender Anm. von Gotzen). Das Urteil des 6. Senats des BSG vom 29. Mai 1962 BSG 17, 79, 83) ist auf die hier entscheidende Frage nicht näher eingegangen, weil der schwere Mangel ganz offensichtlich war. In seinem Urteil vom 15. Mai 1963 (BSG 19, 129, 131/132) hat dieser Senat die Entscheidung des Disziplinarausschusses der Kassenärztlichen Vereinigung an Stelle des Bezirkssenats der Ersatzkasse nur als anfechtbar, nicht aber als nichtig angesehen.

Offensichtlich ist ein schwerer Mangel dann, wenn er einem aufmerksamen und verständigen Staatsbürger ohne weiteres erkennbar ist (vgl. BVerwG 19, 284, 287). Dies ist hier nicht der Fall. Ein durchschnittlich aufmerksamer und verständiger Staatsbürger braucht nicht ohne weiteres zu erkennen, daß der Geschäftsführer der Beklagten mit dem Verwaltungsakt vom 16. November 1956 seine Befugnisse überschritten hatte. Dies gilt insbesondere in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem erst durch Gesetzesauslegung zu ermitteln gewesen ist, ob die im Schreiben vom 16. November 1956 getroffene Feststellung in einem förmlichen Verfahren zu ergehen hatte; denn der Geschäftsführer der Beklagten war nicht von jeder Feststellung einer Entschädigung an Versicherte ausgeschlossen, sondern in bestimmten Fällen (vgl. zB § 1569 a Abs. 1 Nr. 1 zweiter Halbsatz RVO) berechtigt, Entschädigungen und damit auch deren Voraussetzungen festzustellen, zB ob ein Arbeitsunfall vorliegt oder eine Erkrankung Folge eines Arbeitsunfalls ist.

Der Verwaltungsakt der Beklagten vom 16. November 1956 ist somit rechtswirksam erlassen worden.

Das LSG ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, daß die in diesem Verwaltungsakt getroffene Feststellung die Beigeladene als Funktionsnachfolgerin der Beklagten rechtlich bindet.

Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 30. Oktober 1964 (BSG 22, 49, 52) näher ausgeführt hat, unterliegen auch die im Inland bei exterritorialen Dienstgebern beschäftigten Personen der deutschen Unfallversicherung. Die Aufgaben des Trägers der Unfallversicherung für die bei ausländischen Streitkräften in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer wurden zunächst von den Ländern wahrgenommen (vgl. Rundschr. des BMF vom 22. Dez. 1959 - I B/7 - BL 1524 - 108/59). Der Vertrag vom 26. Mai 1952 über die Rechte und Pflichten ausländischer Streitkräfte und ihrer Mitglieder in der Bundesrepublik Deutschland (Truppenvertrag - Gesetz vom 28. März 1954 - BGBl II S. 57/78) bestimmte in Art. 44 Abs. 8 nur, daß sich die arbeitsrechtlichen Ansprüche der Arbeitnehmer bei den ausländischen Streitkräften gegen die Bundesrepublik richtete; der Vertrag enthielt keine Bestimmung über den Träger der Unfallversicherung. Der Truppenvertrag wurde, wie durch das Abkommen über das Außerkrafttreten des Truppenvertrages usw. vom 3. August 1959 bestimmt wurde (BGBl II 1961 S. 1352), durch das Zusatzabkommen vom 3. August 1959 (BGBl II 1961 S. 1183, 1218) zum Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages über die Rechtsstellung ihrer Truppen hinsichtlich der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten ausländischen Truppen (Nato-Truppenstatut) ersetzt. Das Nato-Truppenstatut nebst seinen Zusatzvereinbarungen trat jedoch, da es, um wirksam zu werden, von allen Vertragsparteien ratifiziert sein mußte, in der Bundesrepublik erst am 1. Juli 1963 in Kraft (BGBl I S. 428, II S. 745). Die Zuständigkeit der Beigeladenen als Träger der Unfallversicherung für jenen Personenkreis begründete indessen erst Art. 56 Abs. 3 Satz 2 des Zusatzabkommens zum Nato-Truppenstatut. Schon vor dem Inkrafttreten dieses Zusatzabkommens am 1. Juli 1963 hat die Beigeladene jedoch jene zunächst von den Ländern durchgeführte Aufgabe auch in den Gebieten übernommen, in denen ihre Zuständigkeit nicht schon auf Grund der SVA Nr. 9 vom 9. Juni 1947 ( Arbeitsbl . für die brit. Zone 1957, 233) in Verbindung mit der SVA Nr. 12 vom 5. Juli 1947 ( Arbeitsbl . für die brit. Zone 1947, 239) und der VO zur Überführung der Ausführungsbehörde für Unfallversicherung in der britischen Zone vom 14. März 1951 (BGBl I S. 190) gegeben war (vgl. Rdschr. des BMA vom 6. August 1955 - IV. 6 - 1686/55; Rundschr. des BMF aaO). Die rechtliche Grundlage hierfür bildete das Institut der Funktionsnachfolge, das seinem Grundgedanken nach auch hier anzuwenden ist.

