Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 18.06.1991)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 18. Juni 1991 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin begehrt die Berücksichtigung einer weiteren Kindererziehungszeit, weil sie ihre Enkelin M. … J. … (M.) erzogen habe.

Die 1924 geborene Klägerin ist die Mutter der Beigeladenen zu 1). Diese brachte am 23. Mai 1971 im Hause ihrer Eltern die Tochter M. zur Welt, deren Vater der Beigeladene zu 2) ist. Während die Beigeladene zu 1) damals noch bei ihren Eltern in M. … wohnte, studierte der Beigeladene zu 2) in K.. Beide waren und sind nicht miteinander verheiratet.

Anfang Juli 1971 nahm die Beigeladene zu 1) eine vorübergehende Beschäftigung als Altenpflegerin auf und zog in das betreffende Heim, während ihre Tochter M. bei der Klägerin blieb. Vom 1. August 1971 bis 31. Januar 1972 war sie als Operationsschwester im Städtischen Krankenhaus M. … angestellt. Während dieser Zeit leistete sie dort auch Bereitschafts- sowie Rufbereitschaftsdienst und hatte ein Zimmer im Schwesternwohnheim. Vom 1. Februar 1972 bis 16. Dezember 1975 war sie – zunächst als Hauswirtschaftsleiterin, später als Leiterin der Abteilung für medizinische Betreuung – im D. -B. … -H. für das behinderte Kind eV, M. …, tätig und wohnte auch selbst in diesem Heim für geistig und mehrfach behinderte Kinder, nach Auskunft dieser Einrichtung anfangs mit ihrer Tochter. Behördlich gemeldet blieb die Beigeladene zu 1) durchgehend bis zum 20. März 1973 bei der Klägerin.

Im Mai 1987 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Feststellung von Zeiten der Kindererziehung. Die Beklagte führte daraufhin eine Kontoklärung durch und erteilte der Klägerin mit Bescheid vom 14. Juli 1987 einen Versicherungsverlauf. Sie erkannte Kindererziehungszeiten für die fünf Kinder der Klägerin an, lehnte jedoch die Berücksichtigung einer Erziehungszeit für ihre Enkelin M. ab,

weil diese nicht Pflegekind der Klägerin gewesen sei. Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 24. Februar 1988) erhob die Klägerin beim Sozialgericht (SG) Lübeck Klage.

Während des erstinstanzlichen Verfahrens bewilligte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 14. November 1989 Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres ab 1. Dezember 1989, ohne eine Erziehungszeit für die Enkelin M. zu berücksichtigen. Diesen Bescheid bezog die Klägerin in ihr Klagebegehren ein, das sich nunmehr auf die Berücksichtigung einer Kindererziehungszeit vom 1. Juni 1971 bis 31. Mai 1972 bei der Berechnung des Altersruhegeldes richtete. Gegen das stattgebende Urteil des SG vom 11. Januar 1990 legte die Beklagte Berufung ein, die zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und Abweisung der Klage führte (Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 18. Juni 1991). Zur Begründung seiner Entscheidung führte das LSG aus:

Das SG habe die angefochtenen Bescheide zu Unrecht geändert und der Klägerin die damit zunächst durch Nichtvormerkung der streitigen Kindererziehungszeiten, später durch Nichtberücksichtigung bei der Bemessung des Altersruhegeldes letztlich vorenthaltene höhere Rentenleistung zugesprochen. Der Altersruhegeldbescheid vom 14. November 1989 sei gemäß § 96 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens geworden, weil er die zuvor angefochtenen Bescheide über die Ausgestaltung der Rentenanwartschaft durch Feststellung der Leistung selbst ersetzt habe. Der Abänderung auch jener – erledigten – Bescheide durch das SG komme so nur noch klarstellende Bedeutung zu.

Die Klage auf höheres Altersruhegeld sei unbegründet. Die Zeit vom 1. Juni 1971 bis 31. Mai 1972 sei hier nicht als Kindererziehungszeit gemäß § 1258 Abs 1, § 1251a der Reichsversicherungsordnung (RVO) rentensteigernd zu berücksichtigen.

