Leitsatz (amtlich)

Die Klagerücknahme, die von einem prozeßunfähigen Beteiligten, der keinen gesetzlichen Vertreter hatte und der im Prozeß für prozeßfähig gehalten wurde, erklärt worden ist, kann wegen des Wiederaufnahmegrundes der nicht ordnungsgemäßen Vertretung (entsprechend SGG § 179 Abs 1 iVm ZPO § 579 Abs 1 Nr 4) nur innerhalb der Notfrist von einem Monat widerrufen werden (ZPO § 586).

 

Normenkette

SGG § 71 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 102 Fassung: 1953-09-03, § 179 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 579 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1950-09-12, § 586 Abs. 1 Fassung: 1950-09-12, Abs. 2 S. 2 Fassung: 1950-09-12

 

Verfahrensgang

SG Heilbronn (Entscheidung vom 28.09.1976; Aktenzeichen S 10 V 617/75)

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 14.04.1977; Aktenzeichen L 12 V 1854/76)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. April 1977 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Versorgungsverwaltung hatte es abgelehnt (Bescheide vom 15. Dezember 1954 und 27. April 1955), dem Ehemann der Klägerin Versorgung zu gewähren. Es fehle - so hatte sie im Gegensatz zur Ansicht des Antragstellers ausgeführt - an dem erforderlichen Ursachenzusammenhang zwischen einem Leiden an Zwölffingerdarmgeschwüren Gastritis und dem Wehrdienst.

Die hiergegen erhobene Klage nahm der Ehemann der Klägerin am 30. November 1962 durch eine von ihm selbst unterschriebene Postkarte zurück. Mit einem am 9. April 1975 beim Sozialgericht (SG) eingegangenen Schriftsatz beantragte die Klägerin, die sich als Rechtsnachfolgerin ihres 1970 verstorbenen Mannes bezeichnete, den anhängig gewesenen Rechtsstreit fortzusetzen. Sie trug vor, ihr Ehemann sei zur Zeit der Klagerücknahme prozeßunfähig gewesen. Er habe an Halbseitenlähmung, allgemeiner Gefäßsklerose mit zerebralem Gefäßprozeß und Durchblutungsstörungen beider Beide gelitten; es sei zu epileptischen Anfällen gekommen. Für dieses Vorbringen berief sie sich auf die ärztliche Bescheinigung des Dr. K.

Das SG hat die Klage "als unzulässig abgewiesen". Die Rücknahme des Rechtsbehelfs sei rechtsbeständig gewesen und geblieben. Die Prozeßunfähigkeit des damaligen Klägers könne daran nichts ändern. Dieser Gesichtspunkt lasse sich nicht mehr geltend machen; dem stehe der Zeitablauf entgegen. Die Klägerin müsse sich die Frist entgegenhalten lassen, deren Ablauf in vergleichbaren Fällen die Nichtigkeitsklage nach § 586 Zivilprozeßordnung (ZPO) hindern würde (§ 179 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). - Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß festgestellt werde, der Rechtsstreit sei durch Klagerücknahme erledigt. Es hat die Berufung für statthaft gehalten, weil über die Ursächlichkeit des Leidens an Zwölffingerdarmgeschwüren mit einer Wehrdienstbeschädigung zu befinden gewesen sei (§ 150 Nr. 3 SGG). Im Ergebnis hat es sich der erstinstanzlichen Entscheidung angeschlossen. Für die Anfechtung der Rücknahmeerklärung habe der Klägerin eine Frist von einem Monat nach Kenntnisnahme von dem Anfechtungsgrund zugestanden (entsprechend § 586 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Diese Frist habe die Klägerin versäumt; sie habe "nach ihrer eigenen Darstellung nach Erlangen dieser Kenntnis noch lange Zeit verstreichen lassen".

