Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 25.07.1996; Aktenzeichen L 7 U 2608/95)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Juli 1996 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin zu 1) auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Im übrigen sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin zu 1) bei dem Unfall am 8. Juli 1988 unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand.

Die im Jahre 1939 geborene schwerbehinderte Klägerin zu 1), die an einem Down-Syndrom leidet und bei der deshalb ein Grad der Behinderung (GdB) nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) von 100 vH festgestellt ist, wird in der Anstalt S., … einem Heim für Behinderte, betreut. Kostenträger der Heimunterbringung für die Klägerin zu 1) ist der Kläger zu 2). Da sie nicht in der Lage war, ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung iS des § 54 Abs 3 SchwbG zu erbringen, wurde sie zum 30. Juni 1978 formal aus der Werkstatt für Behinderte (WfB) entlassen (Beschluß des Fachausschusses der WfB der Anstalt S. … vom 27. Juni 1978). Sie wurde jedoch dort im Rahmen einer Beschäftigungs- und Betreuungsgruppe täglich von 8.00 Uhr bis 12.00 Uhr und von 13.15 Uhr bis 16.30 Uhr weiterhin beschäftigt. Dabei schnitt sie zusammengenähte Stoffstreifen auseinander und wickelte Wollstränge zu Wollknäueln zusammen. Dafür erhielt sie ein Arbeitstaschengeld bzw eine Arbeitsanwesenheitsprämie von 10,00 DM pro Monat.

Als sie am 8. Juli 1988 an einem Webstuhl vorbeiging, verletzte sie der dort Beschäftigte beim Herausziehen des Weberschiffchens am linken Auge. Der Unfall hatte den Verlust des Auges zur Folge.

Der Kläger zu 2) machte mit Schreiben vom 20. Oktober 1993 gegenüber der Beklagten geltend, daß eine Entscheidung über die Verletztenrente der Klägerin zu 1) aus Anlaß ihres Arbeitsunfalls noch nicht erfolgt sei. Gemäß § 91a Bundessozialhilfegesetz (BSHG) beantragte er daher für die Klägerin zu 1) die Unfallrente und machte gemäß §§ 102 ff des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) seinen Erstattungsanspruch geltend.

Die Beklagte lehnte es sowohl gegenüber dem Kläger zu 2) als auch der Klägerin zu 1) ab, den Unfall vom 8. Juli 1988 als Arbeitsunfall anzuerkennen, da die Klägerin zu 1) nicht zum Kreis der in der gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Personen gehört habe. Sie sei lediglich zum Zwecke der Beschäftigungstherapie unter dem „verlängerten Dach” der WfB betreut worden. Auch eine formale Versicherung habe im Unfallzeitpunkt nicht bestanden (Bescheid vom 16. Februar 1994 idF des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 1994).

