Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassungsbeschwerde. rechtliches Gehör. persönliche Anhörung. Überraschungsentscheidung

 

Orientierungssatz

1. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichtet die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene bestimmte Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die, richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (vgl BSG vom 21.9.2006 - B 12 KR 24/06 B und BSG vom 5.3.2007 - B 4 RS 58/06 B).

2. Art 103 Abs 1 GG und § 62 SGG verlangen nicht, dass der Beteiligte selbst gehört wird (vgl BSG vom 14.11.2005 - B 13 RJ 245/05 B, BSG vom 17.10.2008 - B 13 R 341/08 B und BSG vom 17.1.1994 - 9 BV 118/93). Das Gericht ist daher nicht verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass jeder Beteiligte auch persönlich vor dem Gericht auftreten kann (vgl BSG vom 21.8.2008 - B 13 R 109/08 B). Vielmehr steht die Anordnung des persönlichen Erscheinen eines Beteiligten im Ermessen des Vorsitzenden des Berufungsgerichtes.

3. Die Anordnung des persönlichen Erscheinen mag geboten sein, um einem Beteiligten die Gelegenheit zum mündlichen Vortrag zu geben, wenn die Aufforderung zum schriftlichen Vortrag von vornherein keine erschöpfende Sachverhaltsaufklärung gewährleisten kann (vgl BSG vom 15.7.1992 - 9a RV 3/91).

 

Normenkette

SGG §§ 62, 111 Abs. 1 S. 1, § 153 Abs. 1, § 160 Abs. 2, § 160a Abs. 2 S. 3, § 169 S. 3; GG Art. 103 Abs. 1; SGG § 160a Abs. 4 S. 1 Hs. 2

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 03.09.2008; Aktenzeichen L 8 R 220/07)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 18.05.2007; Aktenzeichen S 53 (51) R 4/05)

 

Gründe

Mit Urteil vom 3.9.2008 hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) einen Anspruch des Klägers auf Gewährung von Regelaltersrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung unter Berücksichtigung der von ihm geltend gemachten Beschäftigung während seines Aufenthalts im Ghetto Korec von Juli 1941 bis November 1942 verneint.

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt. Er macht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend und rügt Verfahrensfehler.

Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung vom 10.3.2009 genügt den gesetzlichen Anforderungen nicht, weil keiner der in § 160 Abs 2 Nr 1 bis 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) abschließend aufgeführten Zulassungsgründe ordnungsgemäß dargetan worden ist (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG) .

Grundsätzlich bedeutsam iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufzeigen, welche Rechtsfragen sich stellen, dass diese Rechtsfragen noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung der Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine derartige Klärung erwarten lässt (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 7, 11, 13, 31, 39, 59, 65) .

Der Kläger wirft folgende Rechtsfragen auf:

"Folgt der Entgeltbegriff im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1b ZRBG der Entgeltregelung in § 14 Abs. 1 SGB IV, kommt es deshalb nicht auf den Umfang und die Höhe an oder verlangt § 1 ZRBG ein nach deutschem Versicherungsrecht die Versicherungspflicht begründendes Entgelt, insbesondere auch dann, wenn die Beschäftigung in einem vom Deutschen Reich besetzten Gebiet ausgeübt worden ist?

Ist bei der Bemessung des Entgelts auch in vom Deutschen Reich besetzten Gebieten § 14 Abs. 2 WGSVG zu berücksichtigen und sind verfolgungsbedingte Nachteile durch eine fiktive Anhebung des Arbeitsentgelts auszugleichen?

Schließen Leistungen, insbesondere Sachleistungen in Höhe eines Eigenbedarfs die Annahme des Austauschcharakters schlechthin aus oder bedarf es einer genaueren Prüfung anhand der Entlohnungsverhältnisse für gleichgelagerte Arbeiten im Ghetto auch von Nichtverfolgten in der Region?"

