Leitsatz (amtlich)

Ein neuer Bescheid (Zweitbescheid) darf nach RVO § 1744 Abs 1 Nr 5 auch dann erteilt werden, wenn Grundlage der Regelung in dem früheren Bescheid des Versicherungsträgers (Erstbescheid) der Inhalt eines bestimmten anderen Verwaltungsakts gewesen ist, dieser Verwaltungsakt aber in bindender Weise wieder aufgehoben worden ist.

 

Normenkette

RVO § 1744 Abs. 1 Nr. 5 Fassung: 1924-12-15; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revisionen der Klägerinnen gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 7. September 1961 werden zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerinnen erhalten Hinterbliebenenrente aus der Angestelltenversicherung. Ihr - im Februar 1949 verstorbener - Ehemann bzw. Vater war von Juli 1935 bis Mai 1945 Berufssoldat; er gilt nach § 72 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen (G 131) für diese Zeit als nachversichert.

Auf Grund einer Bescheinigung des beigeladenen Pensionsamtes Kiel vom 3. Dezember 1953 wurden die Hinterbliebenenrenten erstmals durch Bescheid vom 10. Februar 1954 festgesetzt. Die Steigerungsbeträge wurden dabei aus einem Entgelt von insgesamt 35380 RM berechnet; dieser Betrag ergab sich aus der Bescheinigung des Pensionsamtes, welches das zuletzt bezogene Entgelt gleichbleibend für die gesamte Dienstzeit zugrunde gelegt hatte.

In dem Bescheid vom 10. Februar 1954 wurde die Witwenrente der Klägerin Nr. 1 auf 54,80 DM und die Waisenrente der Klägerin Nr. 2 auf 38,50 DM festgestellt. Die Renten erhöhten sich später; sie betrugen nach der Rentenumstellung im Jahre 1957 und nach der ersten Rentenanpassung 163,50 DM (Witwenrente) und 58,50 DM (Waisenrente).

Am 9. November 1959 "widerrief" das Pensionsamt seine frühere Bescheinigung; es erteilte eine neue Bescheinigung, in der das Entgelt nach dem "jeweils innegehabten Dienstgrad" berechnet war; dadurch minderte sich der Gesamtbetrag auf 22880 RM. Die Entscheidung, die mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen war, wurde den Klägerinnen zugestellt und von ihnen nicht angefochten.

Die Beklagte nahm darauf am 19. April 1960 unter "entsprechender Änderung des Bescheides vom 10. Februar 1954" eine "Neufeststellung der Hinterbliebenenrente" ab Dezember 1959 vor; sie zahlte von Mai 1960 an als Witwenrente nur noch 105,90 DM und als Waisenrente 56,30 DM; auf die Rückforderung der zwischenzeitlichen Überzahlung verzichtete sie.

Die Klage gegen die Herabsetzung der Renten von Mai 1960 an hatte vor dem Sozialgericht (SG) Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hob das Urteil auf und wies die Klage ab; nach seiner Ansicht war die Beklagte in entsprechender Anwendung des § 72 a G 131 zur Neufeststellung der Rente befugt.

Mit der zugelassenen Revision beantragten die Klägerinnen,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Sie rügten eine Verletzung der §§ 124, 146 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), §§ 72, 72 a G 131 und § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Die Beklagte beantragte die Zurückweisung der Revisionen.

Das beigeladene Pensionsamt äußerte sich zur Sache nicht.

Alle Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153, 165 SGG).

II

Die Revisionen sind zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG), aber unbegründet.

Es kann dahingestellt bleiben, ob der Bescheid vom 19. April 1960, der die Hinterbliebenenrenten immerhin noch höher als der Bescheid vom 10. Februar 1954 feststellt, überhaupt die sachliche Bindungswirkung dieses Bescheides antastet (vgl. BSG 14, 154), oder ob er möglicherweise nur die Bindungswirkung später erlassener Bescheide von Dezember 1959 an beseitigt. § 77 SGG hat jedenfalls einer Neufeststellung der Hinterbliebenenrenten durch Erlaß eines neuen Bescheids nicht entgegengestanden; die Beklagte ist hierzu "durch Gesetz" ermächtigt gewesen.

Die gesetzliche Grundlage - die im Bescheid vom 19. April 1960 zwar nicht angegeben, jedoch von Amts wegen zu prüfen ist - ist allerdings nicht, wie das LSG meint, § 72 a G 131. Diese Vorschrift will Doppelleistungen aus der Beamtenversorgung und der Rentenversicherung für ein und dieselbe Zeit vermeiden, sie kann hier nicht entsprechend angewandt werden, da der Sachverhalt im vorliegenden Rechtsstreit ein ganz anderer ist.