Das Sozialgericht hat die zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen Klagen abgewiesen (Urteil vom 18. August 1995). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Klägers zu 2) die Beklagte verurteilt, als Folge des Arbeitsunfalls vom 8. Juli 1988 bei der Klägerin zu 1) einen Verlust des linken Auges anzuerkennen. Im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 25. Juli 1996): Für die Klägerin zu 1) habe zwar ein Versicherungsschutz gemäß § 539 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht bestanden, weil sie durch den Beschluß des Fachausschusses der WfB der Anstalt S. … vom 27. Juni 1978 zum 30. Juni 1978 formal aus der WfB entlassen worden sei. Die Klägerin zu 1) habe jedoch im Unfallzeitpunkt gemäß § 539 Abs 2 RVO iVm § 539 Abs 1 Nr 1 RVO und § 1 des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter (SVBG) vom 7. Mai 1975 (BGBl I S 1061) unter Unfallversicherungsschutz gestanden. Die Klägerin zu 1) habe, indem sie zusammengenähte Stoffstreifen auseinandergeschnitten und Wollstränge zu Wollknäueln gewickelt habe, eine Tätigkeit mit fremdwirtschaftlicher Zweckbestimmung, die dem Willen des Unternehmers, hier der WfB, entsprochen habe, verrichtet. Die Tätigkeit sei auch unter Umständen erfolgt, wie sie einem Beschäftigungsverhältnis iS des § 1 SVBG ähnlich gewesen sei. Die Klägerin zu 1) habe täglich von 8.00 Uhr bis 12.00 Uhr und von 13.15 Uhr bis 16.30 Uhr in der WfB die Tätigkeit verrichtet. Dem Unfallversicherungsschutz stehe nicht entgegen, daß sie dafür nicht entlohnt worden sei, sondern nur ein Arbeitstaschengeld bzw eine Anwesenheitsprämie von 10,00 DM erhalten habe, weil die Entgeltlichkeit nicht Voraussetzung der Versicherung sei. Auch der Umstand, daß sie nur eine Menge von geringstem wirtschaftlichen Wert produziert habe, schließe den Versicherungsschutz nicht aus. Gerade bei § 539 Abs 2 RVO komme es nicht auf die Menge und den Wert der Leistung an. Durch ihre, wenn auch geringfügige Tätigkeit, sei sie mindestens den gleichen Gefahren am Arbeitsplatz ausgesetzt gewesen wie die anderen dort Beschäftigten. Eine Verletztenrente stehe der Klägerin zu 1) jedoch nicht zu, da ihre Erwerbsfähigkeit schon vor dem Unfall so erheblich gemindert gewesen sei, daß sie weder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch auf dem besonderen Arbeitsmarkt in einer WfB eine wirtschaftlich nennenswerte Arbeitsleistung hätte erbringen und damit nicht als Arbeitnehmerin in einem normalen Arbeitsverhältnis bzw der WfB hätte tätig sein können.

Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Beklagte, das LSG habe zu Unrecht einen Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 RVO angenommen. Denn es habe die Handlungstendenz der Klägerin zu 1) nicht geprüft bzw gewürdigt, vielmehr ein fremdwirtschaftliches Wirken nur behauptet. Der Akteninhalt ergebe aber, daß deutlich eine eigenwirtschaftliche Handlungstendenz dominiere. Dies werde auch dadurch unterstrichen, daß der Kläger zu 2) als Kostenträger beträchtliche Heimunterbringungskosten für die Klägerin zu 1) aufbringe. Auch liege keine Arbeitstherapie, sondern allenfalls eine Beschäftigungstherapie vor. Eine derartige Therapie sei aber mangels fremdwirtschaftlicher Zweckbestimmung nicht nach § 539 Abs 2 RVO unfallversichert. Das LSG habe auch zu Unrecht bejaht, daß die Klägerin zu 1) gemäß § 539 Abs 2 RVO eine Tätigkeit verrichtet habe, die ihrer Art nach sonst von Personen verrichtet werden könnte, die in einem dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Beschäftigungsverhältnis stehen. Der Hinweis auf die tägliche Anwesenheitszeit könne eine arbeitsmarktbezogene arbeitnehmerähnliche Beschäftigung nicht begründen. Das LSG habe es unterlassen, in irgendeiner Weise eine auf den allgemeinen Arbeitsmarkt bezogene Vergleichstätigkeit zu nennen. Soweit das LSG ein arbeitnehmerähnliches Beschäftigungsverhältnis aus § 539 Abs 1 RVO iVm § 1 SVBG abzuleiten versuche, fehlten hierfür nähere rechtliche und tatsächliche Voraussetzungen. Die dazu ergangene Bundessozialgerichts(BSG)-Rechtsprechung habe das LSG nur ungenügend berücksichtigt. Rechtlich stelle sich die Frage, ob § 539 Abs 2 RVO überhaupt auf ein fingiertes Beschäftigungsverhältnis in einer WfB bezogen werden dürfe. Dagegen spreche die Rechtsprechung des BSG, die einen konkreten Bezug zum allgemeinen Arbeitsmarkt fordere. Im Siebten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VII) seien die gemäß § 2 Abs 1 Nr 4 SGB VII in einer WfB Tätigen nicht als Beschäftigte nach § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII eingestuft worden, sondern als gesonderte Versicherungsgruppe in § 2 Abs 1 Nr 4 SGB VII eingeordnet worden. Der Unfallversicherungsschutz „wie” ein Tätiger sei aber nicht möglich, da sich § 2 Abs 2 SGB VII, die Nachfolgevorschrift des § 539 Abs 2 RVO, nur auf Beschäftigte nach § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII beziehe. Auch spreche das Gesamtbild der Tätigkeit der Klägerin zu 1) gegen eine Vergleichbarkeit mit einem Beschäftigten im Arbeitsbereich. Weitaus eher lasse sich die Tätigkeit der Klägerin zu 1) mit einem Schwerbehinderten außerhalb einer WfB vergleichen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Juli 1996 abzuändern und die Berufung des Klägers zu 2) in vollem Umfang zurückzuweisen;

