Leitsatz (amtlich)

1. Zur Bildung von Gewohnheitsrecht.

2. Nach der bis auf das Jahr 1937 zurückgehenden ständigen Rechtsprechung des RVA sind "rückständige Rentenbeträge" im Sinne des RVO § 1535 b aF, auf die der Fürsorgeträger zur Befriedigung seines Ersatzanspruchs bis zu ihrer vollen Höhe zurückgreifen kann, nicht Rentenbeträge, die sich im Laufe eines Streitverfahrens angesammelt haben (RVA 1937-04-06 = EuM 44, 341, RVA 1939-01-31 = EuM 44, 339 und RVA 1939-02-07 = EuM 44, 343); durch diese Rechtsprechung die sich auch in der Verwaltungspraxis und im Schrifttum allgemein durchgesetzt hat, ist Gewohnheitsrecht entstanden. Dieses war bis zum Inkrafttreten des RVO § 1535b in der Fassung des Fürsorgerechtsänderungsgesetzes vom 1953-08-20 anzuwenden.

 

Normenkette

RVO § 1535b Fassung: 1931-06-05; GG Art. 20 Abs. 3 Fassung: 1949-05-23, Art. 97 Fassung: 1949-05-23

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 31. Mai 1956, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Mai 1954 und der Bescheid der Beklagten vom 13. Januar 1953 dahin abgeändert, daß die Beklagte verurteilt wird, an den Kläger weitere 493,65 DM zu zahlen.

Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger drei Fünftel der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Beklagte bewilligte nach Durchführung eines Streitverfahrens dem Kläger durch Bescheid vom 13. Januar 1953 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. Januar 1951 an und behielt dabei von dem nachzuzahlenden Betrag in Höhe von 2.192,70 DM 1.623,- DM für die von dem beigeladenen Bezirksfürsorgeverband in der Zeit vom 1. Januar 1951 bis zum 28. Februar 1953 gezahlte Sozialunterstützung ein. Die Beschwerde des Klägers gegen diesen Bescheid wies der Beschwerdeausschuß am 16. März 1953 zurück. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger Beschwerde zum Sozialversicherungsamt; mit ihr verlangte er eine höhere Rente und Auszahlung eines höheren Betrages. Das Sozialgericht, auf das das Verfahren nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) übergegangen war, hat durch Urteil vom 19. Mai 1954 die Klage wegen der Höhe der Rente abgewiesen und ausgesprochen, daß die Beklagte nur die Hälfte des Unterstützungsbetrages von 1.623,- DM an das Sozialamt abzuführen habe. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht durch Urteil vom 31. Mai 1956 die Klage abgewiesen, soweit die Beklagte in der mündlichen Verhandlung sich nicht zur Zahlung eines weiteren Betrages von 33,- DM an den Kläger bereiterklärt hatte. In den Gründen ist ausgeführt, die Berufung sei nach § 149 SGG zulässig. Die Beklagte sei befugt gewesen, den vollen Betrag von 1.623,- DM abzüglich eines Betrages von 33,- DM einzubehalten, da es sich bei dem einbehaltenen Betrag um rückständige Rentenbeträge gehandelt habe, auf die nach § 1535 b der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der damals geltenden Fassung der Rückgriff in voller Höhe und nicht nur zur Hälfte, wie das Sozialgericht angenommen habe, zulässig sei. Das Landessozialgericht hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 16. Juli 1956 zugestellte Urteil hat der Kläger am 26. Juli 1956 Revision eingelegt und sie am 15. September 1956 begründet. Er trägt vor, nach der Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts, der sich das Landessozialgericht zu Unrecht nicht angeschlossen habe, seien unter rückständigen Rentenbeträgen im Sinne des § 1535 b RVO a. F. nur solche Beträge zu verstehen, die der Berechtigte trotz Fälligkeit nicht angefordert habe, nicht aber solche, die erst während eines Rentenverfahrens aufgelaufen seien.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 19. Mai 1954, des Urteils des Landessozialgerichts Berlin vom 31. Mai 1956 und des Bescheides der Beklagten vom 13. Januar 1953 diese zu verurteilen, an den Kläger 778,50 DM zu zahlen.

Die Beklagte und der beigeladene Bezirksfürsorgeverband beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie verweisen auf die Gründe des angefochtenen Urteils.

II

Die durch die Zulassung statthafte, auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist nur teilweise begründet.