Damit wirft der Kläger zwar Rechtsfragen auf, die einer grundsätzlichen Klärung zugänglich sein können. Er zeigt aber nicht auf, dass das angestrebte Revisionsverfahren eine derartige Klärung erwarten lässt, die Fragen mithin klärungsfähig sind. Denn - wie er selbst ausführt (S 11 der Nichtzulassungsbeschwerdebegründung zu b) - hat das LSG seine Entscheidung nicht nur darauf gestützt, dass der Kläger während der streitigen Zeit kein Entgelt bezogen habe, sondern auch darauf, dass der Kläger die behaupteten Beschäftigungen nicht aus eigenem Willensentschluss eingegangen sei. Damit kommt es entscheidungserheblich auf die Klärung der aufgeworfenen Rechtsfragen nicht an: Würden die Fragen im Sinne des Klägers beantwortet, hätte die Entscheidung des LSG dennoch Bestand, weil das Eingehen von Beschäftigungsverhältnissen aus eigenem freien Willensentschluss verneint worden ist.

Soweit der Kläger rügt, er habe mit der Argumentation des LSG, ausgeübte Beschäftigungen nicht aufgrund eigenen Willensentschlusses aufgenommen zu haben, nicht rechnen müssen, sodass es sich um eine Überraschungsentscheidung handle, fehlt es an entsprechenden Darlegungen. Vielmehr führt der Kläger aus, das LSG verweise hierzu auf den Fragebogen für die Anerkennung von Zeiten unter Berücksichtigung der Vorschriften des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG), in dem er am 14.12.2004 erklärt habe, der Arbeitseinsatz sei durch Vermittlung des Judenrats zustande gekommen und er habe keinen Einfluss auf die Aufnahme der Arbeit und die Wahl der Arbeitsstelle/des Betriebs gehabt. Danach sei ihm kein Freiraum geblieben, sich zwischen wenigstens zwei Verhaltensmöglichkeiten zu entscheiden. Es habe also nicht einmal ein eigener Willensentschluss in dem Sinne vorgelegen, als dass die Arbeit vor dem Hintergrund der wirklichen Lebenslage in einem solchen Ghetto jedenfalls auch noch auf einer, wenn auch auf das Elementarste reduzierten, Wahl zwischen wenigstens zwei Verhaltensmöglichkeiten beruht habe (Hinweis auf BSG vom 14.12.2006 - B 4 R 29/06 R) . Damit gibt der Kläger an, das LSG habe in seiner Würdigung seine eigenen Angaben zugrunde gelegt, die er im Verwaltungsverfahren gemacht habe. Abgesehen davon, dass es keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz gibt, der das Gericht verpflichtete, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene bestimmte Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (BSG vom 21.9.2006 - B 12 KR 24/06 B - und vom 5.3.2007 - B 4 RS 58/06 B - Juris) , wäre die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs nur dargetan, wenn aufgezeigt würde, dass das Gericht seiner Pflicht, Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen einzubeziehen, nicht nachgekommen ist.

Daneben hat der Kläger nicht vorgetragen, seinerseits alles Erforderliche dafür getan zu haben, sich rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl BSGE 68, 205, 210 = SozR 3-2200 § 667 Nr 1; Senatsbeschluss vom 20.1.1998 - B 13 RJ 207/97 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 22 S 35; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 58) , etwa im Rahmen der Erörterung des Sach- und Streitverhältnisses während der mündlichen Verhandlung vor dem LSG (§ 112 Abs 2 Satz 2 iVm § 153 Abs 1 SGG) .

Soweit der Kläger eine "weitere Überraschungsentscheidung … bezüglich der Entgeltfrage" rügt, trägt er selbst vor, dass sich das LSG auf glaubhaft gemachte Angaben von ihm (sowie vernommene Zeugen, Angaben in einem Sachverständigengutachten und auf eindeutige historische Fälle) gestützt habe. Das dies überraschend geschehen ist, hat der Kläger nicht dargelegt. Im Kern rügt er vielmehr, dass das LSG in der Sache unrichtig entschieden habe. Der Vorwurf falscher Rechtsanwendung eröffnet die Revision indes nicht. Denn die Voraussetzungen für deren Zulassung sind nicht schon deshalb gegeben, weil das LSG - vermeintlich - in der Sache falsch entschieden hat (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7) .