Zwar sei die Klägerin selbst nach dem 31. Dezember 1920 geboren, habe die am 23. Mai 1971 geborene Enkelin M. vor dem 1. Januar 1986 in jenen ersten zwölf Kalendermonaten nach Ablauf des Monats der Geburt im Geltungsbereich der RVO weitgehend praktisch erzogen und sich dort mit dem Kind gewöhnlich aufgehalten (§ 1251a Abs 1 Satz 1, Abs 2 RVO). Die Vorschrift begünstige jedoch die Großmutter als solche nicht, sondern nur, wenn sie auch die Pflegemutter ihrer Enkelin war. Dazu fehle die sofortige Aufnahme als Pflegekind (§ 56 Abs 3 Nr 3 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches – Allgemeiner Teil – ≪SGB I≫). Die Enkelin sei ihr nicht von vornherein durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie ein Kind verbunden gewesen (§ 56 Abs 2 Nr 2 SGB I), weil jedenfalls zunächst das natürliche Band zur leiblichen Mutter, der Beigeladenen zu 1), ungelöst geblieben sei.

Auf diese Lösung der natürlichen Beziehung komme es an, weil Mutter und Großmutter, letztere als Pflegemutter, nicht nebeneinander ein zweifaches Band mit dem Kind gleichzeitig unterhalten könnten. Für eine Abwendung der Mutter von dem Kinde ergebe sich im vorliegenden Fall kein hinreichender Anhalt (§ 1251a Abs 3 Satz 1, § 1227a Abs 3 Satz 2 RVO). Die erneute persönliche Anhörung der Beigeladenen zu 1) habe vielmehr ergeben, daß sie sich auf die Geburt ihrer Tochter gefreut gehabt habe und ihr auch nach Wiederaufnahme ihrer räumlich sehr nahen Berufstätigkeit verbunden geblieben sei. So habe sie sich um einen Telefonanschluß für die Eltern bemüht, um während der Rufbereitschaften dort bei ihrem Kind, statt im Schwesternwohnheim verweilen zu können. Noch bei Beginn ihrer Beschäftigung im Kinderheim des D. -B. … -Hauses eV ab Februar 1972 habe die Beigeladene zu 1) – wenngleich vergeblich – versucht, die damals achtmonatige Tochter dorthin zu sich zu nehmen. So wie sich die Lebensverhältnisse nach den Angaben der Beigeladenen zu 1) darstellten, deute dies darauf hin, daß der Klägerin die Mutterrolle erst nach und nach allein zugefallen sei, weil die leibliche Mutter ihre Tochter dort wohl versorgt gewußt habe und das Kind zur Klägerin durch deren fortwährend existenzsichernd erfahrene Zuwendung das engere Verhältnis entwickelt habe. Daraus folge jedoch kein die leibliche Mutter verdrängendes Pflegeeltern-Kind-Verhältnis zwischen der Klägerin und ihrer Enkelin schon für das rentenversicherungsrechtlich maßgebende erste Jahr nach der Geburt.

Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision macht die Klägerin im wesentlichen geltend:

Die Feststellungen des LSG ließen außer Acht, daß die tatsächliche Betreuung und Erziehung des Kindes durch sie, die Klägerin, erfolgt sei, und zwar so überwiegend, daß demgegenüber die innere Bindung, die die Beigeladene zu 1) zu M. noch besessen haben möge, gänzlich in den Hintergrund getreten sei. Diese habe ihre Tochter in den ersten zwölf Monaten ihres Lebens nicht versorgt und betreut, wie ein Mutter-Kind-Verhältnis das gebiete. Dazu sei sie nicht in der Lage gewesen. Das habe sie auch nicht gewollt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 18. Juni 1991 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 14. Juli 1987 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24. Februar 1988 sowie ihres Bescheides vom 14. November 1989 zu verurteilen, bei der Berechnung des der Klägerin gewährten Altersruhegeldes die Zeit vom 1. Juni 1971 bis 31. Mai 1972 als Kindererziehungszeit für die Enkelin M. rentensteigend zu berücksichtigen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beigeladenen haben sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Dieses wird noch weitere Ermittlungen dazu durchzuführen haben, ob und ggf wann zwischen der Klägerin und ihrer Enkelin M. im ersten Jahr nach deren Geburt ein Pflegekind-Verhältnis bestanden hat.