Die Beklagte ist zur "Neufeststellung", d. h. zur Erteilung eines neuen Bescheides (eines Zweitbescheides also), jedoch nach § 1744 Abs. 1 Nr. 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) i. V. m. § 204 AVG befugt gewesen. Danach kann "gegenüber einem bindenden Verwaltungsakt eines Versicherungsträgers eine neue Prüfung ... vorgenommen werden, wenn ein strafgerichtliches Urteil , auf das sich der Verwaltungsakt stützt, durch ein anderes rechtskräftig gewordenes Urteil aufgehoben worden ist". Diese Vorschrift trifft zwar ihrem Wortlaut nach nicht zu, weil die Bescheinigung des Pensionsamts vom 3. Dezember 1953, auf die sich der Bescheid vom 10. Februar 1954 und die seitherige Rentengewährung an die Klägerinnen gründen, kein strafgerichtliches Urteil, sondern ein Verwaltungsakt (BSG 11, 63, 66) gewesen ist; § 1744 Abs. 1 Nr. 5 RVO läßt sich seinem Sinn und Zweck nach jedoch auch dann anwenden, wenn die "Entscheidung", welche die Grundlage des Verwaltungsakts gewesen ist, nicht ein strafgerichtliches Urteil, sondern ebenfalls ein Verwaltungsakt war, und wenn dieser Verwaltungsakt später wieder aufgehoben wurde.

Daß § 1744 Abs. 1 Nr. 5 RVO einer erweiternden Auslegung fähig und bedürftig ist, zeigt schon ein Vergleich mit der Nr. 6 des § 580 der Zivilprozeßordnung (ZPO), der die Vorschrift nachgebildet ist (zur Entstehungsgeschichte vgl. Peters/Sautter/Wolff, Anm. zu § 220 Nr. 18 SGG, und Lehmann, Komm. zur RVO, 5. und 6. Buch, 4. Aufl. 1926, § 1744 Anm. 2 und Vorbemerkung vor § 1722 Anm. 1 und 2; vgl. in diesem Zusammenhang ferner § 42 Abs. 1 Nr. 8 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung vom 2. Mai 1955, dort ist als weggefallene Entscheidungsgrundlage "das Urteil eines ordentlichen Gerichts" genannt). Anders als § 580 Nr. 6 ZPO in der jetzt maßgebenden Fassung ist § 1744 Abs. 1 Nr. 5 RVO, was die weggefallene Entscheidungsgrundlage betrifft, auf dem Stand der ZPO vor dem 27. Oktober 1933 (RGBl I 783) stehengeblieben, ohne daß Gründe für die Beibehaltung der alten Gesetzesfassung ersichtlich sind. Die § 1744 Abs. 1 Nr. 5 RVO entsprechende Fassung der ZPO ist durch die Novelle vom 27. Oktober 1933 erweitert worden, weil man sie als zu eng empfand (Stein-Jonas, ZPO, 18. Aufl. Anm. III zu § 580); die Wiederaufnahme eines zivilgerichtlichen Verfahrens im Wege der Restitutionsklage nach § 580 Nr. 6 ZPO ist seitdem statthaft, wenn es sich bei der nachträglich weggefallenen Entscheidungsgrundlage des Zivilurteils um ein "Urteil eines ordentlichen Gerichts, eines früheren Sondergerichts oder eines Verwaltungsgerichts" handelt. Aber selbst diese Erweiterung auf alle gerichtlichen Urteile wird im Schrifttum teilweise noch nicht als genügend angesehen; erwogen wird darum die Einbeziehung auch von Schiedssprüchen, von Entscheidungen der freiwilligen Gerichtsbarkeit und schließlich auch von Verwaltungsakten, worüber allerdings keine Einigkeit besteht (vgl. Rosenberg, 8. Aufl. S. 776; Baumbach-Lauterbach, 27. Aufl. § 580 Anm. 3; Wieczoreck § 580 D II a; Thomas-Putzo, § 580 Anm. 2; Stein-Jonas aaO, Blomeyer, Zivilprozeßrecht, S. 605; Gaul, Die Grundlagen des Wiederaufnahmerechts und die Ausdehnung der Wiederaufnahmegründe, 1956 S. 195 ff.). Der vorliegende Rechtsstreit nötigt nicht zur Entscheidung der Frage, ob gerichtliche Verfahren nach § 580 Nr. 6 ZPO (§ 179 SGG) auch dann wiederaufnahmefähig sind, wenn die Entscheidungsgrundlage des abschließenden Urteils ein nachträglich aufgehobener Verwaltungsakt gewesen ist. Insoweit mag, wie es im Schrifttum überwiegend heißt, bedeutsam sein, ob der Verwaltungsakt in seinem Zustandekommen und seiner Bestandskraft "urteilsähnlich" ist. Jedenfalls erscheint es dann, wenn schon die Entscheidung in dem wiederaufzunehmenden Verfahren selbst nur ein Verwaltungsakt ist, unter dem Gesichtspunkt der "Entscheidungsähnlichkeit" nach dem Grundgedanken der §§ 1744 Abs. 1 Nr. 5 RVO, 580 Nr. 6 ZPO gerechtfertigt, daß der Wegfall des die Entscheidungsgrundlage bildenden Verwaltungsakts sich auch auf den darauf beruhenden Verwaltungsakt in gleicher Weise auswirkt, wie wenn die weggefallene Entscheidungsgrundlage ein (strafgerichtliches oder sonstiges) Urteil gewesen wäre. Das der Restitutionsklage des § 580 ZPO - und auch § 1744 RVO - allgemein zugrunde liegende Prinzip ist die Unhaltbarkeit der bisherigen Entscheidung infolge Erschütterung ihrer Grundlagen durch "liquide Beweise"; insofern macht es keinen Unterschied, ob die Entscheidungsgrundlage und die sie beseitigende Entscheidung ein Gerichtsurteil oder ein Verwaltungsakt gewesen sind. Für § 580 Nr. 6 ZPO ist außerdem der Gedanke wichtig, daß die Staatsgewalt eine Einheit darstellt; hier wird diesem Gedanken im besonderen in dem Bereich der Rechtsprechung Rechnung getragen (Johannsen, Festschrift für den 45. Deutschen Juristentag 1964, Rechtfertigung und Begrenzung der Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 580 ZPO, S. 82, 93); in dem Bereich der Verwaltung ist die vom Senat vorgenommene Auslegung des § 1744 Abs. 1 Nr. 5 RVO nur eine weitere sinnvolle Ergänzung dieses Gedankens; sie zeigt die "Einheit der Verwaltung" in besonderer Weise. Sie ist namentlich dann geboten, wenn zwei Verwaltungsakte so eng miteinander verknüpft sind wie im Falle der fiktiven Nachversicherung nach § 72 G 131, bei deren Durchführung Versorgungsdienststellen und Versicherungsträger zusammenwirken; hier wird ein Versicherungsverhältnis auf Grund eines dienstrechtlichen Tatbestands kraft Gesetzes fingiert, wobei jedoch die Feststellung der dienstrechtlichen Voraussetzungen allein den Versorgungsdienststellen obliegt (BSG 11, 63 ff.). Wenn hier die Versorgungsdienststellen ihre Feststellungen rückwirkend mit bindender Kraft ändern, kann dieser Änderung die Auswirkung im versicherungsrechtlichen Bereich nicht versagt bleiben.

