Entscheidungsstichwort (Thema)

Geschiedenenwitwenrente. Unterhaltsgewährung aus sonstigem Grund

 

Orientierungssatz

Zu den nichttypischen privaten Willenserklärungen gehören auch - ungeachtet der rechtlichen Doppelnatur des Prozeßvergleichs - die sachlich-rechtlichen Inhalte einer gerichtlichen Vereinbarung.

Die Überprüfung der Auslegung nichttypischer Verträge durch das Revisionsgericht an Hand der gesetzlichen Auslegungsregeln der BGB §§ 133, 157 ist daher zulässig (vgl BSG vom 1979-03-01 6 RKa 3/78 = SozR 2200 § 368a Nr 5).

 

Normenkette

AVG § 42 S. 1 Alt. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1265 S. 1 Alt. 2 Fassung: 1957-02-23; BGB § 133 Fassung: 1896-08-18, § 157 Fassung: 1896-08-18

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 19.07.1978; Aktenzeichen III ANBf 6/78)

SG Hamburg (Entscheidung vom 18.11.1977; Aktenzeichen 10 An 50/75)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 19. Juli 1978 aufgehoben. Die Berufungen der Beklagten und der Beigeladenen gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 18. November 1977 werden zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu erstatten. Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf eine sogenannte Geschiedenen-Witwenrente.

Die Klägerin ist die frühere, seit 1962 aus beiderseitigem Verschulden geschiedene Ehefrau des im Juli 1974 verstorbenen Steuerbevollmächtigten L M (M). Er war mit der Beigeladenen wiederverheiratet.

Im Zuge der Scheidung hatten die Klägerin und M am 22. März 1962 zur Niederschrift des Landgerichts (LG) Hamburg einen Vergleich geschlossen, in dessen Nr 1 es heißt:

Der Beklagte zahlt ab Rechtskraft der Ehescheidung an die Klägerin eine monatlich im voraus zu entrichtende Unterhaltsrente von 150,- DM unter Verzicht auf die Rechte aus § 323 der Zivilprozeßordnung für den Fall einer Wiederheirat.

Sobald sein Arbeitseinkommen wegfällt und seine Einkünfte sich im wesentlichen auf das Altersruhegeld aus der Angestelltenversicherung und evtl. ein Ruhegeld seines gegenwärtigen Arbeitgebers beschränken, ermäßigt sich die monatlich zu zahlende Unterhaltsrente auf 75,- DM.

Die Klägerin ist nicht verpflichtet, sich eigenes Einkommen auf die von dem Beklagten zu zahlende Unterhaltsrente anrechnen zu lassen ....

M, seit 1961 neben Einkünften ua aus selbständiger Tätigkeit Bezieher von Altersruhegeld, zahlte an die Klägerin zunächst 150,- DM monatlich und ab November 1965 75,- DM monatlich.

Die Beklagte bewilligte der Beigeladenen Witwenrente nach Lothar M (Bescheid vom 2. Oktober 1974), lehnte es aber mit dem streitigen weiteren Bescheid vom 13. Dezember 1974 ab, auch der Klägerin auf deren Antrag vom 4. Oktober 1974 Hinterbliebenrente zu gewähren: Die Voraussetzungen des § 42 Satz 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) lägen nicht vor.

Mit der hiergegen erhobenen Klage hatte die Klägerin zwar vor dem Sozialgericht (SG), nicht aber vor dem Landessozialgericht (LSG) Erfolg. In dem angefochtenen Urteil vom 19. Juli 1978 hat das Berufungsgericht das zusprechende Ersturteil vom 18. November 1977 aufgehoben und die Klage abgewiesen. In der Begründung heißt es, M sei der Klägerin weder nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) zum Unterhalt verpflichtet gewesen noch habe er im Jahr vor seinem Tode Unterhalt in Höhe von 25 vH des Mindestbedarfs tatsächlich gezahlt (§ 42 Satz 1 Regelung 1 und 3 AVG). Auch könne der gerichtliche Unterhaltsvergleich vom 22. März 1962 nicht "sonstiger Grund" (Regelung 2 aaO) einer Unterhaltsverpflichtung sein. M habe nämlich nicht 150,- DM, sondern nur 75,- DM an die Klägerin zu zahlen gehabt, weil der Vergleich unter "Arbeitseinkommen" nur Entgelt aus abhängiger Beschäftigung verstehe.

