Beteiligte

Kläger und Revisionskläger

Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

II

Die Revision ist zulässig und begründet. Da jedoch, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, zwischen den auf gleichgeordneter Ebene stehenden beteiligten öffentlich-rechtlichen Körperschaften ein Verwaltungsakt weder ergangen ist noch zu ergehen hatte (vgl. § 54 Abs. 5 SGG), war die Berufung der Beklagten mit der aus dem Entscheidungssatz ersichtlichen Maßgabe zurückzuweisen.

Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß sich der nach § 1531 RVO a.F. erhobene Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers gemäß der Überleitungsvorschrift in Art. II § 21 des Gesetzes vom 4. November 1982 (BGBl. I 1450) nach § 104 SGB 10 richtet, wenn er - wie hier - noch nach dem Inkrafttreten dieser Vorschrift am 1. Juli 1983, (Art. II § 25, Abs. 1 a.a.O.) Gegenstand eines sozialgerichtlichen Verfahrens ist (vgl. die Entscheidungen des erkennenden Senats vom 1. Dezember 1983 in SozR 1300 Art. II § 21 Nr. 1 und vom 13. September 1984 - 4 RJ 37/83 -; ferner die Entscheidung des Bundessozialgerichts - BSG - vom 24. Mai 1984 - 7 RAr 97/83 - und in ständiger Rechtsprechung).

Nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB 10 ist der Leistungsträger, demgegenüber der Berechtigte vorrangig einen Leistungsanspruch hat oder hatte, dem nachrangigen Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn dieser dem Berechtigten Sozialleistungen erbracht hat, ohne daß - wie hier - die Voraussetzungen des § 103 Abs. 1 a.a.O. (nachträgliches Entfallen eines Anspruchs) vorliegen.

Die Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung sind nach § 2 Abs. 1 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) den von dem Kläger zu erbringenden Leistungen aus der Sozialhilfe gegenüber vorrangig. An diesem Vorrang ändert nach § 2 Abs. 2 Satz 2 BSHG auch der Umstand nichts, daß ein Entwöhnungs-Heilverfahren des Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 1236 Abs. 1 Satz 1 RVO keine Pflicht-, sondern eine Kannleistung ist, die im pflichtgemäßen Ermessen dieses Trägers steht (§ 39 SGB 1).

Der Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB 10 entspricht in seiner Gesamtkonzeption weitgehend § 1531 RVO a.F. (vgl. hierzu die Stellungnahme des Bundesrats im Gesetzgebungsverfahren - BTDrucks. 9/95 S. 39). Es liegt deshalb nahe, bei der Auslegung des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB 10 auf Literatur, Rechtsprechung und Verwaltungspraxis zu § 1531 RVO a.F. zurückzugreifen, soweit dem der Wortlaut der neuen Regelung nicht entgegensteht (vgl. Schellhorn in von Maydell/Schellhorn, GK-SGB X 3, § 104 RdNr. 12; Gerlach in DOK 1983, 393, 402).

Mit den Entscheidungen des BSG in BSGE 3, 57; BSGE 21, 84, 85 = SozR Nr. 13 zu § 1531 RVO; BSG in SozR Nr. 24 und 26 zu § 1531 RVO ist daher auch für den Erstattungsanspruch des nachrangigen Leistungsträgers aus § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB 10 davon auszugehen, daß dieser Anspruch allein kraft dieser Vorschrift, also selbständig und unabhängig von einem Anspruch des Berechtigten gegen den erstattungspflichtigen vorrangigen Leistungsträger entsteht. Der Erstattungsanspruch ist mit dem Leistungsanspruch des Berechtigten gegen den beklagten Träger nicht identisch; er entsteht nicht dadurch, daß der erstattungsberechtigte Träger etwa in eine Anspruchsposition des Berechtigten gegenüber dem erstattungspflichtigen Träger einträte; der Erstattungsanspruch steht vielmehr selbständig und originär neben dem Anspruch des Berechtigten (allgemeine Meinung, vgl. Schellhorn a.a.O. RdNr. 28 und das dort zitierte umfangreiche Schrifttum).