Gegenstand des Rechtsstreits war zunächst nur der Vormerkungsbescheid der Beklagten vom 14. Juli 1987 idF des Widerspruchsbescheides vom 24. Februar 1988. Wie das LSG zutreffend erkannt hat, ist der während des Klageverfahrens erteilte Rentenbescheid vom 14. November 1989 in entsprechender Anwendung des § 96 Abs 1 SGG in den Rechtsstreit einzubeziehen. Vergleicht man die Verfügungssätze beider Verwaltungsakte (einerseits: Vormerkung von Versicherungszeiten, andererseits: Gewährung von Altersruhegeld) handelt es sich zwar um zwei voneinander unabhängige Regelungen; dennoch ist – nicht zuletzt aus Gründen der Prozeßökonomie – eine Anwendung des § 96 Abs 1 SGG geboten, weil sich eine Anerkennung der streitigen Kindererziehungszeit auf die ansonsten unstreitige Höhe des Altersruhegeldes auswirken würde (vgl BSG SozR 1500 § 96 Nrn 13, 18; BSGE 57, 163, 164 = SozR 1500 § 96 Nr 30).

Entgegen der Auffassung des LSG hat sich der Vormerkungsbescheid durch die Gewährung des Altersruhegeldes nicht erledigt. Dies ergibt sich schon aus der unterschiedlichen Bindungswirkung beider Verwaltungsakte. Grundsätzlich wird in einem Leistungsbescheid nicht selbständig über die Berechnungselemente, wie die Anerkennung von Versicherungszeiten, entschieden (vgl dazu BSG SozR 1500 § 77 Nr 56), während den entsprechenden Feststellungen im Vormerkungsbescheid für die Leistungsbewilligung eine bindende Wirkung zukommt (vgl BSGE 57, 163, 164 f = SozR 1500 § 96 Nr 30 mwN). Folglich entfällt für die Klage gegen den Vormerkungsbescheid nicht das Rechtsschutzbedürfnis, wenn im Rentenbescheid die Leistung unter ausdrücklicher Außerachtlassung des im Verfahren geltend gemachten Anspruchs (hier Anerkennung einer Erziehungszeit) berechnet wurde (vgl BSGE 42, 159, 160; BSG, Urteil vom 29. Oktober 1987 – 11a RA 8/86 –). Es war und ist daher über beide Klagebegehren – Vormerkung einer Kindererziehungszeit und Gewährung eines sich daraus ergebenden höheren Altersruhegeldes – zu entscheiden.

Soweit der Rechtsstreit die Höhe des Altersruhegeldes betrifft, sind gemäß § 300 Abs 2 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) noch die durch Art 6 Nr 24 des Rentenreformgesetzes 1992 (RRG 1992) gestrichenen Vorschriften des Vierten Buches der RVO anwendbar, da der Rentenantrag vor dem Stichtag (1. April 1992) gestellt worden ist. Zwar sind – wie der 4. Senat des BSG kürzlich entschieden hat (Urteile vom 25. Februar 1992 – 4 RA 34/91 – und vom 31. März 1992 – 4 RA 3/91 –, beide zur Veröffentlichung vorgesehen) – Verfahren zur Vormerkung/Anerkennung versicherungsrechtlich erheblicher Tatbestände, die vor dem 1. Januar 1992 noch nicht bindend abgeschlossen wurden, grundsätzlich nach dem SGB VI fortzuführen (vgl § 300 Abs 1 SGB VI). Hier ist es jedoch – gerade auch wegen der dargestellten Auswirkung der Feststellungen des Vormerkungsbescheides auf die Leistungshöhe – gerechtfertigt, auf den Vormerkungsstreit in entsprechender Anwendung des § 300 Abs 2 SGB VI noch das alte Recht anzuwenden. Denn es wird nicht über die Vormerkung von Versicherungszeiten für einen erst in der Zukunft liegenden Leistungsfall gestritten, sondern gleichzeitig ein schon vor dem 1. Januar 1992 entstandener Rentenanspruch geltend gemacht. Im übrigen kann, da es sich dabei um Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres handelt, in der Person der Klägerin auch kein weiterer Versicherungsfall mehr eintreten.