Die Neufeststellung nach § 1744 RVO ist an keine Frist gebunden (BSG 6, 284, 287; SozR Nr. 5 zu § 1744 RVO). § 1744 RVO hat als Grundlage der Neufeststellung auch dann dienen können, wenn die Beklagte ihr nur zum Teil (ab Dezember 1959) rückwirkende Kraft beigelegt und auf eine Rückforderung von Überzahlungen verzichtet hat. Ebensowenig stehen ihr sonstige Gründe entgegen. Die Einwände der Klägerinnen in der Revisionsbegründung richten sich im wesentlichen gegen die Rechtswirksamkeit des Bescheides des Pensionsamtes vom 9. November 1959. Damit können sie im vorliegenden Rechtsstreit jedoch nicht gehört werden. Sie hätten ihre Einwände gegen jenen Bescheid in dem dafür vorgesehenen Rechtsweg (Widerspruch und Klage vor dem Verwaltungsgericht) geltend machen können und müssen. Das haben sie nicht getan. Der Verwaltungsakt hat eine zutreffende Rechtsmittelbelehrung enthalten und ist ihnen ordnungsgemäß zugestellt worden; die Anfechtungsfrist ist abgelaufen und der Bescheid vom 9. November 1959 ist unanfechtbar geworden. Die Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts steht im Anwendungsbereich des § 1744 Abs. 1 Nr. 5 RVO der Rechtskraft von Urteilen gleich. Entgegen der Meinung der Klägerinnen hat auch der Bescheid vom 9. November 1959 den vorhergehenden Bescheid des Pensionsamts vom 3. Dezember 1953 rückwirkend aufgehoben. Das hat sich aus seinem Inhalt und aus der ausdrücklichen Erklärung ergeben, daß damit "die am 3. Dezember 1953 erteilte ... Bescheinigung zu § 72 G 131 widerrufen" (gemeint: zurückgenommen) werde. Die in der Revisionsbegründung angeführten §§ 124, 146 AVG haben die Beklagte an der Neufeststellung auch nicht hindern können; abgesehen davon, daß die Klägerinnen sich damit wiederum gegen die Rechtmäßigkeit des Bescheides des Pensionsamtes vom 9. November 1959 wenden, kann auch die Richtigstellung von Beschäftigungsentgelten durch die Versorgungsdienststellen der Rückforderung zu Unrecht geleisteter Versicherungsbeiträge durch den Versicherten und den Arbeitgeber nicht gleichgestellt werden. Daß die berichtigten Entgelte zutreffend sind und daß die auf ihrer Grundlage erfolgte Neuberechnung der Rentenhöhe richtig ist, haben die Klägerinnen nicht bestritten.

Die Revisionen der Klägerinnen sind sonach als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2324255

BSGE, 13

NJW 1965, 1349

NJW 1965, 220

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