Gegen dieses Urteil richtet sich die - vom LSG zugelassene - Revision der Klägerin. Sie bringt vor, ihr früherer Ehemann habe ihr nach dem Prozeßvergleich 150,- DM monatlich zahlen müssen; die gegenteilige Auslegung des LSG sei gekünstelt und ungerechtfertigt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 19. Juli 1978 aufzuheben und die Berufungen der Beklagten und der Beigeladenen gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 18. November 1977 zurückzuweisen.

Die Beklagte hat davon abgesehen, Anträge zu stellen und zur Sache Stellung zu nehmen.

Die Beigeladene beantragt,

die Revision der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen und dieser auch die der Beigeladenen im Revisionsverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen.

Sie hält das angefochtene Urteil im vollen Umfang für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist begründet.

Es kann dahinstehen, ob die Klägerin nach § 42 Satz 1 Regelung 1 und 3 AVG gegen die Beklagte Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach ihrem geschiedenen verstorbenen Ehemann Lothar M hat. Sie hat einen solchen Anspruch jedenfalls nach der Regelung 2 aaO.

Danach wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe vor dem 1. Juli 1977 geschieden ist, nach dessen Tod Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt aus einem sonstigen, dh aus von einer Verpflichtung nach dem EheG (Regelung 1) losgelöstem Grund (vgl BSGE 42, 60, 61 = SozR 2200 § 1265 Nr 17; der erkennende Senat in SozR 2200 § 1265 Nr 34) zu leisten hatte. Ein gerichtlicher Unterhaltsvergleich ist ein solcher Grund, es sei denn, der Versicherte hätte zur Zeit seines Todes die Wirkungen dieses vollstreckbaren Titels (§ 794 Abs 1 Nr 1 der Zivilprozeßordnung - ZPO -) nach den Grundsätzen der §§ 323, 767 ZPO beseitigen können (vgl BSGE 20, 1, 5; BSG SozR 2200 § 1265 Nr 28). Bei dem zwischen der Klägerin und ihrem geschiedenen Mann am 22. März 1962 abgeschlossenen gerichtlichen Unterhaltsvergleich ist dies schon deswegen nicht der Fall, weil dort ausdrücklich auf die Rechte aus § 323 ZPO selbst für den Fall der Wiederheirat wirksam verzichtet (vgl dazu Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 37. Aufl, § 323 Anm 5 A) und die Anrechnung eigenen Einkommens der Klägerin ausgeschlossen worden ist.

Auch nach der zweiten Regelung aaO kommt es darauf an, daß der Versicherte der geschiedenen Frau aus dem sonstigen Grund "zur Zeit seines Todes", dh während des dem Tod vorausliegenden letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes Unterhalt zu leisten hatte (vgl zB BSGE 35, 243, 244; BSG SozR 2200 § 1265 Nr 35). Da entscheidende Veränderungen der wirtschaftlichen Lage M's vor seinem Tode nicht festgestellt sind, kann unbedenklich auf die wirtschaftliche Lage während der Monate vor seinem Tode abgestellt werden. In dieser Zeit hatte die Klägerin gegen M auf Grund des gerichtlichen Vergleichs Ansprüche auf Unterhalt von mehr als 25 vH des - nach den Grundsätzen der Sozialhilfe zu bemessenden - Mindestbedarfs (in Hamburg im Jahre 1974 243,- DM monatlich zuzüglich des Unterkunftsbedarfs; vgl zB BSGE 40, 79, 81 = SozR 2200 § 1265 Nr 5; BSGE 43, 221, 222 = SozR 2200 § 1265 Nr 24, jeweils mit weiteren Nachweisen). Dies ergeben die folgenden Überlegungen

Nach Nr 1 Abs 1 des gerichtlichen Vergleichs vom 22. März 1962 hatte M der Klägerin ab Rechtskraft der Ehescheidung eine monatlich im voraus zu entrichtende Unterhaltsrente von 150,- DM zu zahlen. Allerdings bestimmte Abs 2 aaO zugunsten M's, daß sich die Unterhaltsrente auf monatlich 75,- DM ermäßigte, "sobald sein Arbeitseinkommen wegfällt und seine Einkünfte sich im wesentlichen auf das Altersruhegeld aus der Angestelltenversicherung und evtl. ein Ruhegeld seines gegenwärtigen Arbeitgebers beschränken". Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts bezog M in den Monaten vor seinem Tod neben Altersruhegeld und Betriebsrente von zusammen 1.217,20 DM monatlich und Kapitalerträgen von rd 200,- DM monatlich auch noch Einkünfte aus einer selbständigen Tätigkeit als Steuerbevollmächtigter von rd 634,- DM netto monatlich.

