Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 16.12.1994; Aktenzeichen L 5 Kg 3/94)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 16. Dezember 1994 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt Kindergeld für eine in seinem Haushalt lebende pakistanische Stieftochter.

Der im Jahre 1953 in Pakistan geborene Kläger ist seit 1988 deutscher Staatsbürger. Im Januar 1990 heiratete er in Pakistan die Pakistanerin B. … B., eine Witwe, die ihre Tochter aus der früheren Ehe, die im Jahre 1984 geborene A., … mit in die Ehe brachte. Im November 1991 wurde die eheliche Tochter A. geboren. Die Ehefrau des Klägers kam mit ihren Kindern im März 1993 (illegal und ohne Visum) in die Bundesrepublik. Nachdem die Ausländerbehörde für A. … und ihre Mutter zunächst befristete Duldungen ausgesprochen (die Abschiebung ausgesetzt) hatte, erteilte sie beiden im Juli 1994 eine Aufenthaltserlaubnis. Die Beklagte gewährt Kindergeld für A. … seit ihrer Einreise nach Deutschland sowie für A. … ab Juli 1994.

Streitig ist noch der Anspruch auf Kindergeld für A. … (abgelehnt durch Bescheide der Beklagten vom 16. Juni 1993 und 15. Juli 1993 idF des Widerspruchsbescheides vom 13. August 1993) für die Zeit von März 1993 bis Juni 1994.

Die Revision der Beklagten richtet sich gegen das Urteil des LSG vom 16. Dezember 1994, in dem die Berufung der Beklagten gegen das Kindergeld auch im noch streitigen Umfang zusprechende Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 11. Januar 1994 zurückgewiesen wurde. Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung ausgeführt, daß nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ (Hinweis auf Urteile vom 12. Februar 1992 – 10 RKg 26/90 und vom 15. Dezember 1992, BSGE 72, 8 = SozR 3-5870 § 1 Nr 2) ein gewöhnlicher Aufenthalt in der Bundesrepublik nur dann vorliege, wenn ein entsprechender ausländerrechtlich gesicherter Status gegeben sei; eine bloße Duldung genüge nicht. Der vorliegende Sonderfall sei jedoch anders zu bewerten. Für A. … habe eine enge familienrechtliche Bindung und Eingliederung in einen inländischen Haushalt eines deutschen Staatsangehörigen (des Klägers) bestanden. Unter Berücksichtigung der Grundrechtsnorm des Art 6 Grundgesetz (GG) folge, daß der Kläger, der mit Frau, Tochter und Stieftochter zusammenzuleben wünsche, aufgrund seiner geschützten Rechtsstellung als deutscher Staatsangehöriger in rechtserheblicher Weise auch sein Stiefkind A. … vor Abschiebung aus dem Bundesgebiet habe bewahren können.

Die Beklagte rügt eine Verletzung des § 2 Abs 5 Satz 1 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) iVm § 30 Abs 3 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil (SGB I). Ausländische Staatsangehörige, die lediglich im Besitz einer ausländerrechtlichen „Duldung” seien, hätten nach der Rechtsprechung des BSG (Hinweis auf BSG vom 15. Dezember 1992, BSGE 72, 8 = SozR 3-5870 § 1 Nr 2) keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet. Bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis sei im Rahmen einer Prognoseentscheidung (Hinweis auf BSG vom 23. Februar 1988, SozR 5870 § 1 Nr 14) damit zu rechnen gewesen, daß das Kind A. … mit seiner Mutter in die Heimat würde zurückkehren müssen. In Verkennung der Tatbestandswirkung ausländerrechtlicher Entscheidungen habe das LSG selbst die ausländerrechtliche Würdigung vorgenommen. Für die Zeit bis Juni 1994 sei unerheblich, daß A. … ab Juli 1994 eine Aufenthaltserlaubnis erhalten habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 16. Dezember 1994 und das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 11. Januar 1994 aufzuheben, soweit sie verurteilt wurde, Kindergeld für das Kind A. … für den Zeitraum vom 1. März 1993 bis 30. Juni 1994 zu leisten, und die Klage insoweit abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision der Beklagten ist iS der Zurückverweisung des Rechtsstreits begründet.

