Entscheidungsstichwort (Thema)

Verstoß gegen § 123 SGG – Verböserungsverbot – rügbarer Verfahrensmangel

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Verstoß gegen § 123 SGG ist – auch wenn er das hierin enthaltene Verböserungsverbot betrifft – ein mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügbarer Verfahrensmangel (Abgrenzung zu BSG vom 7.3.1958 – 8 RV 707/56 = SozR Nr 3 zu § 123 SGG und zu BSG vom 20.7.1973 – 8 RU 43/73 = SozR Nr 15 zu § 123 SGG).

Stand: 21. Mai 2001

 

Normenkette

SGG §§ 123, 160 Abs. 2 Nr. 3

 

Beteiligte

Bundesanstalt für Arbeit

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 08.06.2000; Aktenzeichen L 9 AL 172/99)

SG Dortmund (Entscheidung vom 20.08.1999; Aktenzeichen S 5 AL 180/97)

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. Juni 2000 zugelassen.

 

Gründe

Auf die Beschwerde war die Revision in vollem Umfang zuzulassen. Dem Landessozialgericht (LSG) ist – wie vom Kläger (Beschwerdeführer) in zulässiger Form geltend gemacht – ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) unterlaufen. Das Berufungsurteil beruht sowohl für den Zeitraum vom 18. Dezember 1996 bis 2. April 1997 als auch für den Zeitraum ab 3. April 1997 auf einer Verletzung des § 123 SGG iVm § 153 Abs 1 SGG. Hiernach entscheidet das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein.

Diese Vorschrift umfaßt zum einen das Verbot, die Verwaltungsentscheidung zum Nachteil des Klägers zu ändern (Verböserungsverbot). Hiergegen hat das LSG dadurch verstoßen, daß es die Berufung des Klägers, der sich erstinstanzlich vergeblich gegen die Entziehung seines Anspruchs auf Arbeitslosenhilfe mit Wirkung ab 3. April 1997 gewandt hatte, „mit der Maßgabe zurückgewiesen (hat), daß der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe bereits am 18. Dezember 1996 erloschen ist”. Gegen das zum anderen in § 123 SGG enthaltene Gebot, über alle vom Kläger geltend gemachte Ansprüche zu entscheiden, hat das LSG gleichfalls verstoßen: Es hat den vom Kläger im Gerichtsverfahren auch geltend gemachten Anspruch auf Rücknahme des bestandskräftigen Bescheides vom 27. Dezember 1990 nicht als Streitgegenstand angesehen, sondern den Kläger auf ein gesondertes Verfahren verwiesen.

Ein Verstoß gegen § 123 SGG ist – auch wenn er das Verböserungsverbot betrifft – ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Die entgegenstehende Meinung der Literatur (zB Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl 1998, § 123 RdNr 6; § 144 RdNr 34 iVm § 160 RdNr 21) beruft sich auf eine durch Rechtsänderung überholte Rechtsprechung. Der 8. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hatte in Urteilen vom 7. März 1958 und 20. Juli 1973 (SozR Nrn 3 und 15 zu 123 SGG; in der letztgenannten Entscheidung ua in Auseinandersetzung mit einem entgegenstehenden obiter dictum im Beschluß des 4. Senats des BSG vom 9. Januar 1969, SozR Nr 48 zu § 150 SGG) jeweils entschieden, die Rüge einer Nichtbeachtung des in § 123 SGG niedergelegten Grundsatzes „ne ultra petita” sei keine Rüge eines wesentlichen Mangels des Verfahrens iS des § 162 Abs 1 Nr 2 SGG (in der ursprünglichen Fassung des SGG vom 3. September 1953, BGBl I 1239; dem 8. Senat für § 150 Nr 2 SGG aF folgend: BSG vom 8. März 1966 – 10 RV 1071/64 –, SozEntsch BSG I/4 § 143 SGG Nr 27 aE). Denn hiermit werde ein Verstoß nicht gegen Verfahrensrecht (error in procedendo) gerügt, sondern ein Verstoß gegen das das Verfahren selbst nicht berührende materielle Prozeßrecht (error in iudicando). Der Senat kann offenlassen, ob er dieser Ansicht nach altem Recht gefolgt wäre (aA zB Krebs, ZfS 1963, 81, 82 unter Hinweis auf Bundesgerichtshof ≪BGH≫ vom 12. Mai 1958, BGHZ 27, 249, 252 f). Immerhin waren doch auch nach der früheren Rechtsprechung andere Verstöße gegen § 123 SGG durchaus als Verfahrensfehler im og Sinne verstanden worden (vgl BSG vom 26. August 1994 – 13 RJ 9/94, HVBG-Info 1995, 307 mwN zur älteren Rechtsprechung); überdies erscheint ein Auslegungsergebnis zweifelhaft, durch das einem Kläger – wie hier – jegliche Möglichkeit genommen wird, sich gegen eine Berufungsentscheidung zu wehren, die zu Unrecht sowie zu seinen Ungunsten den Streitgegenstand eines von ihm angestrengten Verfahrens ausweitet und ihm den Anspruch auf eine Leistung in einem bisher nicht streitbefangenen Zeitraum abspricht.