hilfsweise,

den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Kläger zu 1) und 2) beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Das LSG hat zutreffend entschieden, daß der Verlust des linken Auges der Klägerin zu 1) Folge des Arbeitsunfalles vom 8. Juli 1988 ist.

Zunächst hat das LSG zu Recht die Prozeßführungsbefugnis des Klägers zu 2) bejaht. Denn gemäß § 91a BSHG kann der erstattungsberechtigte Träger der Sozialhilfe die Feststellung einer Sozialleistung betreiben sowie Rechtsmittel einlegen. Als Kostenträger für die Heimunterbringung der Klägerin zu 1) war der Kläger zu 2) erstattungsberechtigt. Damit war er berechtigt, die Feststellung des Sozialleistungsanspruchs aus der gesetzlichen Unfallversicherung für die Klägerin zu 1) als eigentliche Berechtigte zu betreiben. Aufgrund dieser gesetzlichen Prozeßstandschaft konnte er fremdes Recht in eigenem Namen geltend machen. Denn § 91a BSHG räumt dem Sozialhilfeträger ein eigenständiges Recht auf Feststellung ein (Schellhorn/Jirasek/Seipp, Kommentar zum BSHG, 14. Aufl, § 91a RdNrn 6 und 8; Mergler/Zink/Dahlinger/Zeitler, Kommentar zum BSHG, 4. Aufl, § 91a RdNr 6; Knopp/Fichtner, BSHG, 6. Aufl 1988 § 91a RdNr 2; siehe auch BVerwG Buchholz 310 § 43 Nr 113). Ob der Träger der Sozialhilfe von der Ermächtigung des § 91a BSHG Gebrauch macht, liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Er kann von seinem Recht aus § 91a BSHG aber nur Gebrauch machen, wenn und soweit ihm ein berechtigtes Interesse an der Feststellung zuzubilligen ist (Oestreicher/Schelter/Kunz, Kommentar zum BSHG, § 91a RdNr 9). Es kann hier dahingestellt bleiben, ob dieses berechtigte Interesse dann etwa zu verneinen ist, wenn der Sozialleistungsberechtigte bereits das Verfahren selbst betreibt; denn die Klägerin zu 1) hat keine Berufung eingelegt, so daß der Kläger zu 2) befugt war, an ihrer Stelle das Rechtsmittel einzulegen.

Das LSG hat auch zutreffend entschieden, daß der Verlust des linken Auges der Klägerin zu 1) Folge des Arbeitsunfalles ist, den sie am 8. Juli 1988 erlitten hat. Der Feststellungsanspruch richtet sich noch nach den Vorschriften der RVO, da der geltend gemachte Arbeitsunfall vor dem Inkrafttreten des SGB VII am 1. Januar 1997 eingetreten ist (Art 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz ≪UVEG≫, § 212 SGB VII).