Für beide anhängige Klagebegehren kommt es darauf an, ob die Klägerin die Voraussetzungen des § 1251a RVO erfüllt. Eine Änderung des Vormerkungsbescheides kann die Klägerin nur verlangen, wenn die geltend gemachte Kindererziehungszeit im Versicherungsverlauf hätte aufgeführt werden müssen (vgl § 1325 Abs 2 RVO). Dies richtet sich nach § 1251a RVO iVm §§ 1249, 1250 Abs 1 Buchst c RVO. Der Altersruhegeldbescheid ist unrichtig, wenn bei der Berechnung dieser Leistung die streitige Zeit gemäß §§ 1254, 1258 RVO iVm §§ 1249, 1250 Abs 1 Buchst c, § 1251a RVO fälschlicherweise nicht als anrechnungsfähige Versicherungszeit berücksichtigt worden ist. Nach § 1251a Abs 1 Satz 1 RVO werden für die Erfüllung der Wartezeit Müttern und Vätern, die nach dem 31. Dezember 1920 geboren sind, Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 in den ersten zwölf Kalendermonaten nach Ablauf des Monats der Geburt des Kindes angerechnet, wenn sie ihr Kind im Geltungsbereich dieses Gesetzes erzogen und sich mit ihm dort gewöhnlich aufgehalten haben.

Die Klägerin ist nach dem 31. Dezember 1920 geboren und macht eine vor dem 1. Januar 1986 liegende Zeit der Kindererziehung geltend. Schwierigkeiten bereitet jedoch die Frage, ob sie iS des § 1251a Abs 1 Satz 1 RVO als „Mutter” angesehen werden kann. Da sie nicht die leibliche Mutter, sondern die Großmutter des Kindes M. ist, muß zur weiteren Prüfung der gemäß § 1251a Abs 3 Satz 1 RVO entsprechend anwendbare § 1227a Abs 3 Satz 1 RVO herangezogen werden. Danach sind Mütter und Väter iS des Abs 1 auch Stiefmütter, Stiefväter, Pflegemütter und Pflegeväter (§ 56 Abs 3 Nrn 2 und 3 SGB I). Großmütter sind somit zwar als solche nicht begünstigt, sie können es jedoch als Pflegemütter sein. Nach § 56 Abs 3 Nr 3 SGB I, auf den § 1227a Abs 3 RVO zur Begriffsbestimmung verweist, sind Pflegeeltern Personen, die jemanden als Pflegekind aufgenommen haben. Das Pflegekind muß mit ihnen – wie sich aus § 56 Abs 2 Nr 2 SGB I ergibt – durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie ein Kind mit Eltern verbunden sein. Zerlegt man diese Umschreibung zum Zwecke der Prüfung in ihre Bestandteile, so hat die Klägerin als Pflegemutter folgende Merkmale zu erfüllen: Es muß zwischen ihr und dem Kind M. während der geltend gemachten Kindererziehungszeit ein Pflegeverhältnis bestanden haben, das auf Dauer angelegt und mit häuslicher Gemeinschaft verbunden war. Außerdem muß zwischen beiden eine Verbindung ähnlich der zwischen leiblicher Mutter und Kind vorhanden gewesen sein.