Der Anspruch des Klägers auf Kindergeld für A., … als in seinen Haushalt aufgenommenes „Stiefkind” (§ 2 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BKGG idF bis zum 31. Dezember 1993) bzw „Kind seines Ehegatten” (§ 2 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BKGG idF von Art 5 des Gesetzes vom 21. Dezember 1993 – BGBl I 2353), setzt voraus, daß die Ehefrau des Klägers nach § 3 Abs 2 Satz 2 BKGG auf ihren Vorrang verzichtet hat und daß das Kind einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG hat (§ 2 Abs 5 Satz 1 BKGG). Die vom LSG festgestellten Tatsachen ermöglichen keine Entscheidung darüber, ob dies bei A. im streitigen Zeitraum der Fall war.

Zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, daß § 1 Abs 3 BKGG (für die streitige Zeit zunächst idF von Art 9 des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990, BGBl I 1354; mit Wirkung ab 1. Januar 1994 idF von Art 5 des Gesetzes vom 21. Dezember 1993, BGBl I 2353) auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, geht es doch nicht um Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt des kindergeldberechtigten Klägers, sondern um den des Kindes (§ 2 Abs 5 Satz 1 BKGG).

Hierfür ist – wie der Senat bereits für den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nach § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BKGG bzw nach § 1 Abs 2 Nr 1 BKGG für Ausländer ohne formelles ausländerrechtliches auf Dauer wirkendes Bleiberecht entschieden hat – darauf abzustellen, ob im Wege einer Prognoseentscheidung aufgrund der tatsächlichen Verwaltungsgepflogenheiten der zuständigen Behörden davon ausgegangen werden kann, der Ausländer werde auf unbestimmte Zeit in Deutschland verbleiben. Es besteht kein Anlaß, diese für Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt des Kindergeldberechtigten begründete Rechtsprechung nicht auch auf Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt des zu berücksichtigenden Kindes anzuwenden. An dieser Rechtsprechung hält der Senat für das Kindergeldrecht, für das er allein zuständig ist, auch unter Berücksichtigung der hiermit möglicherweise nicht voll und ganz übereinstimmenden Rechtsprechung anderer Senate zu anderen Rechtsgebieten fest. In der Rechtsprechung des BSG ist anerkannt, daß in den einzelnen Rechtsgebieten des Sozialgesetzbuches unterschiedliche konkrete normative Bedeutungen der Begriffe des Wohnsitzes und des gewöhnlichen Aufenthaltes iS des § 30 Abs 3 SGB I gelten können (vgl insoweit bereits das Urteil des Senats zum gewöhnlichen Aufenthalt später als asylberechtigt anerkannter Asylbewerber vom 15. Dezember 1992, BSGE 72, 8, 9 f, 13 = SozR 3-5870 § 1 Nr 2 mwN).

Für diese Prognoseentscheidung ist unerheblich, wie die Kindergeldbehörde oder die über den Kindergeldanspruch entscheidenden Sozialgerichte das Bleiberecht des Ausländers nach den hierfür geltenden Bestimmungen – einschließlich der verfassungsrechtlichen Grundsätze des GG – einschätzen. Denn es kommt insoweit vor allem auf die Handhabung der ausländerrechtlichen Vorschriften durch die zuständigen Behörden an. Im Kindergeldverfahren ist das Ausländerrecht nicht eigenständig anzuwenden; die Prognoseentscheidung beruht vielmehr auf Tatsachenfeststellungen (s hierzu das Urteil des Senats vom 25. Juli 1995 – 10 RKg 13/93, ferner bereits BSG vom 15. Dezember 1992, BSGE 72, 8, 9 f = SozR 3-5870 § 1 Nr 2 sowie BSG vom 12. Februar 1992 – 10 RKg 26/90, DBlR 3903, BKGG/§ 1). Erkenntnisquellen für eine derartige Feststellung sind in erster Linie Auskünfte der zuständigen Ausländerbehörde; dabei kann gegebenenfalls auch berücksichtigt werden, welche Erfolgsaussichten Rechtsbehelfen gegen evtl zu erwartende für das Bleiberecht negative Entscheidungen dieser Behörde zukommen. Ist nur über einen bereits abgeschlossenen Zeitraum zu entscheiden, kann auch die Auswertung der Ausländerakten genügen. Entsprechende Erkenntnisse hat das LSG seiner Entscheidung jedoch nicht zugrunde gelegt.