Die Klägerin hat die - zugelassene - Revision eingelegt. Sie meint, sie habe sich rechtzeitig auf die "Nichtigkeit" der Klagerücknahme berufen. Denn dazu habe sie erst Veranlassung gehabt, nachdem sie nicht nur von der Rücknahmeerklärung erfahren, sondern sich auch über die geistige Verfassung ihres Ehemannes zur Zeit der Erklärung vergewissert gehabt habe. Über ersteres habe sie sich durch eine Einsicht in die Verwaltungsvorgänge erkundigen müssen. Dann habe sie sich sofort um eine Erläuterung der ihr unverständlichen Verhaltensweise ihres Mannes bemüht. Hierüber sei sie erst durch die Stellungnahme des Arztes Dr. K vom 23. März 1975 unterrichtet worden. Der Schriftsatz, mit dem sie die Rechtsgültigkeit der Rücknahmeerklärung in Frage gestellt habe, datiere vom 20. März 1975 und sei beim SG am 9. April 1975, mithin innerhalb der Monatsfrist, eingegangen.

Die Klägerin beantragt,

die angefochtenen Urteil sowie die Bescheide vom 15. Dezember 1954 und 27. April 1955 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, das Zwölffingerdarmgeschwür und die Gastritis ihres Ehemannes als Schädigungsfolge im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes anzuerkennen, dafür einen rentenberechtigenden MdE-Grad festzusetzen und Rente für die Zeit vom 1. April 1952 bis 31. Oktober 1970 zu gewähren;

hilfsweise:

die Sache an das Sozialgericht Heilbronn zurückzuverweisen.

Der Beklagte erklärt, er neige der Auffassung des LSG zu.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist unbegründet.

Die Vorinstanzen haben die Rechtsgültigkeit der in Frage gestellten Klagerücknahme zu Recht unter dem Gesichtspunkt des Wiederaufnahmegrundes geprüft (sinngemäß § 179 Abs. 1 SGG i.V.m. § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO). Zutreffend haben sie angenommen, daß die Rücknahme der Klage eine Prozeßhandlung ist. Als solche kann sie nicht nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts angefochten werden (BSGE 14, 138, SozR Nrn. 6 und 11 zu § 102 SGG, SozR 1500 § 102 Nr. 1). Die Rücknahmeerklärung kann nur ausnahmsweise widerrufen werden, wenn die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens erfüllt sind (BVerwG Buchholz 310 § 92 VwGO Nr. 3; BGHZ 33, 73, 75). Die entsprechende Anwendung der Regeln über die Wiederaufnahme wäre der einzige vorgezeichnete Weg, um der Klägerin zu der von ihr gewünschten verfahrensrechtlichen Position zu verhelfen. Denn die Klagerücknahme ließ die beanstandeten Verwaltungsakte unanfechtbar werden, obgleich der damalige Kläger im Rechtsstreit nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten gewesen sein soll (§ 579 Abs. 1 Nr. 4, § 578 Abs. 1, § 586 Abs. 3 ZPO; vgl. BSG SozR Nr. 7 zu § 156 SGG, BGH LM Nr. 3 zu § 52 ZPO, BVerwG Buchholz 310 § 140 VwGO Nr. 2). Davon ist auszugehen, weil sonst die Möglichkeit des sogenannten Anfechtungsbescheides nach § 42 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) (zur Bezeichnung dieses Bescheides: BMA BVBl 1956, 48 Nr. 17) unverständlich und rechtlich nicht begründet wäre. Nach § 42 KOVVfG hat die Verwaltungsbehörde "erneut zu entscheiden", wenn ein Wiederaufnahmetatbestand gegeben ist, z.B. wenn ein Berechtigter im Verfahren nicht ordnungsgemäß vertreten war. Erst eine "erneute Entscheidung" kann also die bis dahin bestehende Wirksamkeit des einem nicht ordnungsgemäß vertretenen Beteiligten erteilten Verwaltungsakts wieder beseitigen. Der Tatbestand des § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO war gegeben, wenn - wie hier behauptet - der Beteiligte zur Zeit seiner Prozeßhandlung prozeßunfähig war, keinen gesetzlichen Vertreter hatte und im Prozeß für prozeßfähig gehalten wurde (vgl. BSG SozR 7 zu § 156 SGG). Unmittelbar sind nun die Vorschriften über die Wiederaufnahme (§§ 578 ff ZPO) nicht anzuwenden, weil das Klageverfahren nicht durch eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung abgeschlossen worden ist (BSG Urteil vom 27. Februar 1962 - 10 RV 1179/60 - KOV 1962, 143 Rechtspr. Nr. 1346). Gegen eine Beendigung des Rechtsstreits auf andere Weise ist die Wiederaufnahmeklage nicht gegeben (BSG SozR Nr. 1 zu § 578 ZPO).