Ein Arbeitsunfall ist nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540, 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO sind in der gesetzlichen Unfallversicherung die aufgrund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses Beschäftigten versichert. Versicherungsschutz aufgrund eines derartigen Beschäftigungsverhältnisses hat bei der Klägerin zu 1) aber im Unfallzeitpunkt nicht bestanden. Nach den Feststellungen des LSG wurde die Klägerin zu 1) als Schwerbehinderte in der Anstalt S. … betreut. Aufgrund ihrer geringen Leistungsfähigkeit war die Klägerin zu 1) zum 30. Juni 1978 formal aus der WfB der Anstalt entlassen worden. Sie wurde dort aber weiterhin beschäftigt bzw gefördert.

Nach § 1 Abs 1 des am 1. Juli 1975 in Kraft getretenen und bis zum 31. Dezember 1991 (Art 83 Nr 24, 85 Abs 1 des Rentenreformgesetzes 1992 ≪RRG 1992≫) gültig gewesenen SVBG vom 7. Mai 1975 (BGBl I 1061), das zum Zeitpunkt des Unfalls der Klägerin zu 1) anzuwenden war, waren körperlich, geistig oder seelisch Behinderte, die in einer WfB (§ 1 Abs 2 SVBG) beschäftigt waren, nach diesem Gesetz in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung versichert. Der Gesetzgeber hat für die Bereiche der Kranken- und Rentenversicherung ausdrücklich eine Beschäftigung und sogar deren Entgeltlichkeit fingiert. Denn nach § 3 Abs 1 Satz 2 SVBG standen die nach den §§ 1 und 2 SVBG Versicherten den aufgrund einer entgeltlichen Beschäftigung Versicherten gleich. Einer entsprechenden ausdrücklichen gesetzlichen Regelung für die Unfallversicherung bedurfte es nach Ansicht des Gesetzgebers nicht, weil „für die in geschützten Einrichtungen lernenden und beschäftigten Behinderten der Unfallversicherungsschutz bereits gegeben” sei (BT-Drucks 7/1992 S 12 zu Art 1 § 1 Buchst a). Der erkennende Senat hat daher die Fiktion eines Beschäftigungsverhältnisses auch für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung angenommen (BSGE 65, 138, 140). Denn wenn das Gesetz für die anderen beiden Bereiche der Sozialversicherung sogar eine entgeltliche Beschäftigung fingiere, müsse diese Fiktion erst recht für die Unfallversicherung gelten, bei der die Entgeltlichkeit keine Voraussetzung für den Versicherungsschutz ist (BSG SozR 2200 § 539 Nr 68). Aufgrund dieser Gesetzesfiktion kommt es auf das Vorliegen der Kriterien, die üblicherweise kennzeichnend für ein sozialversicherungsrechtliches relevantes Beschäftigungsverhältnis sind, so etwa die unselbständige Arbeitsleistung in einem Arbeitsverhältnis, die persönliche Abhängigkeit vom Arbeitgeber, dessen Direktionsrecht, die Weisungsgebundenheit oder die Eingliederung in den Betrieb des Arbeitgebers somit nicht an (BSGE 65, 138, 140).

Der Versicherungsschutz der Klägerin zu 1) gemäß § 539 Abs 1 Nr 1 RVO iVm § 1 SVBG scheitert aber – wie das LSG nicht verkannt hat – daran, daß es sich bei der WfB der Anstalt S. … nach den Feststellungen des LSG zwar um eine anerkannte WfB iS des § 1 Abs 2 SVBG handelte, die Klägerin zu 1) aber die Voraussetzung für eine Beschäftigung in der WfB gemäß § 54 Abs 3 SchwbG wegen ihrer geringen Leistungsfähigkeit nicht erfüllte. Deshalb wurde sie zum 30. Juni 1978 formal aus der WfB entlassen.

Zutreffend hat das LSG auch erkannt, daß der Unfall der Klägerin bei einer nach § 539 Abs 2 RVO iVm § 539 Abs 1 Nr 1 RVO und § 1 SVBG versicherten Tätigkeit eingetreten ist.

Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSG SozR 3-2200 § 539 Nr 16 mwN) ist Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 RVO gegeben, wenn es sich um eine dem in Betracht kommenden Unternehmen dienende Tätigkeit handelt, die dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entspricht und sonst ihrer Art nach von Personen verrichtet werden könnte, die in einem dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Beschäftigungsverhältnis stehen; sie muß ferner unter solchen Umständen geleistet werden, daß sie einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ähnlich ist. Bei einer Tätigkeit gemäß § 539 Abs 2 RVO braucht eine persönliche oder wirtschaftliche Abhängigkeit vom unterstützten Unternehmen nicht vorzuliegen; weiterhin sind die Beweggründe des Handelns für den Versicherungsschutz unerheblich. Dabei ist zu beachten, daß bei einer nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO zu beurteilenden Tätigkeit nicht alle Merkmale eines Beschäftigungsverhältnisses erfüllt zu sein brauchen (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 476a). Entscheidend ist vielmehr, ob nach dem Gesamtbild der Tätigkeit diese arbeitnehmerähnlich ausgeübt wurde. Es sind dementsprechend die gesamten Umstände des Einzelfalles und das sich daraus ergebende Gesamtbild für die Beurteilung des Versicherungsschutzes nach § 539 Abs 2 RVO in Betracht zu ziehen. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze war die Klägerin zu 1) im Unfallzeitpunkt wie eine nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO iVm § 1 SVBG Versicherte – nämlich wie eine in der WfB Beschäftigte – tätig geworden.

Bei der Prüfung, ob die zum Unfall führende Tätigkeit wie von einer Beschäftigten ausgeübt wurde, ist nicht auf eine dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnende Beschäftigung abzustellen, sondern auf das Beschäftigungsverhältnis iS von § 539 Abs 1 Nr 1 RVO iVm § 1 SVBG in einer nach § 57 SchwbG anerkannten WfB, das ebenfalls in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung einbezogen ist (BSGE 65, 138). Die dort beschäftigten Behinderten sind aufgrund der Gesetzesfiktion des § 3 Abs 1 Satz 2 SVBG den aufgrund einer entgeltlichen Beschäftigung Versicherten gleichgestellt. Dadurch sollte für den Personenkreis der Behinderten eine Gleichstellung mit unselbständig Beschäftigten gewährleistet werden. Die WfB sollte entsprechend dem Eingliederungsprinzip des SchwbG gerade Behinderten, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, einen Arbeitsplatz oder eine Gelegenheit zur Ausübung einer geeigneten Tätigkeit (§ 54 Abs 1 SchwbG) bieten. Nach den Feststellungen des LSG war die Klägerin zu 1) zwar formal aus der WfB der Anstalt S. … entlassen worden, hatte aber dort seit über zehn Jahren weiterhin zusammengenähte Stoffstreifen auseinandergeschnitten und Wollstränge zu Wollknäueln gewickelt, die dann in der Produktion der WfB weiterverwertet wurden. Es handelte sich dabei um eine Tätigkeit mit fremdwirtschaftlicher Zweckbestimmung, die auch dem Willen des Unternehmers, dh der WfB der Anstalt S., … entsprach. Die Handlungstendenz als subjektives Kriterium der arbeitnehmerähnlichen Tätigkeit dient der Abgrenzung zu nicht versicherten eigenwirtschaftlichen Tätigkeiten bzw zu Verrichtungen im Interesse des eigenen Unternehmens. Maßgeblicher Beurteilungsmaßstab und Beurteilungszeitpunkt für die Handlungstendenz ist die Sicht des objektiven Betrachters zur Zeit, als die betreffende Handlung vorgenommen wurde (Krasney in Schulin HS-UV § 14 RdNr 102). Dabei ist auf die von der Klägerin zu 1) seit ihrer formalen Entfernung aus der WfB mehr als zehn Jahre verrichtete Tätigkeit abzustellen. Inwieweit ihr Aufenthalt in der WfB im übrigen dadurch geprägt war und inwieweit sie insbesondere außerhalb des Arbeitsbereichs unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand, kann offenbleiben.