Soweit der Kläger schließlich vorträgt, die Grundsätze des rechtlichen Gehörs und des fairen Verfahrens seien dadurch verletzt worden, dass das LSG seine persönliche Anhörung verweigert habe, kann er mit dieser Rüge schon deshalb nicht durchdringen, weil nicht dargetan ist, dass er selbst alles getan hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen. Seine entgegenstehende Auffassung, dass hiernach "nicht zu fragen" sei, findet in Gesetz und Rechtsprechung keine Stütze.

Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes und § 62 SGG verlangen nicht, dass der Beteiligte selbst gehört wird (Senatsbeschlüsse vom 14.11.2005 - B 13 RJ 245/05 B - Juris RdNr 8 und vom 17.10.2008 - B 13 R 341/08 B; BSG vom 17.1.1994 - 9 BV 118/93, Juris RdNr 2) . Das Gericht ist daher nicht verpflichtet, dafür Sorge zu tragen (etwa durch Anordnung des persönlichen Erscheinens unter Übernahme der Fahrkosten), dass jeder Beteiligte auch persönlich vor dem Gericht auftreten kann (Senatsbeschluss vom 21.8.2008 - B 13 R 109/08 B; Littmann in Lüdtke, Handkomm zum SGG, 3. Aufl 2009, § 62 RdNr 7) . Dies gilt insbesondere dann, wenn er im Verfahren - wie vorliegend - durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten ist, durch den er sich - ua in der mündlichen Verhandlung - Gehör verschaffen kann (vgl Senatsbeschlüsse vom 21.8.2008 und 14.11.2005 aaO; BSG vom 17.1.1994 aaO) . Vielmehr steht die Anordnung des persönlichen Erscheinens eines Beteiligten im Ermessen des Vorsitzenden des Berufungsgerichts (§ 153 Abs 1, § 111 Abs 1 Satz 1 SGG) . Hierauf besteht kein Anspruch des Beteiligten (Roller in Lüdtke, Handkomm zum SGG, aaO, § 111 RdNr 3; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-Komm, 9. Aufl 2008, § 111 RdNr 2b) . Es kann dahinstehen, ob und inwieweit dem Beschwerdegericht eine Überprüfung der dem Vorsitzenden eingeräumten Ermessensentscheidung zusteht. Der Kläger hat jedenfalls keine ausreichenden Gründe dargetan, denen entnommen werden könnte, dass durch die Nichtanordnung des persönlichen Erscheinens der dem Vorsitzenden zustehende Ermessensspielraum überschritten worden sei. Die Hinweise auf sein schweres Verfolgungsschicksal als Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, den "entschädigungsrechtlichen Hintergrund des ZRBG", sein hohes Alter und seinen Wohnsitz im Ausland reichen nicht aus, um eine Ermessensreduzierung auf Null und einen Anspruch des Klägers auf persönliche Anhörung zu bejahen. Zwar mag die Anordnung des persönlichen Erscheinens geboten sein, um einem Beteiligten Gelegenheit zum mündlichen Vortrag zu geben, wenn die Aufforderung zum schriftlichen Vortrag von vornherein keine erschöpfende Sachverhaltsaufklärung gewährleisten kann (vgl BSG vom 15.7.1992 - 9a RV 3/91, Juris RdNr 11) . Solche besonderen Umstände hat der Kläger jedoch nicht dargetan. Er hat nicht aufgezeigt, warum es ihm nicht möglich gewesen sei, durch schriftliche Erklärungen bzw Erläuterungen zur Sachverhaltsaufklärung beizutragen. Auch hat der Kläger nicht schlüssig dargetan, warum nur bei einer persönlichen Anhörung und nicht etwa auch bei einer erläuternden schriftlichen Darstellung der Arbeitsbedingungen im Ghetto eine "freiwillig zustande gekommene Beschäftigung gegen Entgelt" hätte glaubhaft gemacht werden können.

Vorbringen des Klägers im Schriftsatz vom 25.3.2009 konnte der Senat bereits deshalb nicht berücksichtigen, weil es erst nach Ablauf der bis zum 10.3.2009 verlängerten Beschwerdebegründungsfrist eingegangen ist.

Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 SGG iVm § 169 Satz 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2180180

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