Mithin kann der Erstattungsanspruch begründet sein unabhängig davon, ob in der Person des Berechtigten sämtliche sachlich-rechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs gegen den vorrangig verpflichteten Leistungsträger erfüllt sind. Wegen der Eigenständigkeit des Anspruchs aus § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB 10 steht diesem selbst die bindende Ablehnung des Leistungsanspruchs des Berechtigten durch den erstattungspflichtigen vorrangigen Träger - wie hier durch den Bescheid der beklagten LVA vom 3. September 1981 - nicht entgegen (vgl. dazu z.B. BSG in SozR Nr. 26 zu § 1531 RVO m.w.N.).

Der eigenständige Erstattungsanspruch aus § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB 10 ist indessen mit dem Anspruch des Berechtigten gegen den auf Erstattung in Anspruch genommenen vorrangigen Sozialleistungsträger ersichtlich eng verknüpft, ja ohne diese Verknüpfung nicht verständlich. Es ist offensichtliches Ziel des Erstattungsanspruchs, die Kosten von Sozialleistungen, die einem bestimmten Berechtigten gewährt worden sind, auf die als leistungspflichtig in Frage kommenden Träger angemessen zu verteilen und dabei zugleich Doppelleistungen zu vermeiden. Daraus resultiert als Voraussetzung des Ausgleichsanspruchs, daß es notwendig ist, aber auch ausreicht, wenn in der Person des Berechtigten wenn schon nicht alle, so doch die wesentlichen, die unverzichtbaren, die Grundvoraussetzungen des vom klagenden Leistungsträger tatsächlich schon erfüllten Anspruchs auf eine gleichartige und zeitgleiche Leistung gegen den beklagten Träger vorliegen.

Auch der rechtliche Charakter der vom erstattungspflichtigen Träger zu erbringenden Sozialleistung ist nicht ausschlaggebend. Neben sogenannten Pflichtleistungen, auf die der Berechtigte einen Anspruch hat (§ 38 Abs. 1 SGB 1), kommen auch Leistungen des erstattungspflichtigen Trägers in Betracht, die dieser nur gewähren soll oder nach seinem pflichtgemäßen Ermessen - wie hier ein Entwöhnungs-Heilverfahren - nur gewähren kann. Das folgt schon daraus, daß nicht verständlich gemacht werden könnte, warum es für den erstattungsberechtigten nachrangigen Leistungsträger gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB 10 genügt, daß er Leistungen zwar zulässig, aber ohne Rechtspflicht tatsächlich "erbracht" hat, die Möglichkeit der Soll- oder Kannleistung des vorrangigen Trägers insoweit aber belanglos wäre (vgl. dazu BSGE 9, 112, 123; 14, 261, 264 = SozR Nr. 11 zu § 205 RVO; BSGE 40, 20, 21 = SozR 2200 § 187 Nr. 5). Auch bei Anwendung des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB 10 ist mithin davon auszugehen, daß ein "Anspruch" des Berechtigten gegen den nachrangigen, endgültig verpflichteten Träger auch in Fällen gegeben ist, in denen die Gewährung von Leistungen von dessen pflichtgemäßem Ermessen abhängt.

Für den vorliegenden Fall folgt hieraus:

Nach § 1236 Abs. 1 Satz 1 RVO kann der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung als Leistung der medizinischen Rehabilitation (vgl. § 1237 RVO) eine stationäre Behandlung zur Alkoholentwöhnung bewilligen, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versicherten wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist und die Erwerbsfähigkeit durch diese Leistung wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann oder der Eintritt von Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit abgewendet werden kann. Irrig nimmt die Beklagte an, daß der Berechtigte Dietmar B. schon nicht Versicherter i.S. von Absatz 1a Nr. 1 a.a.O. sei. Danach ist bei medizinischen Maßnahmen Versicherter, für wen im Zeitpunkt der Antragstellung in den vorausgegangenen 24 Kalendermonaten mindestens für 6 Kalendermonate Beiträge aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet worden sind. Dietmar B. war Versicherter in diesem Sinne. Die von der Deutschen Bundespost für ihn im August 1980 aufgrund der Nachversicherung (§ 1232 RVO) nachentrichteten Beiträge gelten gemäß § 1402 Abs. 4 Satz 1 RVO nicht nur all rechtzeitig entrichtete Pflichtbeiträge; nach § 1232 Abs. 5a RVO in der rückwirkend ab 1. Januar 1957 geltenden Fassung des Art. 1 § 1 Nr. 11b und d des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl. I S. 476) steht eine Beschäftigung oder Tätigkeit, für die im Wege der Nachversicherung Beiträge nachentrichtet worden sind, einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit gleich. Das bedeutet, daß die ursprünglich gemäß § 1229 Abs. 1 Nr. 3 RVO versicherungsfreie Zeit der Beschäftigung Dietmar B.s als Beamter der Deutschen Bundespost vom 1. August 1973 bis 30. Juni 1980 eine pflichtversicherte, mit Pflichtbeiträgen belegte Beschäftigung darstellt, nachdem zu seinen Gunsten im August 1980 die Nachversicherung durchgeführt worden ist.