Eine positive Prognose im oben angegebenen Sinn ergibt sich auch nicht unmittelbar und eindeutig allein aufgrund ausländerrechtlicher Vorschriften. Zwar war der Ehefrau des Klägers als dem ausländischen Ehegatten eines Deutschen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Bundesgebiet eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzugs zu erteilen (§ 23 Abs 1 Nr 1 iVm § 17 Abs 1 Ausländergesetz ≪AuslG≫); ihre Tochter A., … die Stieftochter des Klägers, wiederum hatte – wenn auch erst nach Erteilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis für die Mutter – einen entsprechenden Anspruch nach § 20 Abs 2 AuslG (lediges, unter 16 Jahre altes Kind eines Ausländers, der im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist, wenn der „andere Ehegatte” – gemeint: Elternteil, s Kanein/Renner, Ausländerrecht, 6. Aufl 1993, § 20 AuslG RdNr 7 – verstorben ist).

Verfahrensrechtlich stand der Durchsetzung eines entsprechenden Aufenthaltsrechts in Deutschland jedoch § 8 Abs 1 Nr 1 AuslG entgegen; hiernach ist eine Aufenthaltsgenehmigung, also auch eine Aufenthaltserlaubnis: § 5 AuslG, (gerade) auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines entsprechenden Anspruchs zu versagen, wenn der Ausländer ohne erforderliches Visum eingereist ist; für pakistanische Staatsangehörige aber besteht Visumspflicht. Hierin kommt eines der Grundprinzipien des im Jahre 1990 neu geregelten Ausländerrechts zum Ausdruck: Eine Zuzugsentscheidung soll vor der Ausreise eingeholt werden (Kanein/Renner, Ausländerrecht, 6. Aufl 1993, § 8 AuslG RdNr 4). Die – im Ermessen der Ausländerbehörde stehende – Ausnahmeregelung des § 9 Abs 1 Nr 1 AuslG griff im vorliegenden Fall nicht ein; sie setzt nicht nur voraus, daß die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung nach dem AuslG offensichtlich erfüllt sind, sondern auch, daß der Ausländer nur wegen des Zwecks oder der Dauer des beabsichtigten Aufenthalts visumspflichtig ist; dies ist jedoch bei Pakistanern, wie aufgezeigt, nicht der Fall. Ebensowenig greifen die weiteren Ausnahmen nach § 9 Abs 2 Nrn 1 bis 4 der Verordnung zur Durchführung des AuslG (DVAuslG) ein; sie setzen entweder eine Eheschließung im Bundesgebiet erst nach der Einreise (Nr 1) voraus, eine erlaubte Einreise (Nrn 2 und 3) oder eine Staatsangehörigkeit, bei der keine Visumspflicht besteht (Nr 4). Eine erlaubte Einreise ist auch Voraussetzung für den weiteren Ausnahmetatbestand nach § 9 Abs 5 Nr 2 DVAuslG. Dies bedeutet aber nichts anderes, als daß nach geltendem Ausländerrecht der in der Tat bestehende – und über Art 6 Abs 1 GG verfassungsrechtlich abgesicherte – Anspruch der Ehefrau des Klägers und seines Stiefkindes auf dauernden Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland nur auf folgendem Wege hätte durchgesetzt werden können: Ausreise, Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis im Ausland, Wiedereinreise. Eine gefestigte Rechtsprechung darüber, daß diesem Verfahren der grundgesetzliche Schutz der Familie (Art 6 Abs 1 GG) entgegensteht, ist nicht ersichtlich. Im Gegenteil hat das Oberverwaltungsgericht (OVG) Hamburg entschieden, daß die Eheschließung mit einem deutschen Staatsangehörigen kein rechtliches Hindernis für die Abschiebung eines Ausländers darstelle; diesem sei in der Regel zuzumuten, die Bescheidung seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Ausland abzuwarten (OVG Hamburg vom 23. August 1991 – OVG Bs V 100/91). Rechtsprechung zu der bei der Familie des Klägers vorliegenden Fallkonstellation ist nicht ersichtlich.