Entgegen der Ansicht des LSG war der zuletzt genannte Fall - Beschränkung M's im wesentlichen auf Altersruhegelder - während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor seinem Tode nicht gegeben. Das LSG hat diese Regelung unzutreffend dahin ausgelegt, daß unter "Arbeitseinkommen" nur das Einkommen aus unselbständiger Arbeit zu verstehen sei; da M zur Zeit seines Todes keine unselbständige Arbeit mehr ausgeübt habe, sei das Arbeitseinkommen entfallen gewesen mit der Folge, daß die an die Klägerin zu erbringende Unterhaltsrente sich auf 75,- DM ermäßigt habe.

Bei dieser einengenden Auslegung des Begriffs Arbeitseinkommen hat das LSG die gesetzlichen Auslegungsregeln der §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) verletzt, die bei der Auslegung nichttypischer privater Willenserklärungen anzuwenden sind, zu welchen auch - ungeachtet der rechtlichen Doppelnatur des Prozeßvergleichs - der sachlich-rechtliche Inhalt einer gerichtlichen Vereinbarung gehört. Die Überprüfung der Auslegung nichttypischer Verträge durch das Revisionsgericht an Hand der gesetzlichen Auslegungsregeln ist daher zulässig (vgl Grunsky in Stein/Jonas, ZPO, § 549 Anm III 4c; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 12. Aufl, 821 mit Rechtsprechungshinweisen; vgl auch Urteil des BSG vom 1. März 1979 - 6 RKa 3/78). Diese Überprüfung unter Zugrundelegung des Werts des im gerichtlichen Vergleich vom 22. März 1962 objektiv Erklärten ergibt:

Nr 1 Abs 2 aaO erläutert den Wegfall des Arbeitseinkommens als den Zustand, daß sich die Einkünfte M's im wesentlichen auf die Ruhegeldbezüge beschränken. Nach der Bedeutung des von M und der Klägerin objektiv Erklärten umfaßt das Arbeitseinkommen also das Einkommen aus jeder Art von Arbeit. Dies bestätigt ferner der Umstand, daß die genannte Vertragsbestimmung ein Gegensatzpaar bildet: Dem Arbeitseinkommen wird - unterhaltsmindernd - das Einkommen im wesentlichen aus den Erträgnissen früherer Arbeit (Ruhegeldern) entgegengesetzt. Der objektive Erklärungswert der Vertragsbestimmung nötigt mithin auch aus diesem Grunde dazu, unter Arbeitseinkommen jedes Einkommen aus Arbeit zu verstehen.

Schließlich kann unter Beachtung von § 157 BGB nicht einleuchten, daß - wozu die Auffassung des LSG führt - M bei hohem Einkommen aus selbständiger Tätigkeit nur 75,- DM monatlich an die Klägerin zu zahlen gehabt hätte, während er bei selbst nur geringem Einkommen aus unselbständiger Tätigkeit weiterhin 150,- DM hätte zahlen müssen.

Ist hiernach unter Arbeitseinkommen das Einkommen aus jeder Erwerbstätigkeit zu verstehen, so hatte M zur Zeit seines Todes bei den neben den Ruhebezügen durchaus ins Gewicht fallenden Einkünften aus selbständiger Arbeit von 634,- DM netto monatlich weiterhin eine Unterhaltsrente von 150,- DM monatlich an die Klägerin zu zahlen.

Damit aber sind die Anspruchsvoraussetzungen nach § 42 Satz 1 Regelung 2 AVG erfüllt. Sie sind entgegen der Ansicht des LSG nicht erst dann gegeben, wenn der Unterhaltsbetrag 10 vH des Erwerbseinkommens der geschiedenen Frau erreicht. Denn der Mindestbedarf ist nicht vom eigenen Einkommen des Berechtigten abhängig (so der erkennende Senat in SozR 2200 § 1265 Nr 34). Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Berufungen der Beklagten und der Beigeladenen gegen das zutreffende Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten; die Beigeladene hat ihre außergerichtlichen Auslagen selbst zu tragen (§ 193 des Sozialgerichtsgesetzes).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655464

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