Bei einer zulässigen Revision ist von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung zulässig war. Das Landessozialgericht meint, die Berufung sei nicht ausgeschlossen gewesen, weil es sich um eine Ersatzstreitigkeit zwischen Behörden oder Körperschaften (Anstalten) des öffentlichen Rechts im Sinne von § 149 SGG a. F. handele und der Beschwerdewert 300,- DM übersteige. Diese Begründung trifft nicht zu. Wie das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 22. Mai 1957 (BSG. 5 S. 155) näher dargelegt hat, ist in Fällen wie dem vorliegenden Streitgegenstand der Anspruch des Klägers auf Auszahlung der einbehaltenen Rentenbeträge, nicht aber der Ersatzanspruch des beigeladenen Fürsorgeverbandes. Der Kläger will mit seiner Klage erreichen, daß die Rente, soweit sie nach seiner Auffassung nicht mit dem Sozialamt verrechnet werden darf, an ihn ausgezahlt wird. Über diesen Streitgegenstand wird entschieden, nur insoweit erwächst das Urteil in Rechtskraft (§ 141 SGG). Daran ändert auch der Umstand nichts, daß der Bezirksfürsorgeverband beigeladen ist und sich im Rahmen des Verfahrens für die Überweisung der streitigen Rentenbeträge an ihn eingesetzt hat; denn damit ist sein Erstattungsanspruch nicht Streitgegenstand geworden. Eine Anwendung des § 149 SGG a. F. scheidet danach aus. Die Frage, ob die Berufung etwa ausgeschlossen ist, ist vielmehr aus §§ 144 ff. SGG a. F. zu beantworten. Nach § 146 SGG a. F. können in Angelegenheiten der Rentenversicherung Urteile mit der Berufung nicht angefochten werden, die Beginn oder Ende der Rente oder nur die Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betreffen. Der Kläger hat zwar in der Berufungsinstanz nur noch die Rente für einen bereits abgelaufenen Zeitraum verlangt. Da jedoch im ersten Rechtszug auch die Höhe der Rente streitig gewesen ist und das Sozialgericht auch darüber entschieden hat, war die Berufung nach § 146 SGG a. F. nicht ausgeschlossen und damit zulässig; denn nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kommt es bei der früheren Fassung der Vorschriften über die Berufungsausschließungsgründe nicht auf die Beschwer des Rechtsmittelklägers, sondern auf den Inhalt des Urteils erster Instanz an (vgl. BSG. 1 S. 225, 3 S. 217).