Jedenfalls nach dem hier maßgebenden § 160 Abs 2 Nr 3 SGG (in der seit 1. Januar 1975 geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des SGG vom 30. Juli 1974, BGBl I 1625) verbietet sich jedoch eine Unterscheidung zwischen dem mit der Nichtzulassungsbeschwerde als Verfahrensfehler nicht rügbaren Verstoß gegen das Verböserungsverbot einerseits und andererseits solchen – weiteren – Teilbedeutungen des § 123 SGG, die mit diesem Rechtsbehelf rügbar sind. Denn im Gegensatz zu den Parallelvorschriften anderer Prozeßordnungen enthält § 160 Abs 2 Nr 3 SGG eine enumerative Aufzählung jener Verfahrensverstöße, die im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nicht geltend gemacht werden können (s hierzu BT-Drucks 7/861 S 10). So schließt diese Vorschrift die Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (freie richterliche Beweiswürdigung) – eines (bloßen) „error in iudicando” (vgl BGH vom 12. Mai 1958, BGHZ 27, 249, 253 zur Parallelvorschrift des § 286 Zivilprozeßordnung) – ebenso ausdrücklich von der Geltendmachung als Verfahrensmangel zur Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde aus wie eine Verletzung des § 103 (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen; nur rügbar, wenn das LSG einem Beweisantrag nicht gefolgt ist) oder des § 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) SGG. Eine Ausweitung dieses Katalogs von Ausschlußtatbeständen verbietet sich angesichts der Verfahrensgrundsätze der Vorhersehbarkeit, der Berechenbarkeit und der Prozeßklarheit (s hierzu BSG vom 13. August 1986, SozR 1500 § 84 Nr 5 S 15). Hieran ändert nichts, daß die Neuregelung nach der Gesetzesbegründung (BT-Drucks 7/861 S 10) grundsätzlich eine Einschränkung der Verfahrensrevision beabsichtigt hatte.

Der Senat hat im vorliegenden Verfahren nicht darüber zu befinden, in welchen Zusammenhängen im Prozeßrecht die Unterscheidung zwischen einem „error in iudicando” und einem „error in procedendo” noch möglich und sinnvoll ist. Soweit mit diesen Begriffen lediglich der Unterschied zwischen einem Fehler im Verfahrens- und einem im materiellen Recht illustriert werden soll, so betrifft dies ein anderes Gegensatzpaar (zB im Beschluß vom 22. September 1999, B 13 RJ 71/99 B, in dem über die Rüge der Unterlassung einer Entscheidung in der Sache wegen Ablehnung einer erneuten Sachprüfung unter Berufung auf die Bindungswirkung eines früheren Ablehnungsbescheides zu entscheiden war, nicht jedoch über die einer Verletzung des § 123 SGG).

Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 160a Abs 4 Satz 3 SGG).

 

Fundstellen

Haufe-Index 585011

NZA 2001, 1240

SozR 3-1500 § 123, Nr. 1

www.judicialis.de 2001

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