Andererseits ist die Lösung des Falles aber auch nicht im Wege eines Anfechtungsbescheides nach § 42 KOVVfG zu suchen.- Diese Vorschrift wäre an sich heranzuziehen; sie ist zwar erst am 1. April 1955 und damit in einem Zeitpunkt in Kraft getreten, als die Versorgungssache des Ehemanns der Klägerin bereits anhängig war. Doch erging der Widerspruchsbescheid vom 27. April 1955 unter der Herrschaft des hier in Rede stehenden Gesetzes. Dies genügt dafür, daß die gesamte Angelegenheit nach dem KOVVfG zu beurteilen wäre (§ 52 KOVVfG; BSG Urteil vom 17. September 1963 - 10 RV 495/60 -, Der Versorgungsbeamte 1964, 7 Nr. 7). - Der Rückgriff auf die Vorschrift über den "Anfechtungsbescheid" bietet sich anscheinend an, weil der Rechtsstreit infolge der Klagerücknahme als nicht anhängig geworden anzusehen wäre und weil somit die vorangegangenen Verwaltungsakte für die Beteiligten in der Sache bindend geworden sein könnten (§ 24 Abs. 1 KOVVfG). Unter diesen Umständen könnte so wie im Falle der Rechtskraft eines mit schweren verfahrensrechtlichen Mängeln behafteten Endurteils - auch hier - der außerordentliche Rechtsbehelf zur Bekämpfung der Bindungswirkung zur Verfügung stehen. Anhaltspunkte dafür, daß der Ehemann der Klägerin bereits in den Jahren 1954/55 geschäftsunfähig gewesen sein könnte, sind indessen nicht ersichtlich. Auch würde mit der Einleitung eines erneuten Verwaltungsverfahrens nach § 42 KOVVfG der gegenwärtigen Prozeßsituation nicht Rechnung getragen. Der Klägerin geht es um die Beantwortung der - prozeßrechtlichen - Frage, ob die von ihrem Ehemann im Zustand der Prozeßunfähigkeit abgegebene Erklärung der Klagerücknahme dazu geführt hat, daß der Rechtsstreit in der Hauptsache endgültig erledigt ist, oder ob sie - die Klägerin - den Rechtsbehelf weiter verfolgen kann.

Über diese, die Wirksamkeit der Klagerücknahme betreffende Frage ist die Klärung aus der Prozeßordnung heraus zu suchen, und zwar in Fortsetzung des Rechtsstreits, in dem die Klagerücknahme ausgesprochen wurde (Meyer-Ladewig, SGG, Rz.12 zu § 102 m. Nachw.; BVerwG, Beschl. vom 18.3.1965, MDR 1965, 1014; BFH 105, 246). In diesem Zusammenhang ist über die Berechtigung des Widerrufsbegehrens der Klägerin zu entscheiden.