Nach § 1535 b RVO i. d. F. des Art. 104 des Gesetzes vom 14. Juli 1925 (RGBl. I S. 97, 110) und des 5. Teils Kap. VII Art. 1 der Zweiten Notverordnung vom 5. Juni 1931 (RGBl. I S. 279, 305), die zur Zeit des angefochtenen Bescheids noch in Kraft war, durfte zur Befriedigung des Ersatzanspruchs des Fürsorgeträgers auf rückständige Rentenbeträge der Invalidenversicherung und auf solche für die Zeit des vollständigen Unterhalts in einer Anstalt bis zu ihrer vollen Höhe, auf andere Rentenbeträge nur bis zu ihrer halben Höhe zurückgegriffen werden. Diese bundesrechtliche Vorschrift hat, wie noch darzulegen ist, in der hier maßgebenden Zeit auch im Land Berlin gegolten. Zu dem Begriff "rückständige Rentenbeträge" hat das frühere Reichsversicherungsamt in mehreren Entscheidungen Stellung genommen. Es hat in einem Urteil vom 7. Februar 1939 (EuM. Bd. 44 S. 343) - im Anschluß an einen Aufsatz von Bothe in der Zeitschrift "Die Arbeiterversorgung" 1937 S. 324 und in Übereinstimmung mit der Entscheidung des Reichsversicherungsamts vom 6. April 1937 (EuM. Bd. 44 S. 341) - ausgeführt, Rentenbeträge, die der Versicherte erst im Klagewege habe geltend machen müssen und die sich während der Durchführung des Verfahrens angesammelt hätten, fielen nicht unter den Begriff der "rückständigen Rentenbeträge". Zur Begründung hat das Reichsversicherungsamt unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte dargelegt, dem Rentenberechtigten müsse nach dem Sinn des § 1535 b RVO a. F. - von dem Sonderfall der Gewährung vollständigen Unterhalts in einer Anstalt abgesehen - der Anspruch auf die Hälfte stets verbleiben, damit er wegen seiner sonstigen Lebensbedürfnisse sichergestellt sei, die nicht durch die Unterstützungsgewährung gedeckt seien. Im Fall der öffentlichen Fürsorge werde der Rentenberechtigte nur insoweit unterstützt, als es durch das Maß des Notwendigen bedingt sei. Er werde mithin oft gezwungen sein, während des schwebenden Rentenverfahrens Schulden im Hinblick auf die von ihm erwartete Rente einzugehen. Zu deren Tilgung bedürfe er dann der Hälfte der Rente. Wenn Rentenbeträge rückständig seien, sei zu vermuten, daß der Versicherte diese Beträge nicht zum Lebensunterhalt gebraucht habe, als "rückständig" könnten aber nur solche Rentenbeträge angesehen werden, die der Versicherte trotz Fälligkeit nicht abverlangt habe. Es kann nun dahinstehen, ob diese enge Auslegung des Begriffs "rückständige Rentenbeträge" durch das Reichsversicherungsamt zutreffend war. Denn auch wenn man die Rechtsauffassung des Reichsversicherungsamts nicht für richtig hält, so ist doch festzustellen, daß sie sich seit dem Jahre 1937 (vgl. auch Urteil vom 31. 1.1939 - EuM. Bd. 44 S. 339 -) in Rechtsprechung, Verwaltungspraxis und Rechtslehre allgemein durchgesetzt hat und so jedenfalls als Gewohnheitsrecht Geltung beansprucht. Die Bildung von Gewohnheitsrecht setzt den allgemeinen Rechtsgeltungswillen der Gemeinschaft oder ihrer Organe voraus. Dieser Rechtsgeltungswille muß regelmäßig durch eine stetige und langdauernde Übung Ausdruck gefunden haben. So entsteht Gewohnheitsrecht häufig durch Verwaltungs- oder Gerichtsgebrauch. Legen Gerichte oder Verwaltungsbehörden eine Vorschrift, die zu Zweifeln Anlaß gibt, ständig in einem bestimmten Sinne aus, ohne nennenswerten Widerspruch zu finden, so bringen sie damit als Organe der Gemeinschaft deren Rechtsgeltungswillen zum Ausdruck. Hat die Verwaltungsübung oder die ständige Rechtsprechung sich allgemein durchgesetzt, handelt es sich insbesondere um die Rechtsprechung der höchsten gerichtlichen Instanz, der die unteren Gerichte sich angeschlossen haben, und hat diese Rechtsprechung in der Verwaltungspraxis und Rechtswissenschaft sowie in den Kreisen der in Betracht kommenden Bevölkerung keinen ernsthaften Widerspruch gefunden, so gewinnt - im Hinblick auf die Mehrdeutigkeit des Gesetzestextes und die Schwierigkeit der Auslegung - die ständige Rechtsprechung normative Kraft. Sie ist zwar aus der Auslegung des Gesetzes entstanden, tritt aber als selbständige Rechtsquelle neben das Gesetzesrecht. Die Gerichte entsprechen daher der ihnen durch Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 des Grundgesetzes auferlegten Bindung an Gesetz und Recht, wenn sie ihre Entscheidung auf eine solche zu Gewohnheitsrecht gewordene ständige Rechtsprechung stützen (vgl. Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. I § 39).

Daß sich Gewohnheitsrecht nicht nur auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts, sondern auch im öffentlichen Recht, insbesondere im Verwaltungsrecht, bilden kann, ist in Rechtsprechung und Rechtslehre anerkannt. Auch hier entsteht es durch eine langdauernde, oft auf der Rechtsprechung der Gerichte beruhenden Übung, die durch Rechtsüberzeugung getragen wird und nicht nur nach dem Willen der unmittelbar Beteiligten, sondern auch der Allgemeinheit Ausdruck geltenden Rechts ist (vgl. BVerwG. Urteil vom 26.5.1959, DÖV. 1959 S. 867 f.). Durch eine derartige ständige Rechtsprechung, der Verwaltung und Schrifttum folgen, muß ein Vertrauen derer, die es angeht, insbesondere der betroffenen Bevölkerung, entstanden sein; sie müssen darauf vertrauen, daß künftig gleichgelagerte Fälle in demselben Sinn entschieden werden (Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 1. Bd. 7. Aufl., S. 131 ff.). Auch der erkennende Senat hat bereits in seinem Urteil vom 11. Juli 1956 (BSG. 3 S. 161, hier 171) die Bildung von Gewohnheitsrecht auf dem Gebiet der Sozialversicherung als möglich vorausgesetzt. Er verlangt eine langdauernde Übung und hat ausgesprochen, an den Nachweis eines Gewohnheitsrechts müßten strenge Anforderungen gestellt werden, zumal wenn es sich zu Ungunsten der betroffenen Berechtigten durchsetzen soll.