Auch wenn man es für die Bejahung eines Pflegeverhältnisses zunächst ausreichen läßt, daß die Klägerin ihre Enkelin M. in der fraglichen Zeit tatsächlich betreut hat, bestehen jedenfalls Bedenken hinsichtlich des Monats Juni 1971. Bis Anfang Juli 1971 war die Beigeladene zu 1) nämlich noch im Rahmen der Mutterschutzzeit zu Hause bei ihrer Tochter. Es liegt daher nahe, daß sie diese damals noch nicht von ihrer Mutter, der Klägerin, hat versorgen lassen, sondern sich selbst um ihr Neugeborenes gekümmert hat. Sollte es letztlich auf diesen Punkt ankommen, müßte das LSG noch weitere Ermittlungen in dieser Hinsicht anstellen. Jedenfalls wäre es rechtlich möglich, daß nach einem gewissen – nach Monaten bemessenen – Zeitraum ein Wechsel des gemäß § 1251a RVO Begünstigten eingetreten ist (vgl dazu allgemein Finke, Erziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung – HEZG –, 1985, S 35 ff).

Das Pflegeverhältnis ist iS des § 56 Abs 2 Nr 2 SGB I „auf längere Dauer” angelegt, wenn es für einen Zeitraum begründet wird, der für die körperliche und geistige Entwicklung des Pflegekindes erheblich ist. Bei der Begründung eines derartigen Verhältnisses im Säuglingsalter ist dafür ein Zeitraum von etwa drei Jahren ausreichend, weil sich ein Kind während dieser Zeit typischerweise soweit entwickelt, daß es aus der ständigen häuslichen Betreuung entlassen werden und zB in den Kindergarten gehen kann (vgl BSG, Urteil vom 23. April 1992 – 5 RJ 70/90 –, Umdruck S 7, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; ähnlich auch Hauck/Haines, § 56 SGB I RdNr 8; Peters, SGB – Allgemeiner Teil, § 56 Anm 14). Ist das Pflegeverhältnis von vornherein so geplant, daß es nur einen kürzeren Zeitraum dauern (vgl LSG Niedersachsen, Urteil vom 19. Dezember 1991 – L 10 J 297/90 –) oder jederzeit aufgrund neuer Umstände beendet werden soll (vgl Bayerisches LSG, Urteil vom 26. September 1989 – L 14 Ar 504/88 –), so wird man die erforderliche Dauerbindung verneinen müssen. Dabei ist allerdings keine vertragsähnliche Festlegung dahin notwendig, daß die „Pflegekindschaft” überhaupt nicht geändert werden dürfe (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S 692x unter Hinweis auf BSGE 13, 265, 267). Bei Säuglingen, die von dem sorgeberechtigten Elternteil wegen einer beruflichen Tätigkeit in ständige häusliche Pflege zu einer Pflegeperson gegeben werden, kann deshalb regelmäßig von einer voraussichtlichen Pflegedauer von drei Jahren ausgegangen werden, weil sie von dem betreffenden Elternteil – dessen unveränderte berufliche Belastung vorausgesetzt – frühestens dann wegen der inzwischen geänderten Anforderungen an Pflege- und Betreuungsleistungen (Möglichkeit des Besuchs eines Kindergartens) in den eigenen Haushalt zurückgenommen werden können (vgl BSG, Urteil vom 23. April 1992 aaO, Umdruck S 8).