Dieses Verlangen scheitert daran, daß die Klägerin sich nicht früher auf den Nichtigkeitsgesichtspunkt berufen hat. Die für eine Wiederaufnahmeklage bedeutsame Fristenregelung des § 586 ZPO ist im Streitfalle sinngemäß zu beachten. Nach den Absätzen 1 und 3 dieser Vorschrift muß die mangelnde Vertretung binnen einer Notfrist von einem Monat nach Zustellung des Urteils an die mangelhaft vertretene Partei selbst oder an ihren gesetzlichen Vertreter angezeigt werden. Hier ist nun ein Urteil, aus dem die nicht ordnungsgemäße Vertretung des Beteiligten zu ersehen gewesen wäre, weder ergangen noch zugestellt worden. Infolgedessen ist der Tatbestand des § 586 Abs. 3 ZPO nicht verwirklicht. Deshalb ist der Wille des Gesetzes aus Abs. 2 Satz 1 des § 586 ZPO zu entnehmen (vgl. OLG Hamm, DRZ 1949, 448, zustimmend Rosenberg; Stein/Jonas/Grunsky, Komm. zur ZPO, 20. Aufl., Rz. 15 zu § 586; KG NJW 1970, 817). Danach beginnt grundsätzlich für die Wiederaufnahme die Notfrist von einem Monat mit dem Tage, an dem der Beteiligte von dem Anfechtungsgrund "Kenntnis erhält". Diese Kenntnis muß sich auf die Tatsachen erstrecken, welche den Mangel einer gesetzmäßigen Vertretung ergeben; sie wird als ein "auf sicheren Grundlagen beruhendes Wissen" aufgefaßt, wofür bloße Gerüchte oder Mutmaßungen nicht ausreichen (Stein/Jonas/Grunsky, aaO, Rz. 3); andererseits kommt es aber nicht auf eine Kenntnis sämtlicher tatsächlichen Einzelheiten oder gar der Rechtsfolgen an (OLG Düsseldorf, Urteil vom 21. August 1969, MDR 1969, 1017). Bei Anlegung dieser Maßstäbe hat die Klägerin nach den - von der Revision nicht substantiiert angegriffenen - Feststellungen des LSG diese Frist versäumt. Zur Anfechtung war sie veranlaßt, nachdem sie von der Klagerücknahme erfahren hatte und über den geistigen Zustand ihres Mannes zur fraglichen Zeit ausreichend informiert war. Über letzteres war die Klägerin, wenn man - wie es nach der Prozeßlage geschehen muß - dem LSG folgt, seit langem unterrichtet. Die geistigen Ausfallerscheinungen hatten sich bereits in einem Klinikaufenthalt Mitte 1959 als erheblich herausgestellt. Eine spezifizierte ärztliche Diagnosestellung, wie sie in der Bescheinigung des Dr. K vom 23. März 1975 enthalten ist, war für das Kenntniserlangen i.S. des § 586 Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht entscheidend. Über die Klagerücknahme hatte sich die Klägerin nach dem Tode ihres Mannes durch Einsicht in die Akten vergewissert. Dann aber ließ sie 1 1/2 Jahre verstreichen, bevor sie wegen ihrer Bedenken gegen die Wirksamkeit der Klagerücknahme bei Gericht vorstellig wurde. Die Tatsachen, welche für eine Wiederaufnahmeklage hätten angeführt werden können, waren der Klägerin also weit länger als einen Monat bewußt, als sie die Weiterführung des Rechtsstreits beantragte. Daß die Klägerin vorher lange vergeblich bemüht war, den ärztlichen Nachweis für die geistige Schwäche ihres Ehemannes zu beschaffen, war daher, wie das LSG dargelegt hat, unter den gegebenen Umständen unerheblich. Das Warten auf die entsprechende ärztliche Bestätigung rechtfertigt auch nicht die Annahme, die Klägerin sei ohne Verschulden verhindert gewesen, die erwähnte Notfrist einzuhalten. Ihr ist zu Recht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt worden (§ 67 Abs. 1 SGG).

Aus diesem Grunde waren die angefochtenen Urteile zu bestätigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI793350

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