Die danach erforderlichen Voraussetzungen des Gewohnheitsrechts sind im vorliegenden Fall auf Grund einer langdauernden, gleichartigen Rechtsprechung und Verwaltungsübung gegeben. Die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts hat den Begriff "rückständige Rentenbeträge" im Sinn des § 1535 b RVO a. F. seit 1937 in ständiger Rechtsprechung dahin ausgelegt, daß darunter nicht die im Laufe eines Streitverfahrens angesammelten Rentenbeträge zu verstehen seien. Dem ist in einem Gemeinsamen Erlaß des Reichsarbeitsministers und des Reichsministers des Innern vom 19. September 1940 (AN. 1940 S. 338) Rechnung getragen. Dieser Erlaß wies unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts alle Fürsorgeverbände und ihre Aufsichtsbehörden an, diese Rechtslage künftig allgemein zu beachten. Wenn nicht schon seit 1937, so haben doch spätestens seit 1940 alle Fürsorgeverbände und alle Rentenversicherungsträger sich danach gerichtet (vgl. Kommentar des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, 5. Aufl., § 1535 b Anm. II; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. III, Stand März 1952 S. 973). Soweit ersichtlich, haben nur Koch-Hartmann (Angestelltenversicherungsgesetz, 2. Aufl., Bd. I S. 535) gegen die Richtigkeit der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts Zweifel geäußert. Die genannte Vorschrift ist auch im Bundesgebiet bis zum Jahre 1953 in diesem Sinn angewandt worden. Die so entstandene Rechtslage hat schließlich dem Bundesgesetzgeber Anlaß zu einer Gesetzesänderung gegeben. Nach § 1535 b RVO i. d. F. des Art. IX des Fürsorgerechtsänderungsgesetzes vom 20. August 1953 (BGBl. I S. 967) darf jetzt zur Befriedigung des Ersatzanspruchs auf Rentenbeträge nur für die Zeit zurückgegriffen werden, für welche die Unterstützung und der Anspruch auf Rente zusammentreffen. Insoweit darf nach der nunmehr geschaffenen Rechtslage die ganze Rente in Anspruch genommen werden. Als Begründung für diese Gesetzesänderung hat die Bundesregierung in der Bundestagsdrucksache der 1. Wahlperiode des Deutschen Bundestags Nr. 3440 vom 9. Juni 1952 zu Art. V, der die neue Fassung des § 1535 b RVO enthielt, ausgeführt, daß nach der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts "rückständige Rentenbeträge" nicht solche Beträge seien, die dem Rentenberechtigten vom Rentenversicherungsträger nachträglich für den Zeitraum bewilligt werden, während dessen der Fürsorgeverband den Rentenberechtigten unterstützt. Dieser Auslegung seien die Rentenversicherungsträger gefolgt und führten dementsprechend an die Fürsorgeverbände nur die Hälfte der Rente ab. Dieses Ergebnis sei jedoch unbillig, so daß die neue Regelung eingeführt werden solle. Der Bundesgesetzgeber hat damit im gewissen Sinn die Auslegung des früheren § 1535 b RVO durch das Reichsversicherungsamt sanktioniert (vgl. auch Gottschick-Keese, Fürsorgeänderungsgesetz S. 17).

Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, daß diese Auslegung des Begriffs "rückständige Rentenbeträge", die auf der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts beruht, in der Bundesrepublik als Gewohnheitsrecht bis zur Gesetzesänderung im Jahre 1953 gegolten hat.