Ob das Verhältnis zwischen der Klägerin und ihrer Enkelin M. in der fraglichen Zeit diesen Anforderungen an die „Daueranlage” der Pflege genügt hat, läßt sich dem angegriffenen Urteil nicht eindeutig entnehmen, weil das LSG insoweit keine gezielten Feststellungen getroffen hat. Immerhin ergeben sich aus dem Umstand Zweifel, daß die Beigeladene zu 1) im Februar 1972 versucht hat, ihre damals achtmonatige Tochter mit sich in das D. -B. … -H. zu nehmen. Diese Vorgehensweise könnte ein Indiz dafür sein, daß die Beigeladene zu 1) ihre Tochter von vornherein nur für eine Übergangszeit – sozusagen „auf Abruf” -bei ihrer Mutter, der Klägerin, belassen hatte und beabsichtigte, sobald wie möglich die Betreuung wieder selbst zu übernehmen. Andererseits ist auch nicht auszuschließen, daß es sich um einen „spontanen” Versuch handelte, der sich erst aus den nicht vorhersehbaren Bedingungen der neuen Tätigkeit der Beigeladenen zu 1) im D. -B. … -Haus ergab. Dann würde dieser Vorgang der Annahme eines auf Dauer angelegten Pflegeverhältnisses zwischen der Klägerin und ihrer Enkelin für die Zeit bis Januar/Februar 1972 nicht unbedingt entgegenstehen. Allerdings könnte der Versuch der Beigeladenen zu 1), ihre Tochter wieder zu sich zu nehmen, zu einem – gegebenenfalls nur vorübergehenden – Wechsel des Berechtigten iS des § 1251a RVO geführt haben, wenn das Pflegeverhältnis damals – jedenfalls zunächst – nicht mehr fortgesetzt werden sollte. Die Rückkehr der Enkelin zur Klägerin hätte dann allenfalls ein neues Pflegeverhältnis begründen können. Jedenfalls läßt sich diese Frage ohne weitere tatsächliche Feststellungen – insbesondere zum jeweiligen Willen der Beteiligten (vgl dazu Kaltenbach/Maier in Koch/Hartmann, § 2a des Angestelltenversicherungsgesetzes ≪AVG≫ Anm B 1.1.4.; Verbandskommentar, § 1227a RVO RdNr 21) – nicht zuverlässig beantworten, so daß auch insofern eine Zurückverweisung der Sache an das LSG erforderlich ist, da der erkennende Senat die fehlenden Tatsachenfeststellungen nicht selbst nachholen kann (vgl § 163 SGG).

Die Begründung einer häuslichen Gemeinschaft zwischen der Klägerin und ihrer Enkelin kann bejaht werden. Die Enkelin befand sich nicht nur für einen Teil des Tages oder der Woche, sondern – bis auf die Unterbrechung im Februar 1972 – durchgängig im Haushalt der Klägerin (vgl dazu Kaltenbach/Maier, aaO; Verbandskommentar aaO; allgemein auch BSG Nr 30 zu § 1262 RVO).