Soweit die Revision in ihrer Begründung rügt, das LSG habe die Handlungstendenz unter Berücksichtigung der Gesamtumstände überhaupt nicht geprüft bzw begründet, vielmehr ein fremdwirtschaftliches Wirken letztlich nur behauptet, verkennt sie, daß es nicht auf die Handlungstendenz der Anstalt S., … sondern der Klägerin zu 1) ankommt. Die Ausführungen der Revision dazu ergeben aber, daß sie hinsichtlich der Handlungstendenz auf das Verhalten der Anstalt S. … bezüglich des Einsatzes der Klägerin zu 1) abstellt.

Die Tätigkeit der Klägerin zu 1) erfolgte auch unter Umständen, wie sie einem Beschäftigungsverhältnis iS von § 1 SVBG ähnlich war. Denn die Klägerin zu 1) verrichtete täglich von 8.00 Uhr bis 12.00 Uhr und von 13.15 Uhr bis 16.30 Uhr ihre Tätigkeit in der WfB. Zutreffend weist das LSG auch darauf hin, daß der Umstand, daß die Tätigkeit nicht entlohnt, sondern lediglich ein sog Arbeitstaschengeld bzw eine Anwesenheitsprämie von 10,00 DM gezahlt wurde, dem Unfallversicherungsschutz nicht entgegenstand (BSG SozR 2200 § 539 Nr 68).

Von entscheidender Bedeutung für den Unfallversicherungsschutz ist jedoch der Umstand, daß die Klägerin zu 1) in der WfB der Anstalt S., … eine Tätigkeit ausübte, durch die sie in ihrer konkreten Situation im Vergleich zu den Behinderten, die ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbrachten, denselben Gefahren am Arbeitsplatz ausgesetzt war, wie diese Behinderten, die unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung standen (vgl BSGE 65, 138). Aufgrund der gefährdungsgleichen Lage (vgl Krasney in Schulin, aaO, RdNr 83) verdiente die Klägerin zu 1) den gleichen Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung wie die Behinderten, die wenigstens ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbrachten (§ 54 Abs 2 SchwbG).

Soweit die Beschäftigung der Klägerin zu 1) in der WfB zugleich ihrer Therapie diente, ist zu berücksichtigen, daß bei Behinderten sog arbeitsbegleitende Maßnahmen auch unter Unfallversicherungsschutz stehen (vgl BSG SozR Nr 15 zu § 537 RVO aF; BSGE 65, 138; BSG, Urteil vom 28. Februar 1990 – 2 RU 28/89 – HV-INFO 1990, S 933 bis 939; vgl auch Wolber, Gesetzliche Unfallversicherung für geistig behinderte Mitbürger, SV 1993 S 13 ff; Wolber, Verlängertes Dach der Werkstatt für Behinderte, ZfS 1990, S 265 ff).

Nach allem stand die Klägerin zu 1) zur Zeit des Unfalls vom 8. Juli 1988 unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Dieses Ergebnis wird im übrigen auch durch den mit Wirkung vom 1. Januar 1997 für Behinderte in § 2 Abs 1 Nr 4 SGB VII geschaffenen Unfallversicherungsschutz bestätigt. Ausreichend für einen Unfallversicherungsschutz der Behinderten ist danach eine Tätigkeit ua in einer WfB. Das Erzielen einer bestimmten Leistung oder die wirtschaftliche Verwertbarkeit der Tätigkeit ist dabei für den Unfallversicherungsschutz ohne Bedeutung (vgl Riebel in Hauck, Sozialgesetzbuch VII, § 2 RdNr 49; s auch Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 5. Aufl, § 2 SGB VII RdNrn 9.7 und 9.10).

Die Revision der Beklagten war nach alledem zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173547

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