Dieses Recht ist auch vom Land Berlin übernommen worden, und zwar in der Form, wie es im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik angewandt wurde. Es kann dahinstehen, ob dies schon durch das Berliner Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz (BSVAG) vom 3. Dezember 1950 geschehen ist, nach dessen § 68 Nr. 10 auch die §§ 1531 bis 1535, 1535 b und 1539 RVO in Berlin entsprechend gelten. Spätestens ist die im Bundesgebiet kraft Gewohnheitsrechts geltende Regelung durch das Berliner Rentenversicherungs-Überleitungsgesetz ( RVÜG ) vom 10. Juli 1952 mit Wirkung vom 1. April 1952 in Berlin eingeführt worden, nach dessen § 1 die Rentenversicherung in Berlin nach den in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Vorschriften durchgeführt wird. Damit ist das in der Bundesrepublik geltende Recht der Rentenversicherung im gleichen Umfang und mit dem gleichen Inhalt vom Land Berlin übernommen worden. Wenn - worauf die Beklagte und der Beigeladene hinweisen - in Berlin nach dem Jahre 1945 auf Grund von Verwaltungsanweisungen der Versicherungsanstalt Berlin und Richtlinien des Magistrats anders verfahren wurde, so ist dies jedenfalls für die Zeit nach Inkrafttreten des RVÜG ohne Bedeutung, weil durch diese Maßnahmen das Bundesrecht gewordene Gewohnheitsrecht für Berlin nicht außer Kraft gesetzt werden konnte. Damit sind die im Laufe des Streitverfahrens aufgelaufenen Beträge nicht als "rückständige Rentenbeträge" im Sinne des § 1535 b RVO a. F. anzusehen, so daß sie nur zur Hälfte zur Befriedigung des Ersatzanspruchs des Beigeladenen in Anspruch genommen werden können.

Die von dem beigeladenen Fürsorgeverband gezahlten Unterstützungen können auch nicht als Vorschüsse auf die von der Beklagten zu gewährende Rente aufgefaßt werden, so daß sie nicht unter diesem Gesichtspunkt mit der künftigen Rente verrechnet werden können. Eine Vorschußleistung setzt voraus, daß die zu einer Leistung verpflichtete Stelle aus besonderen Gründen, insbesondere wenn sich der Umfang der Leistung noch nicht feststellen läßt, nicht die volle Leistung, sondern zunächst eine vorläufige, später anzurechnende, der Leistung selbst gleichartige Teilleistung bewirkt (vgl. BSG. 4 S. 75, hier 82 und Urteil des 11. Senats des BSG. vom 11.11.1959 - 11 RV 696/58 -). Darum handelt es sich aber nicht, wenn - wie hier - die Sozialunterstützung von dem dafür zuständigen Bezirksfürsorgeverband erbracht ist, während zur Gewährung der Rentenleistung die Beklagte verpflichtet gewesen wäre.

Aus dieser Auslegung des § 1535 b RVO a. F. folgt aber nicht, daß die Beklagte die angesammelten Rentenbeträge nur bis zur Hälfte der gezahlten Sozialunterstützung einbehalten durfte, wie das Sozialgericht angenommen hat. Denn § 1535 b RVO a. F. besagt nur, bis zu welcher Höhe die Rente durch den Fürsorgeverband in Anspruch genommen werden darf, bestimmt also nur den Umfang des Rückgriffs auf die Rente, regelt aber nicht die Höhe des Ersatzanspruchs des Fürsorgeverbandes. Diese ergibt sich vielmehr aus § 1531 RVO. Danach kann ein Träger der Fürsorgepflicht, der einen hilfsbedürftigen für eine Zeit unterstützt hat, in der er einen Anspruch auf Rente hatte oder noch hat, von dem Versicherungsträger Ersatz seiner Auslagen verlangen, und zwar nur bis zur Höhe des Anspruches, den der Versicherte gegen den Versicherungsträger hat. Der Ersatzanspruch kann nicht höher sein als die Rente selbst. Diese betrug monatlich 87,70 DM, während die Leistungen des Beigeladenen niedriger waren. Die Aufwendungen des Beigeladenen betragen nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Landessozialgerichts für die Zeit vom 1. Januar 1951 bis zum 28. Februar 1953 1.623,- DM. Die Nachzahlung an Rente für diesen Zeitraum beläuft sich auf 2.192,70 DM. Hiervon stehen jeweils die Hälfte in Höhe von 1.096,35 DM dem Kläger und dem Beigeladenen zu. Da der Kläger nach dem angefochtenen Bescheid (2.192,70 DM - 1.623,- DM =) 569,70 DM erhalten und die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht nach dem Protokoll vom 31. Mai 1956 weitere 33,- DM anerkannt hat, ist sie unter Abänderung der Vorentscheidungen und des Bescheids der Beklagten zu verurteilen, an den Kläger noch weitere 493,65 DM zu zahlen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2391795

BSGE, 126

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