Die Beklagte kann hiergegen nicht einwenden, daß "im Zeitpunkt der Antragstellung" (§ 1236 Abs. 1a Nr. 1 RVO) - hier: Antrag Dietmar B.s von Juli 1980 auf Gewährung eines Heilverfahrens - die Nachversicherung des Berechtigten bei der Beklagten noch nicht durchgeführt war. Wird, wie im vorliegenden Fall, eine von der Beklagten verweigerte Leistung mit der Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eingeklagt, so haben die Tatsacheninstanzen grundsätzlich auf die Sachlage abzustellen, die im Augenblick ihrer Entscheidung gegeben war (vgl. z.B. BSGE 43, 1, 5; Urteil des 1. Senats vom 16. April 1984 - 1 RJ 74/83 -). Auch bei der Klage auf Kostenausgleich nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB 10 kommt es daher darauf an, ob die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 1236 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. mit Abs. 1a Nr. 1 RVO im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG gegeben waren. Das war aber der Fall. Die Nachversicherung war zu dieser Zeit zu Gunsten Dietmar B.s längst durchgeführt mit der Folge, daß er rückwirkend für die Zeit seiner ursprünglich versicherungsfreien Beschäftigung vom 1. August 1973 bis 30. Juni 1980 in den Kreis der versicherungspflichtig Beschäftigten einbezogen worden ist. Das hatte das LSG zu berücksichtigen.

Dem Anspruch des Klägers kann die Beklagte auch nicht entgegenhalten, daß sie Dietmar B. gegenüber von dem ihr in § 1236 Abs. 1 Satz 1 RVO eingeräumten Ermessen abschlägig hätte Gebrauch machen können. Der streitige Zahlungsanspruch ist ein Anspruch auf Kostenausgleich unter zwei Sozialleistungsträgern in bezug auf eine Sozialleistung, die der "Berechtigte" bereits erhalten hat. Bei dieser Sach- und Rechtslage kann der vorrangig berufene Leistungsträger dem Kostenausgleichsanspruch des nachrangigen Trägers nur entgegenhalten, daß evidente Gründe vorliegen, aufgrund derer eine Ablehnung der Kannleistung aus Ermessensgründen in Frage gekommen wäre (z.B. Vorliegen von rechtmäßigen schriftlichen Richtlinien, vgl. z.B. Verbandskomm. zum SGB 10, § 104 Anm. 6). Im übrigen folgt aus der prozessualen Mitwirkungs- und Förderungspflicht des vorrangigen Trägers im Erstattungsstreitverfahren, bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor der Tatsacheninstanz - Möglichkeit der Durchführung tatsächlicher Ermittlungen, § 103 Satz 1 SGG - darzulegen, daß und welche dem Ermessensbereich zuzuordnenden Umstände einer Leistungsgewährung an den Berechtigten seiner Meinung nach entgegengestanden wären. Kommt der beklagte Sozialleistungsträger dieser Pflicht nicht nach, geht dies grundsätzlich zu seinen Lasten.

Im vorliegenden Fall muß dies um so mehr gelten, als Dietmar B. im Juli 1980 seinem Antrag auf Gewährung eines Heilverfahrens ein ausführliches Attest der Leitenden Ärztin der Sch-Klinik beigefügt hatte, in der die Durchführung einer 6-monatigen stationären Alkoholentwöhnung nachdrücklich empfohlen und als aussichtsreich beurteilt worden ist.

Nach alledem liegen für den Kläger die Voraussetzungen des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB 10 vor, so daß sein Erstattungsanspruch begründet ist. Auf seine Revision war hiernach die entgegenstehende Entscheidung des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.4a RJ 21/84

Bundessozialgericht

Verkündet am

14. Mai 1985

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518270

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