Das Rechtsinstitut der Funktionsnachfolge wurde nach dem Zusammenbruch im Jahre 1945 vornehmlich im Zusammenhang mit den Fragen weiterentwickelt, wer für Verbindlichkeiten des Reiches haftete (vgl. BGHZ 8, 169, 179; 10, 125, 126; 10, 220, 223; 13, 265, 303; 16, 184, 188; 19, 294, 295; 20, 183, 186; 29, 22, 25; 36, 245, 246; BGH VerwRspr. 9, 660, 662; BGH VersR 1959, 70, 71; Schroer DRZ 1948, 228; Reinhardt NJW 1952, 441; Däubler NJW 1954, 5, 6; Scheuner in "Vom Bonner Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung", Festschrift für Nawiaski, S. 9, 34, 43; Steinbömer, Die Funktionsnachfolge, S. 11 ff, Kaja, Die Funktionsnachfolge, S. 15 ff, 37 ff; Wolff aaO § 41 IV c, S. 221; vgl. auch BAG 5, 331, 335; BAG AP BGB § 419, Funktionsnachfolge Nr. 1 und 2, jeweils mit Anm. von Reinhardt, Nr. 3 mit Anm. von Hueck, Götz; BSG 1, 164, 166; 7, 60 63; 15, 295, 298; Brackmann aaO S. 294 d VIII). Die Grundsätze der Funktionsnachfolge sind allerdings im vorliegenden Fall nicht unmittelbar anwendbar, weil die Beklagte als der alte Funktionsträger nicht untergegangen oder wenigstens handlungsunfähig geworden ist. Dies schließt jedoch nicht aus, die Grundgedanken der Funktionsnachfolge entsprechend anzuwenden (vgl. BGH Vers.Recht 1959, 70, 71; Däubler NJW 1954, 5, 6; Steinbömer aaO S. 47; aA BAG AP aaO Nr. 2 mit zustimmender Anm. von Reinhardt; Reinhardt NJW 52, 441, 442). Die Funktionsnachfolge erstrebt einen gerechten Interessenausgleich (BGH aaO) durch eine "Hilfskonstruktion, um dringende Ansprüche durchzusetzen, deren Befriedigung wegen eines öffentlich-rechtlichen Charakters nicht bis zum Erlaß eines Gesetzes aufgeschoben werden kann" (BGHZ 16, 184, 188). Die Zuständigkeit der Beigeladenen für die Durchführung der Unfallversicherung der bei den ausländischen Streitkräften in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer ist, wie bereits dargelegt, erst mit Wirkung vom 1. Juli 1963 gesetzlich geregelt. Schon vorher hat jedoch ein Bedürfnis für eine einheitliche Durchführung der Unfallversicherung für die in den verschiedenen Bundesländern bei den ausländischen Streitkräften tätigen Personen vorgelegen. Deshalb hat zwischen den zuständigen Stellen des Bundes und der Länder Einvernehmen darüber bestanden, daß schon vor dem - aus den bereits aufgeführten Gründen erheblich verzögerten - Inkrafttreten des Zusatzabkommens vom 3. August 1959 (aaO) die bisher zum Teil noch von den Ländern ausgeübten Funktionen des Trägers der Unfallversicherung der bei den ausländischen Streitkräften in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer von der Beigeladenen übernommen würden (Rundschr. des BMF aaO).