Auch aus dem vom LSG zitierten Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (≪BVerfG≫ vom 10. August 1994 – 2 BvR 1542/94, NJW 1994, 3155 = DVBl 1994, 1406) ergibt sich nichts anderes. Hierin wird zwar betont, daß die in Art 6 Abs 1 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach der der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde verpflichtet, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiäre Bindung des den Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, bei ihrer Ermessensausübung pflichtgemäß zu berücksichtigen. Wie oben dargestellt, stand nach dem Ausländerrecht der Ausländerbehörde jedoch im vorliegenden Fall ein Ermessensspielraum nicht zu; der vom BVerfG entschiedene Fall betraf zudem das nachträgliche Entstehen einer von Art 6 Abs 1 GG geschützten Lebensgemeinschaft von Unverheirateten während des illegalen Aufenthaltes im Bundesgebiet, eine Fallgestaltung, die bereits nach § 9 Abs 2 Nr 1 DVAuslG dem Ausländer ermöglicht, eine Aufenthaltserlaubnis erst nach der Einreise einzuholen, wenn die Lebensgemeinschaft durch Eheschließung begründet wird. Das Verfahren über den Anspruch auf Kindergeld ist aber in keiner Weise dazu geeignet, im Wege der Prognoseentscheidung über den gewöhnlichen Aufenthalt eines ausländischen Kindes in der Bundesrepublik Deutschland (§ 2 Abs 5 BKGG) grundsätzliche Entscheidungen darüber zu treffen, inwieweit in entsprechenden Konfliktfällen die zwingenden Regelungen des AuslG gegen Art 6 GG verstoßen.

Das LSG wird die noch fehlenden Feststellungen nachzuholen haben. Hierbei wird es zu beachten haben, daß (wie bereits im Urteil vom 15. Dezember 1992, BSGE 72, 8, 10 = SozR 3-5870 § 1 Nr 2 dargelegt) spätere Entwicklungen auf die Richtigkeit der Prognose zu einem bestimmten, früheren Zeitpunkt keinen Einfluß haben. Es ist vielmehr zu prüfen, ab wann – innerhalb des streitigen Zeitraums -nach den obigen Maßstäben davon auszugehen war, daß A. … nicht nur vorübergehend, sondern auf Dauer im Bundesgebiet bleiben wird. Hierfür mag es sich empfehlen, die vom LSG bisher noch nicht ausgewerteten Ausländerakten beizuziehen oder eine Auskunft der zuständigen Ausländerbehörde einzuholen. Dann könnte geklärt werden, wann diese erstmals von der Einreise und dem Bleibewunsch der Ehefrau des Klägers und dessen Stieftochter erfahren hat, ob und nach welchen Vorschriften jemals eine Abschiebung erwogen wurde, warum und nach welchen Vorschriften zunächst Duldungen ausgesprochen wurden und ab wann schließlich abzusehen war, daß A. … in Deutschland würde bleiben können, ohne zunächst noch einmal auszureisen.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1172715

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