Schließlich muß die Klägerin mit ihrer Enkelin damals bereits wie eine Mutter mit ihrem Kind verbunden gewesen sein. Denn das Pflegekind-Verhältnis stellt eine familienähnliche, ideelle Dauerbindung dar (vgl BSGE 19, 106, 107). In Fortführung der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu anderen Vorschriften (vgl zB BSGE 12, 35, 37 f; 19, 106, 107; 25, 109, 111; 30, 28, 29 f) ist der 5. Senat des BSG auch im Rahmen des § 56 SGB I davon ausgegangen, daß eine Großmutter die für ein Pflegeverhältnis notwendige Verbindung zu ihrem Enkelkind nicht bei gleichzeitigem Fortbestehen des natürlichen Bandes zwischen leiblicher Mutter und Kind unterhalten kann; die Beziehungen des Kindes zur Mutter müssen also gelöst sein (vgl BSGE 67, 211 = SozR 3-1200 § 56 Nr 1; BSG SozR 3-1200 § 56 Nr 2; Urteil vom 29. November 1990 – 5 RJ 35/90 –; BSG SozR 3-1200 § 56 Nr 3). Dieser Auffassung hat sich der erkennende Senat bereits angeschlossen (Senatsurteil vom 29. Oktober 1991 – 13/5 RJ 22/89). In zwei neueren Entscheidungen (Urteile vom 22. April 1992 – 5 RJ 20/91 – und vom 23. April 1992 – 5 RJ 70/90 –, letzteres zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen) hat der 5. Senat das Erfordernis der Lösung des familiären Bandes zwischen den leiblichen Eltern und dem Kind näher konkretisiert: Insoweit ist von entscheidender Bedeutung, daß ein familiäres Band zwischen Mutter bzw Vater und Kind neben dem Wunsch der Mutter bzw des Vaters, den Kontakt zu dem eigenen Kind nicht zu lösen, auch voraussetzt, daß die Mutter bzw der Vater eine Eltern-Kind-Beziehung zu dem Kind tatsächlich aufbauen kann. Solange die Mutter bzw der Vater und das Kind in häuslicher Gemeinschaft leben, ist dies in der Regel der Fall, auch wenn zB wegen deren Abwesenheit tagsüber oder sogar während der Woche die Betreuung und Versorgung des Säuglings oder Kleinkindes von einer anderen Person, die auch im Haushalt lebt, wahrgenommen wird. Anders ist dies jedoch, wenn das Kind allein mit den Pflegeeltern in häuslicher Gemeinschaft lebt und die leiblichen Eltern das Kind nur gelegentlich bei Besuchen sehen. Hier wird das eigene Kind von seinen leiblichen Eltern schon nach dem äußeren Erscheinungsbild nur „besucht”, dh, es besteht der Kontakt zu diesem Kind eher wie zu einem fremden Kind. Auch der Bundesfinanzhof (BFH) geht davon aus, daß ein Obhuts- und Pflegeverhältnis iS von § 32 des Einkommenssteuergesetzes jedenfalls bei Kleinkindern durch gelegentliche Kontakte zwischen Eltern und Kind nicht begründet wird. Bei einem Kleinkind bedarf es vielmehr nach seiner Ansicht häufiger Kontakte, damit eine Eltern-Kind-Beziehung entstehen kann (vgl BFH, Urteil vom 12. Juni 1991 – III R 108/89 = BFHE 165, 201). Eine rein emotionale Bindung an das Kind reicht dazu nicht und steht deshalb der Begründung eines Pflegeverhältnisses zur Großmutter nicht entgegen.

Diese differenzierte Betrachtungsweise leuchtet ein, weil sie versucht, die Merkmale herauszuarbeiten, die gerade in dem hier entscheidungserheblichen Säuglingsalter des Kindes für das Bestehen einer Eltern-Kind-Beziehung wesentlich sind, und dabei zugleich den vielgestaltigen Möglichkeiten der Lebensumstände Rechnung zu tragen. Namentlich wenn die Großmutter des Kindes dessen Pflege übernommen hat, stehen Besuche der Kindesmutter in ihrem Elternhaus der Bejahung eines Pflegeverhältnisses nicht ohne weiteres entgegen, weil diese Kontakte seitens der Kindesmutter bei natürlicher Betrachtungsweise nicht nur dem Kind, sondern auch ihren Eltern gelten. Es läßt sich daher nicht umgehen, genauer zu prüfen, ob die Aufenthalte der leiblichen Mutter in der elterlichen Wohnung geeignet waren, eine Mutter-Kind-Beziehung aufrechtzuerhalten und damit die Entstehung eines Pflegeverhältnisses zwischen Großmutter und Enkel zu verhindern. Insofern kommt es nicht nur auf die Häufigkeit und Dauer dieser Aufenthalte, sondern auch darauf an, ob sich die leibliche Mutter dabei ihrem Kind so intensiv zugewandt hat, daß sie diesen wesentliche „muttertypische” erzieherische und betreuerische Impulse geben konnte (vgl dazu BSG SozR Nr 30 zu § 1262 RVO). Letzteres wird man allerdings im Normalfall annehmen können, wenn die zur Verfügung stehende Zeit dafür ausreichte.