Als Funktionsnachfolgerin ist die Beigeladene im gleichen Umfang wie ursprünglich die Beklagte an deren Verwaltungsakte gebunden. Eine Bindung schließt aber, entgegen der Meinung der Revision, eine erneute sachliche Prüfung eines von der Beklagten festgestellten Entschädigungsanspruchs aus. Die Beigeladene hat als Funktionsnachfolgerin nicht nur die ordnungsgemäß und sachlich richtig festgestellten Entschädigungsansprüche zu erfüllen; auf sie sind vielmehr die von der Beklagten begründeten Verbindlichkeiten auch dann übergegangen, wenn sie auf Fehlentscheidungen beruhen. Der erkennende Senat folgt insoweit ebenfalls der Rechtsprechung des BGH, daß ein aus der Funktion einer Behörde entstandener Fehler auch dieser Funktion als zwar nicht erwünschter, aber unvermeidlicher Bestandteil zuzurechnen ist; denn jeder noch so geordneten Tätigkeit einer Behörde wohnt die Möglichkeit inne, daß bei ihrer Ausübung Fehler begangen werden und daraus Verbindlichkeiten entstehen; so werden zB Unfälle im Dienstbetrieb, Fehlentscheidungen, Verfahrensverstöße, Zuständigkeitsüberschreitungen nie zu vermeiden sein (BGHZ 8, 169, 179; ebenso Däuhler NJW 1954, 5, 7; Steinbömer aaO S. 41, 49; Kaja aaO S. 69).

Die Beigeladene ist zur Entschädigung der Klägerin auch für die Zeit zuständig, in der die Beklagte noch die Funktionen des Trägers der Unfallversicherung für die bei den ausländischen Streitkräften in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer ausübte. Von dieser Auffassung geht selbst die Beigeladene in ihrem Schriftsatz vom 22. April 1960 aus, in dem sie sich bereit erklärte, als Beklagte in den schwebenden Rechtsstreit einzutreten und darauf hinwies, sie sei "bereits in anhängigen Verfahren als der nunmehr zuständige Unfallversicherungsträger aufgetreten". Das setzt jedoch für den Fall der Verurteilung die Verpflichtung voraus, Entschädigung auch für zurückliegende Zeiträume zu leisten. Der Hinweis in dem Rundschreiben des BMF vom 22. Dezember 1959 (aaO hier Nr. IV), daß die Beigeladene die Ausgaben der gesetzlichen Unfallversicherung erst "vom Zeitpunkt des tatsächlichen Aufgabenübergangs" an zu leisten habe, bezieht sich nicht nur auf die damals laufenden Leistungen, sondern schließt mit ein, daß Nachzahlungen dann von der Beigeladenen zu tragen sind, wenn sie - wie hier auf Grund eines Urteils - viele Jahre nach dem "tatsächlichen Aufgabenübergang" zu leisten sind. Dem am 1. Juli 1963 in Kraft getretenen Zusatzabkommen vom 3. August 1959 (aaO) ist eine entgegenstehende Einschränkung nicht zu entnehmen.

Eine Verurteilung der Beigeladenen war auch nicht etwa deshalb ausgeschlossen, weil die Klägerin im Berufungsverfahren beantragt hatte, die Beklagte zur Entschädigungsleistung zu verurteilen. Dieser Antrag umfaßt hilfsweise das Begehren, die Beigeladene zu verurteilen (vgl. BSG 9, 67, 70; 14, 86, 89; BSG SozR SGG § 75 Nr. 26; Stern in Rechtsschutz im Sozialrecht, S. 223, 241).

Nach dem Gutachten des Oberarztes Dr. M vom 17. Oktober 1956 hat das LSG davon ausgehen können, daß die begründete Wahrscheinlichkeit für einen Leistungsanspruch der Klägerin in einer Mindesthöhe besteht und deshalb die Voraussetzungen für ein Grundurteil auch insoweit erfüllt sind (BSG SozR SGG § 130 Nr. 3 und 4).

Entgegen der Ansicht der Revision bedarf der Tenor des Urteils des Berufungsgerichts keiner Änderung. Aus den Urteilsgründen, die zur Auslegung der Urteilsformel mit heranzuziehen sind (vgl. Brackmann aaO S. 256 d), ergibt sich zweifelsfrei, daß das Berufungsgericht die im Urteilstenor angeführten Gesundheitsstörungen als Folge eines Arbeitsunfalls angesehen hat. Aus diesem Grunde erübrigt es sich, auf das Vorbringen der Revision einzugehen, die Beigeladene könne die Entschädigungsansprüche der Klägerin nicht berechnen, da dem Urteilstenor nicht zu entnehmen sei, ob die Erkrankung der Klägerin als Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit festgestellt sei.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 162

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