Auch eine weitere Überlegung spricht für diesen gedanklichen Ansatz: § 1251a Abs 1 Satz 1 RVO verlangt, daß die Person, die eine Anerkennung von Kindererziehungszeiten geltend macht, das Kind während seines ersten Lebensjahres „erzogen” hat. Um zu vermeiden, daß weder die leibliche Mutter – mangels Erziehung – noch die Großmutter – mangels Lösung des Bandes zwischen Kind und Mutter – Zeiten der Kindererziehung angerechnet bekommen, ist darauf abzustellen, ob zwischen der Mutter und ihrem Kind (noch) ein „Obhuts- und Pflegeverhältnis” (vgl BSG SozR 3-1200 § 56 Nr 3) bestanden hat, welches das Tatbestandsmerkmal „erziehen” in § 1251a Abs 1 Satz 1 RVO erfüllt. In Fällen, in denen keine häusliche Gemeinschaft zwischen Mutter und Kind besteht, kann eine „Erziehung” nur bejaht werden, wenn die Mutter durch konkrete Erziehungsmaßnahmen (einschließlich Einwirkung auf etwaige Betreuungspersonen) auf die Entwicklung des Kindes Einfluß genommen hat (vgl Finke, aaO, S 24; Kaltenbach/Maier aaO Anm B.1.3.; weitergehend Fichte, SGb 1987, 183, 185, der „Erziehung” bei Fehlen einer häuslichen Gemeinschaft verneint; allgemein zum Begriff der Erziehung auch BSGE 32, 117, 118; BSG SozR Nr 18 zu § 1268 RVO; BSG SozR 2200 § 1265 Nr 32; BSG, Urteil vom 21. Februar 1980 – 5 RJ 58/78 –; BSG SozR 2200 § 1265 Nr 69).

Anhand der Feststellungen des LSG läßt sich noch nicht abschließend beurteilen, ob das Kind M. in der Zeit vom 1. Juni 1971 bis 31. Mai 1972 tatsächlich (schon) derart aus der Obhut und Fürsorge der Beigeladenen zu 1) ausgeschieden war (vgl Brackmann, aaO, S 692 w), daß zwischen ihm und der Klägerin eine dem Mutter-Kind-Verhältnis ähnliche Verbindung entstehen konnte. Das Berufungsgericht hat nämlich nur allgemein auf das Bestehen einer „natürlichen Beziehung” zwischen der Beigeladenen zu 1) und ihrer Tochter abgestellt, ohne das Aufsichts- und Betreuungsverhalten der Beigeladenen zu 1) gegenüber dem Kind näher zu untersuchen. Ein bloße emotionale Verbundenheit reicht nicht aus, wenn keine hinreichenden „erzieherischen” Maßnahmen damit einhergingen. Zwar deuten die vom LSG festgestellten Umstände (Bemühung der Beigeladenen zu 1) um einen Telefonanschluß für ihre Eltern, damit sie während ihrer Rufbereitschaften beim Kind sein könne; Versuch der Mitnahme des Kindes ins D. -B. … -Haus) indirekt darauf hin, daß sich die Beigeladene zu 1) in der fraglichen Zeit „wie eine Mutter” um ihr Kind gekümmert haben könnte; es bleiben aber noch zu große Unsicherheiten im Tatsächlichen, um das Urteil bestätigen zu können. Insbesondere ist nicht hinreichend geklärt, ob die Beigeladene zu 1) willens und in der Lage war, in hinreichendem Umfang auf die Betreuung und Erziehung ihrer Tochter Einfluß zu nehmen. Jedenfalls tragen die bisherigen Feststellungen des LSG nicht dessen abschließende Würdigung, daß der Klägerin die Mutterrolle erst nach Ablauf des ersten Lebensjahres der Enkelin zugefallen sei. Die Sache ist demnach auch mit der Zielsetzung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, daß dieses ergänzende Ermittlungen dazu durchführt, ob sich die Beigeladene zu 1) seinerzeit – insbesondere nach ihrem Auszug aus der elterlichen Wohnung – in einem Maße um ihr Kind gekümmert hat, daß ein Mutter-Kind-Verhältnis (fort)bestehen konnte.

Über die Kosten des Verfahrens wird das LSG zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173186

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